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INGOs NÖHRgeleien 2024

von Ingo Nöhr

Die Welt ist aus den Fugen geraten

Ingo Nöhr zum 1. November 2024

Oleks, der Ex-Nachbar von Jupp, hatte sich bekanntermaßen vor zwei Jahren mit seiner Lebensgefährtin Doris in Jupps Garten eingenistet, um dort Zuflucht als Impfverweigerer zu finden. Aus Dankbarkeit hat er dort mit dem Bau eines Atombunkers begonnen, der allerdings angesichts des Ausbleibens von Angriffen mit Nuklearraketen jetzt als Partykeller und komfortable Wohnung dient.

Dieser Olek also schlägt nun erneut Alarm: die Dooms-Day-Clock steht danach auf 90 Sekunden vor der Auslöschung der Menschheit. Gleich drei Nuklearmächte liebäugeln angeblich mit einem Einsatz ihren Atomwaffen: Russland, Iran und Israel. Der Atombunker soll angesichts der aktuellen Nachrichten unbedingt fertiggestellt werden. Ein wichtiger Grund, dass sich Ingo und Jupp aus ihrer selbstverordneten Medienisolation lösen und mal wieder die aktuellen Nachrichten studieren. Das zu erwartende Ergebnis beim Stammtischgespräch bleibt nicht aus: Fassungslosigkeit.

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Guten Morgen, Ingo. Solange wir uns noch einen guten Morgen wünschen können. Wo sind wir hineingeraten? Haben wir einen Zeitsprung erlebt? Wir hatten uns doch gerade mal zwei Jahre vom politischen Geschehen ausgekoppelt? Erleben wir gerade eine neue Pandemie mit einem Virus, der die Gehirne befällt?

  • Hallo lieber Jupp, ich kann deine Aufregung gut verstehen. Auch ich habe die disruptive Veränderung im Weltgeschehen verpasst. Vermutlich, weil wir auf einer Insel der Seligen leben. Wir haben keine Naturkatastrophen erlebt, haben die Zeitungen abbestellt und in der Mediathek nur noch Dokumentationen angeschaut und gute Bücher gelesen. Ansonsten waren wir mit der Natur in unseren Gärten im Reinen und unsere sozialen Kontakte bezogen sich nur auf liebenswerte Menschen.

Wir sind ja auch nicht krank geworden, sonst hätten wir die Misere im Gesundheitswesen schnell am eigenen Leibe verspürt. Lange Wartezeiten bei den Ärzten, Engpässe bei bestimmten Medikamenten (und sogar Kochsalzlösungen!) in den Apotheken, drohender Kahlschlag in der Krankenhaus-Landschaft. Anscheinend ist unser Minister Karl Lauterbach auch vom Hirnvirus infiziert: er stürzt gerade Hunderte von Kliniken in Existenzängste.  

  • Aber, mal langsam, lieber Jupp. Wir wissen doch schon seit vielen, vielen Jahren, dass wir uns mit heute 1700 Krankenhäusern immer noch die höchste Dichte an Betten und damit auch die teuerste Krankenversorgung in Europa leisten. Ich erinnere mich, dass schon vor langer Zeit von der Anzahl von 500 Kliniken gesprochen wurde, die geschlossen werden sollten, vor allem auch im Ruhrgebiet. Ein hoher Prozentsatz der Behandlungen ist unnötig und dient nur für die Vermeidung der roten Zahlen. Also da setzt ein Gesundheitsminister endlich mal eine notwendige Reform durch. Ob sie in dieser radikalen Form durchgeführt werden sollte, darüber darf man natürlich streiten.

Und der Betreuungsnotstand für uns im Alter? Jetzt reisen Annalena Baerbock und Arbeitsminister Heil nach Brasilien, um Pflegepersonal für Deutschland anzulocken. Die Bundesagentur für Arbeit hat im Jahr jedoch 2022 gerade einmal 656 Pflegekräfte aus dem Ausland nach Deutschland vermittelt. Bei einem akuten Bedarf von 180.000 Pflegekräften müssen die Beiden noch die nächsten zweihundert Jahre auf Werbetourneen gehen.

  • Jupp, warum denn erst nach Brasilien reisen? Unsere Automobilindustrie könnte doch mit Umschulungen einspringen: der Volkswagen-Konzern will mindestens drei Werke schließen, zehntausenden Mitarbeiter kündigen und allen Gehaltskürzungen auferlegen. Die meisten Fabrikarbeiter sind den Umgang mit Robotern gewohnt und die kämen doch locker auch mit den Pflegerobotern aller Art klar. Dumm nur, dass VW das Jahr 2023 mit einer Rendite von 2,3% abgeschlossen und im Juni 4,5 Milliarden Euro Dividende an die Aktionäre ausgeschüttet hat. Da fällt der Hilferuf nach Staatshilfe etwas unglaubwürdig aus.

Ingo, der Fisch stinkt vom Kopf. Das wichtigste Symptom für den Virusbefall gab es doch letzte Woche zu sehen. Erinnerst du dich noch an die dynamische Viererbande Ende 2021: vor Erfolg und Harmonie strotzend präsentierten Scholz, Lindner, Habeck und Baerbock die frischgegründete Ampelkoalition und ein Raunen ging durch die Nation. Mit mehr „Fortschritt wagen“ und „Führung zeigen“ sollte eine neue Politik eingeläutet werden. Jetzt ist nur noch ein desolater, völlig zerstrittener Haufen zu sehen, ohne Ideen und Strategien, aber mit zwei konkurrierenden Wirtschaftsgipfeln gleichzeitig, die bewusst nicht untereinander koordiniert wurden.

  • Der Hirnvirus scheint sich schon weltweit verbreitet und dabei bewährte Aggressionsschranken der menschlichen Zivilisation gefressen zu haben. Putin bombardiert Ukraine mit seiner gesamten Kriegswirtschaft und ruiniert langfristig seine Ökonomie. Erdogan fliegt gerade Angriffe in den Irak und Syrien. Nordkoreas Diktator schickt über 10.000 unerfahrene Soldaten in den fast sicheren Tod an die russische Front. Netanjahu greift den Libanon und Iran an, nachdem er schon den Gaza-Streifen in eine Trümmerwüste verwandelt hat. Die UN steht fassungslos vor den Trümmern des Völkerrechts und keiner hört mehr auf sie. Ihre Hilfsorganisation für Palästina UNRWA hat sogar gerade Hausverbot in Israel erhalten. Damit sind auch alle Zugänge in den Gazastreifen blockiert und die Millionen Flüchtlinge ihrem Schicksal überlassen.

Also Ingo, der Zustand der gegenwärtigen Welt übersteigt schon jetzt mein Fassungsvermögen, aber in einer Woche könnte die Menschheit vor einer noch schlimmeren Prüfung stehen. Als alter Risikomanager kann ich mir den Schlimmsten Fall nur noch als Horrorszenario vorstellen.

  • Du meinst die Wahlen in den USA, wenn Trump gewinnen sollte. Er hat ja vorher schon erklärt: wenn er nicht ausreichend Stimmen für den Sieg erhalten sollte, haben die Demokraten ihn erneut um die Wählerstimmen betrogen. Und seine Chancen stehen 50:50, dass er gewinnt.

Kannst du dir in deiner Fantasie überhaupt ausmalen, was dieser Psycho in kürzester Zeit in unserer Welt anrichten könnte?

  • Nun ja, er hat es doch schon detailliert aufgelistet: alle seine verurteilten Freunde in den Gefängnissen werden sofort amnestiert, er ist natürlich einbezogen. Das neu besetzte Justizministerium hat als wichtigste Aufgabe die Verfolgung seiner Gegner, vor allem auch in der freien Presse. Jeff Bezos als Zeitungsverleger hat ja augenblicklich vor Angst die Hosen voll. Nach einem kurzen Telefonat mit seinem Freund Putin wird er umgehend den Ukraine-Krieg beenden. Naturschutzgebiete werden für die Ölförderung freigegeben, europäische Hersteller mit Schutzzöllen überzogen. Und zwischendurch will er wieder bei jeder Gelegenheit ausspannen und Golf spielen.

Die US-Amerikaner sind ja bis an die Zähne bewaffnet. Da werden politische Diskussionen und persönliche Unstimmigkeiten schnell mal nach alter Wild-West-Manier mit einem Schusswechsel geklärt. Und alle Nichtamerikaner will er des Landes verwiesen. Hoppla, seine Frau Melania ist ja ursprünglich auch aus Slowenien eingereist.  MAGA – Make America Great Again – aber nur mit den echten Amerikanern. Und schon wieder hoppla: Eigentlich sind fast alle US-Amerikaner ja auch als frühere Migranten eingewandert. Die „echten“ Amerikaner leben in den Indianer-Reservaten.

  • Ich denke mal weiter, Jupp. Die Weltwirtschaft ist ein komplex-dynamisches System und reagiert unvorhersehbar auf Eingriffe. Mit seiner MAGA-Philosophie könnte Trump in den nächsten Jahren Schiffbruch erleiden, angesichts des letzten Treffens der BRICS-Staaten im russischen Kasan. Ursprünglich waren es bei der Gründung nur fünf Staaten: Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika. In Kasan haben letzte Woche bereits 22 Staats- und Regierungschefs aus 36 Ländern teilgenommen, allein 30 warten auf eine Aufnahme in das Bündnis. Gemeinsames Ziel: die Abhängigkeit von der westlichen Wirtschaftswelt zu beseitigen durch ein eigenes Zahlungssystem ohne SWIFT und US-Dollar sowie einen massiven Widerstand gegen die weitere Ausplünderung ihrer Bodenschätze. Die jetzigen BRICSplus Mitglieder repräsentieren bereits 45% der Weltbevölkerung und 30% der globalen Ölproduktion.

Ingo, ich erinnere mich gerade daran, dass in der jüngeren Geschichte Deutschlands nicht nur einmal eine einzige Person mit seiner Entscheidung ein ganzes Reich ruinieren konnte. Kaiser Wilhelm II löste mit seiner trump‘schen Großspurigkeit 1914 nach dem Attentat von Sarajevo den Ersten Weltkrieg aus. Das führte vier Jahre später zum Ende der Monarchie und seinem Exil in den Niederlanden.

  • Jupp, ich glaube, wir sollten unsere Krisenszenarien jetzt beenden und uns wieder in unsere privaten Paradiese zurückziehen. Am 6. November schauen wir mal kurz in die Nachrichten und überlegen, was diese verrückte Welt denn in unserem privaten Leben verändern könnte. Im schlimmsten Fall möchte ich bei einem Atomkrieg nicht in deinem Bunker hocken und elendig in einer verstrahlten Wüste um mein Leben kämpfen, sondern lieber in einem Sekundenbruchteil eines Lichtblitzes alle meine Atome ins Weltall beamen.

Du hast Ingo recht, wir können die aus den Fugen geratene Welt nicht ändern, geschweige denn verstehen und sollten daher keine weitere Minute unserer Lebenszeit mit solchem Blödsinn verschwenden. Wenden wir uns wieder den angenehmen Menschen zu und genießen vor allem die Natur, die eine selbstmörderische Menschheit locker überleben wird. Lass uns nach alter Tradition das bewährte Naturheilmittel anwenden – Herr Wirt, bitte zwei Bier. Aber bitte möglichst noch vor dem Weltuntergang servieren!

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„Die Welt ist aus den Fugen geraten“ - Rede von Außenminister Frank-Walter Steinmeier beim Deutschen Evangelischen Kirchentag, Stuttgart am 07.06.2015

Vor genau 32 Jahren stand Willy Brandt auf dem Podium des Kirchentages und fragte, ob die Regierungen selbst der mächtigsten Staaten überhaupt etwas ausrichten könnten gegen den großen Unfrieden dieser Welt. Und schon damals fiel ihm die Antwort nicht einfach! …

Heute, 32 Jahre nach Willy Brandts Rede, ist diese Welt keineswegs friedlicher geworden. So lange ich denken kann, kann ich mich an keine Zeit erinnern, in der internationale Krisen in so großer Zahl an so vielen Orten gleichzeitig auf uns eingestürmt wären wie heute. …

Deshalb war ich in der vergangenen Woche unterwegs: von Kiew aus zu Notunterkünften für Vertriebene in Dnjepropetrowsk in der Ostukraine; über Jerusalem, Ramallah in den Gaza-Streifen, wo über den Ruinen des letzten Krieges neue Eskalation droht. …

Was kann man da schon machen? Macht das alles Sinn: reden, verhandeln – ohne Garantie für Erfolg?

Willy Brandt gab damals hier auf dem Kirchentag eine wunderbare Antwort auf diesen Zweifel. Er sagte: „Weitab entfernt von jeder Götzenanbetung, was [unsere] Macht [und Einflussmöglichkeiten] betrifft, ist mir doch kein Weg ersichtlich, anders unseren hilfreichen Beitrag zu leisten, als durch die Bereitschaft, Verantwortung zu tragen. So verlockend das Gegenteil für den Frieden mancher Seele ist – es führt zu keinem vernünftigen Ende.“

Was heißt das? Ganz schlicht: Verantwortung für den Frieden zu übernehmen ist immer anstrengend, meistens riskant, oft von Zweifeln begleitet, selten mit den einfachen, den schwarz-weißen Antworten zu haben, und niemals von schnellen Erfolgen gekrönt.

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Als letzte Institution auf der Welt wird vermutlich das diplomatische Protokoll verschwinden. Seine Vertreter werden sich vermutlich bemühen, auch noch den Weltuntergang in würdiger Form zu regeln.
(Roger Peyrefitte, französischer Schriftsteller und Diplomat)

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Die letzte Stimme, die man hört, bevor die Welt explodiert,
wird die Stimme eines Experten sein, der sagt: 'Das ist technisch unmöglich!'
(Peter Ustinov)

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von Ingo Nöhr

Frauen an die Macht

Ingo Nöhr zum 1. Oktober 2024

Angesichts der Schlagzeilen der letzten Monate könnten unbeteiligte Beobachter eines fremden Planeten den Eindruck bekommen, dass auf der Erde eine Endzeithysterie bevorsteht. Der Rückfall in uralte Stammesriten von Rachegelüsten, Ausbrüche von eskalierenden Kriegen, ein panisch lügender Expräsident, der Verfall von Moral und Anstandsregeln, begleitet von zunehmend dramatischen Auswirkungen der Klimakatastrophe. Ein überwiegender Anteil der Weltbevölkerung tritt in diesem Geschehen fast nur als Opfer in Erscheinung: Frauen und Kinder – eigentlich die Zukunft der Gesellschaft. Die meist männlichen Verlierer drängen nun an die Macht.  Hat Ingo diese Entwicklung nicht schon vor exakt sieben Jahren vorausgesehen?

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Mein lieber Ingo, meinst du nicht auch, dass wir uns auf das neue Zeitalter der Frauenmacht hinbewegen? Neulich las ich auf einer Männertoilette diesen Spruch: „Auch Gott lernte dazu: Man merkt dies an den Verbesserungen bei der Erschaffung der Frau gegenüber des Mannes.“ Stammt wohl von Zsa Zsa Gabor und war mit zarter Frauenhand geschrieben! Auf der Männertoilette!! Verstehst du? Sie kreisen uns ein!

  • Na ja, Jupp, ich habe gegen Frauen eigentlich nichts einzuwenden. Ich halte sie im Sozialleben generell für intelligenter. Ich kenne nämlich auch ein Zitat von der Gabor: „Wenn ein Mann zurückweicht, weicht er zurück. Eine Frau weicht nur zurück, um besser Anlauf nehmen zu können.“ Und wenn ich mir die gegenwärtige Politik im Weltgeschehen anschaue, muss ich zähneknirschend feststellen, dass es nur die Männer sind, die ihre steinzeitlichen Aggressionen in mörderischen Kriegen ausleben. Insofern kann ich bei diesem Thema schon eine moralische Verbesserung bei den Frauen erkennen. Sie wollen ja letztendlich auch nicht ihre eigenen Kinder in die Schlacht schicken.

Dein Gabor-Zitat passt ja gut zum aktuellen Wahlkampf in den USA: Kamala Harris gegen Donald Trump. Mit ihr ist sein schlimmster Alptraum Realität geworden. Jetzt geht ihm langsam das Vokabular an Schmähungen aus: Migranten bezeichnete er als „Tiere“, die den US-Bürgern die niedlichen Haustiere wegfressen und Kamala Harris als „geistig behindert“, sogar schon seit Geburt. Dumm nur, dass sich daraufhin Popstar Taylor Swift mit 284 Millionen Followern hinter Kamala stellt. Gemeinsame Frauenpower.

  • Jupp, wir haben noch eine Frau, die eine noch größere Schar an Leuten repräsentiert, wenn auch nicht immer als Fangruppe: „Flinten-Uschi“. Ursula von der Leyen als Präsidentin der 27 EU-Kommissare und Chefin von 32.000 EU-Beamten besitzt einen exekutiven und teilweise legislativen Einfluss über 450 Millionen EU-Bürger in 27 Staaten. Im Europäischen Rat trifft sie auf nur drei Geschlechtsgenossinnen: die Regierungschefinnen von Italien, Dänemark und Lettland.

Aber das kann sich ja ändern, wenn in einem Jahr, genau am 28. September 2025, ein neuer Bundestag gewählt wird und plötzlich unsere Alice Weidel als erfolgreiche Kanzlerkandidatin auftaucht.

  • Vermutlich hat bereits Angela Merkel diesen Trigger von Frauenpower gesetzt. Wie würde unser Stammtisch wohl mit einer Frauenbesetzung aussehen? Hanne Wieder hat mal gesagt: „Dass die Frauen das letzte Wort haben, beruht hauptsächlich darauf, dass den Männern nichts mehr einfällt.“

Ein Erfolgsrezept. Vielleicht flüchtet sich unsere „Flinten-Uschi“ als erste Generalsekretärin ins NATO-Hauptquartier. Da hat sie dann 3,5 Millionen Soldaten aus 32 Staaten unter sich. Möglicherweise wurde aber schon vorher die störrische Marie-Agnes Strack-Zimmermann auf diesen Stuhl hingelobt.

  • Nun ja, Jupp, nicht gerade eine pazifistische Idealbesetzung. Aber lass uns doch noch mal das gruselige Szenario ausmalen. Was machen wir mit unserer Anna-Lena Baerbock? Das Außenministerium wird sich doch sofort Sahra Wagenknecht schnappen. Da Anna-Lena wegen ihrer störenden Feminismus-Mission kaum UNO-Präsidentin werden könnte, hätte man vielleicht Verwendung als Uno- oder Unicef-Botschafterin? Da käme ihr die große Reiseerfahrung zugute.

Lass uns das Grauen noch weiter ausbreiten, Ingo. Björn Höcke könnte als Innenminister alle Migranten auf einer einsamen Insel aussetzen und dort die Reichsbürger mit dem proklamierten König von Deutschland als Regierung einsetzen. Damit hätte er gleich mehrere Störfälle gelöst.

  • Ohh, da bekommt aber der Verbandschef der Unikliniken Deutschlands, Jens Scholz, sofort heftige Zahnschmerzen. Allein in seinem Universitätsklinikum Schleswig-Holstein arbeiten mehr als tausend Menschen aus 120 Nationen. Auch in der Forschung leben wir vom wissenschaftlichen Austausch mit anderen Nationen, ohne dem geht es nicht.

Nach der letzten Zählung von 2023 leben bei uns 14 Millionen nichtdeutsche Bürger. Da käme nur Grönland als bald abgetaute Insel in Betracht. Allerdings würden bei diesem Schwund in unserem Land alle Dienstleistungen flächendeckend zusammenbrechen. Gibt es noch jemanden mit einem gesunden Menschenverstand in dieser Debatte?

  • Jupp, schon. Es gilt also: Siegen lernen heißt von den Frauen lernen. Nimm nur mal den raketenartigen Aufschwung des Bündnisses Sahra Wagenknecht – BSW. Bekannt durch unzählige Talkshows, wo sie sich immer wacker geschlagen hat. Kennst du irgendwelche andere Vertreter des BSW, die für eine strategische Ausrichtung stehen?

Nun ja, Ingo, wann war denn überhaupt ausreichend Zeit für eine Strategieentwicklung? Im Mai dieses Jahres fand eine Bundestagsdebatte zur Krankenhausreform nach den Plänen von Karl Lauterbach statt. Unsere wackere Sahra warf ihm vor: dass sein „Generalangriff auf die Versorgung von Patienten in Deutschland die Zerstörung des öffentlichen Gesundheitswesens und ein massiver Angriff auf die soziale und demokratische Republik“ sei. Sie will mit einem Sofortprogramm das System retten und möglicherweise taucht in einem der drei Länder in Kürze ein BSW-Gesundheitsminister auf, der uns dann sein Patentrezept verrät. Zumindest soll die Privatisierung gestoppt werden, das findet auch die AFD in ihrem Parteiprogramm.

  • Ja, da wird Lauterbacher-Karl wohl schlechte Karten bei der Regierungsbildung haben. Vielleicht kann man ihn in das neu gegründete Bundesinstitut für Prävention und Aufklärung in der Medizin, kurz: BIPAM, abschieben. Er bekäme eine neue Herausforderung: die Lebenserwartung ist in Deutschland niedriger als in fast allen anderen Ländern in Westeuropa. Wir haben die zweitniedrigste Lebenserwartung in Westeuropa bei Frauen und die niedrigste bei Männern. Das ist doch mal eine Aufgabe, die ihn wieder fordern wird. Viel anrichten kann er dabei nicht: er bekommt nur 14,5 Millionen Euro pro Jahr, soviel kostet gerade mal ein halber Leopard-Panzer. Was erwartet uns denn von den künftigen AFD-Gesundheitsministern?

Nicht viel Aufregendes. Zur Europa-Wahl haben sie in ihrem Programm auch eine Seite zur Gesundheitspolitik verkündet: keinen Einfluss mehr von der EU und der WHO, keine Impfpflicht und alle Corona-Impfungen stoppen, keinen Versandhandel von rezeptpflichtigen Arzneimitteln, kein Recht mehr auf Geschlechtsangleichung oder -umwandlung, Ersatz der DSGVO durch einen „bürgerfreundlichen Datenschutz“. Den Beruf des Heilpraktikers bewahren, alles medizinische Personal soll gut Deutsch sprechen und nach deutschem Standard qualifiziert sein. Und in der Medizintechnik wollen sie die MDR abspecken und Bestandschutz für alle alten Geräte gewähren.

  • Du hast Recht, nicht umwerfend. Jupp, da gibt es bessere Aufreger: in letzter Konsequenz Austritt aus der EU, Abschaffung des Euro, Einführung der Wehrpflicht, Aufrüstung der Bundeswehr, mehr Kinder und die Rettung des traditionellen Familienbildes. Aber wie du weißt, bin ich kein Pessimist. Unsere Gesellschaft ist ein komplex-dynamisches System, welches auf jede Änderung überraschend reagieren kann. Nimm mal dieses Erfolgsmodell mit den Bündnissen als Parteiersatz. Der Name bekommt plötzlich Priorität und Aufmerksamkeit. Wir hätten künftig keine Union oder Partei mehr in der Regierung, sondern nur noch Alternativen und Bündnisse mit Galionsfiguren, die man gerne zu den Talkshows einlädt.

Du meinst also, Ingo, so ein Bündnis Robert Habeck, sprich BRH, erhielte mehr Stimmen als die Grüne Partei?  Und Friedrich Merz würde seine getreuen Gefolgsleute in seinem eigenen Bündnis BFM versammeln? Vielleicht könnte man dadurch auch den aufgeblähten Bundestag drastisch verkleinern!

  • Ja, jetzt müssen wir nur noch mehr Frauen in unseren politischen Gebilden unterbringen. Und zu guter Letzt taufen wir unseren Staat in Bündnis-Republik Deutschland um, dann können wir sogar die Abkürzung BRD beibehalten.

Geniale Idee, Ingo. Das ist nun ein bündnisförderndes Symbol wert. Herr Wirt, bitte mal zwei Bier für unser neues Bündnis, dem BIJ.

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Für die Diktatur ist Klugheit,
für die Demokratie Dummheit
die größte Gefahr.

Thomas Berger (1952), deutscher Theologe und Schriftsteller


Die Verlierer an der Macht

Die CDU hat eine komplette Million Wähler an die AfD verloren, 510 Tausend SPD-ler und 420 Tausend der Linken wechselten zur AfD. Sogar zehn Prozent der Jungwähler machten ihr Kreuz auf dem AfD-Feld.
 Die Unzufriedenen haben nun eine Partei gefunden, die den „Herrschenden da oben“ heftig weh tut. Endlich kann man ihnen eine schallende Ohrfeige verpassen. Die bräsige Ruhe der Großen Koalition ist jetzt mit einem Schlag vorbei.
Das herkömmliche Parteiensystem mit seinen alten, oft vielfach in Interessenkonflikten verstrickten Herren ist an seine Grenzen angelangt. Diese lebten in den Tag hinein und planten munter den Fortgang der bisherigen Geschichte.

(Auszug Ingo Nöhr zum 1. Oktober 2017, nach der Bundestagswahl)

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von Ingo Nöhr

Fummelt nicht an komplexen Systemen!

Ingo Nöhr zum September 2024

Nach dem letzten Stammtischgespräch über die gesteigerte Blasenbildung in unserer Gesellschaft nähern sich die beiden Klinikstrategen den Auswirkungen von unausgegorenen Entscheidungen. Das Fazit vom letzten Monat könnte lauten: Öffnet vorher die Türen Eurer Echoräume für alle betroffenen Personen und versucht ihre abweichenden Meinungen zu verstehen. Nehmt Eure Kritiker immer ernst.

Aber in der Realität zeigt sich leider oft, dass damit nicht alle Probleme zu lösen sind. Unser beschränkter Horizont umfasst zwar das Wissen über das verfügbare Wissen, und bei selbstkritischer Reflektion auch über unsere Wissenslücken. Aber was ist mit unserer fehlenden Erkenntnis über alles, was wir noch nicht Wissen, aber wissen sollten?

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Hallo Ingo, hast du schon gehört? Unsere Stadtverwaltung will uns unsere Brötchentaste wegnehmen. Die Stadt hat 14 Millionen Miese, muss sparen und an allem wird jetzt der Rotstift angesetzt.

  • Morgen, Jupp. Dass viele Kommunen schon pleite sind, hat sich ja wohl schon herumgesprochen. Erklär mir mal bitte, was ist eine „Brötchentaste“. Ich habe keine zu Hause und habe sie bisher auch nicht vermisst. Kostet sie denn so viel Geld?

Nein, eigentlich spart sie Geld. Dem Bürger, wenn er schnell seine Brötchen kaufen will. Da unsere Stadt mit Parkuhren zugepflastert ist, würde er für die wenigen Minuten kein volles Ticket kaufen wollen. Und da haben sich unsere Stadtoberen, natürlich erst auf massivem Druck unserer Geschäftswelt, eine sinnvolle Ergänzung an Parkautomaten ausgedacht. Statt zu bezahlen, drückt man eine grüne Taste und darf für maximal 30 Minuten kostenlos parken. Eben um mal schnell um die Ecke kleine Einkäufe zu erledigen.

  • Das ist doch eine Super-Idee. Damit könnte man vielleicht das Ladensterben in den Innenstädten aufhalten. Ich plädiere dafür, die Parkgebühren ganz abzuschaffen. Dann müsste man nicht mehr so viel bei Amazon und Zalando bestellen oder zu den Supermärkten auf dem Land fahren.

Nun, es gibt schon 361 Parkplätze mit dieser Brötchentaste und die wurden letztes Jahr 385.727mal gedrückt.

  • Ich sage doch: ein Erfolgskonzept. Mehr davon.

Ja, aber ein Erbsenzähler im Rathaus hat folgende Rechnung aufgemacht: Durch das kostenlose Parken sind denen rund 150.000 Euro an Einnahmen entgangen, wenn man die erste halbe Stunde mit 50 Cent berechnen würde.

  • 150.000 Euros bei 14 Millionen Schulden fallen ja unter die Portokosten oder? Und dafür will man die autofahrenden Einkäufer vergrätzen?

Ja richtig, er soll ja weiterhin seine Brötchen und sonstigen Kleinkram in der Innenstadt kaufen. Aber diesmal in 15 Minuten statt 30. Das bringt dann wenigstens 75.000 Euro in den leeren Stadtsäckel.

  • Und es dient der körperlichen Ertüchtigung. Ich sehe schon in unserer vergreisenden City die Rollatoren im Rudel zum Bäcker sprinten, wo sich dann die Kunden um die wertvolle Zeitersparnis balgen. Und wie war die Reaktion im Rat? Sind da keine Senioren drin?

Ein Ratsherr, der immer in größeren Dimensionen denkt, stellte die Frage, ob es sich überhaupt lohne, über solches „Kleinvieh“ zu debattieren. „Doch, wir müssen darüber reden“, antwortete SPD-Vertreter, „Haushalts-Konsolidierung ist schwierig. Es ist heute nicht der große Wurf, aber reden müssen wir darüber.“ Ins selbe Horn stieß eine Dame von den Grünen: „Wir sollten darüber diskutieren und abstimmen, auch wenn die Summen noch so klein sind, auch wenn wir nicht an den großen Stellschrauben drehen können.“ Aber die Spielverderber von der CDU waren dagegen: „Unsere Innenstadt wird immer unattraktiver. Die Brötchentaste ist Wirtschaftsförderung für die Innenstadt. Wir bleiben dabei.“

  • Das Schlagwort „an der Stellschraube drehen“ in der Politik hat schon seit Generationen Unheil angestiftet. Man findet ein Problem, sucht nach einer Stellschraube und schon löst sich das Ärgernis auf elegante Weise. Deswegen hat heute Australien eine Invasion von 200 Millionen Kaninchen, müssen in China nach Pestizideinsatz die Obstbäume mühsam mit Leitern und Pinseln von Hand bestäubt werden, – und Minister Habeck fiel mit seinem Heizungsgesetz mächtig auf die Nase.

Ingo, du solltest nicht auf die Grünen schimpfen, schließlich kämpfen sie mit ihrem erneuerbaren Energiekonzept erfolgreich gegen den Klimawandel. Windkraft war im Jahr 2023 mit einem Anteil von 31 % wichtigster Energieträger für die Stromerzeugung in Deutschland.

  • Ja, der Ausbau der Windenergie ist schon beeindruckend. Aber was zahlen wir für einen Preis dafür? Für den Bau eines Windradflügels werden im Amazonasgebiet 40 Balsaholzbäume geschlagen. Die Bundesregierung will bis 2032 zwei Prozent der deutschen Landfläche für die Windenergie freigeben, auch in den Landschaftsschutzgebieten und Wäldern. Es wird ein Boom bei den Windparkbetreibern erwartet, da fette Gewinne locken.

Das ist doch super, Ingo. Nach der Altmaier-Delle von 2018/2019, als kaum noch Windräder aufgestellt wurden, geht es jetzt wieder stramm aufwärts. Und wo siehst du die Nachteile?

  • Jupp, pass auf: „Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie die Natur.“ Dieser Spruch sollte bei allen politischen Entscheidungen beherzigt werden – am besten im Bundestag und Kanzleramt in die Wand eingemeißelt. Warum? Die Natur lässt sich nicht streicheln. Mein alter Kollege Wolfgang hat mir kürzlich ein Video über die aktuelle Situation geschickt. Es zeigt breite Schneisen in den Wäldern, um dort die Windräder aufstellen zu können. Auf der Bodenfläche der Kahlschläge werden 47,6°C gemessen, während im Unterholz 30°C herrschen. Die heiße Luft nimmt viel Wasser auf und verstärkt dadurch die Trockenheit im Wald. Die Schneisenränder bieten zudem eine gefährliche Angriffsfläche bei Stürmen. Nach der Waldzustandserhebung von 2023 ist nur noch jeder fünfte Baum gesund. Wir sparen zwar schön CO2 ein, aber jeder gesunde Baum würde 18 Liter Sauerstoff pro Stunde produzieren und zehn bis zwanzig Kilogramm CO2 pro Jahr binden. Die Natur ist ein Superbeispiel für komplex-dynamische Systeme.

Mir fällt gerade ein passender Spruch zum Bundestag ein: die meisten Menschen in Großstädten kommen mit der Natur nur noch in Kontakt, wenn sie in einen Hundehaufen treten.

  • Albert Einstein hat mal gesagt: „Die Natur hat es sich nicht angelegen sein lassen, uns die Auffindung ihrer Gesetze bequem zu machen.“ Vielleicht sollten wir alle Parlamentssitzungen in die freie Natur verlegen. Und die Kabinettssitzungen sollten grundsätzlich im Wald stattfinden, um die Blasenbildung zu mindern. Auf jeden Fall ohne irgendwelche Lobbyisten.

Ingo, ich erinnere mich gerade an unser Gespräch im Mai 2021 über das komplex-dynamische Covid-19 Virus. Das ist ja gerade ganz aktuell, da es um die Aufarbeitung geht, die augenscheinlich jeder Politiker fürchtet. Ich fragte dich damals, ob die Corona-Pandemie sich auch in einem solchen komplexen System abgespielt hat. Und du hast laut unserer Aufzeichnung geantwortet: „Klar Jupp, die Ministerpräsidenten haben in ihrer Echokammer nur einen begrenzten Einblick in das Geschehen gehabt. Sie hätten wegen der Komplexität viel öfter zusätzliche Fachleute aus den medizinischen Disziplinen, Psychologen, Pädagogen, Soziologen, Mathematiker und neutrale Wirtschaftsexperten einbeziehen müssen und vor allem auf unbequeme Kritiker hören sollen. Die Dynamik, die durch neue Erkenntnisse der Virologie und Epidemiologie, aber auch durch permanente Mutationen des Virus gestaltet wird, kann mit den langen Entscheidungswegen, den Kommunikationsdefiziten und der extrem langsam reagierenden Bürokratie nicht aufgefangen werden.“

  • Jupp, ich glaube das große Missverständnis bei unseren Entscheidungsträgern liegt oft im Unverständnis, komplizierte Sachverhalte von komplexen zu unterscheiden. Komplizierte Probleme basieren auf Ursache-Wirkungs-Ketten, sie sind vorhersagbar und kontrollierbar. Komplexe Zustände dagegen sind lebendig, nicht kontrollierbar und vorhersagbar, denn die dynamische Interaktion zwischen den vernetzten Elementen sorgt für Diskontinuitäten. Das politische Weltbild orientierte sich bei den Corona-Maßnahmen an dem Ideal eines homogenen Staatsbürgertums, welches aus Angst alle Einschränkungen schadlos mitmachen würde. Dabei wurde in das komplexe Gesellschaftssystem mit groben Werkzeugen eingegriffen und blind an einigen „Stellschrauben“. Wir werden noch viele Jahre an den Schadwirkungen sowie den Vertrauensverlust in den angeblich so fürsorglichen Staat leiden.

Ingo, ich möchte nach unserem tiefsinnigen Gespräch heute wieder auf eine lineare Ursache-Wirkungs-Kette zu sprechen kommen. Wenn ich laut rufe, „Herr Wirt, bitte zwei Bier“ läuft ein nicht-komplexer Prozess ab und hinterlässt bei uns Drei eine Win-Win-Situation.

  • Recht gesprochen, lieber Jupp. Aber betrachtet man den Weg aller Bestandteile haben wir es doch mit einem komplizierten Prozess mit einigen komplexen Komponenten sprich Menschen zu tun. Also Prost.

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Die bedeutenden Probleme im Leben können nicht auf dieselbe Art und Weise gelöst werden wie sie entstanden sind. (Albert Einstein)

Warum macht uns High-Tech nicht glücklich? Weil technischer Fortschritt immer komplexere Systeme hervorbringt, die uns immer mehr Wachsamkeit und Vorausschau abverlangen. Die Folge sind paradoxe „Rache-Effekte“: Technik, die frustriert, unsere Nerven strapaziert. Denn je komplexer die Technik, desto unabsehbarer ihre Langzeitwirkungen und desto größer die ständige Wachsamkeit, die sie uns abverlangt. „Menschliches Versagen“ ist damit programmiert.
(Edward Tenner, zitiert aus seinem Buch „Die Tücken der Technik“, erschienen 1996).

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von Ingo Nöhr

Die Logik des Misslingens

Ingo Nöhr zum 1. August 2024

Der Sommer 2024 ist nicht nur aus klimatischen Gründen sehr unruhig. Die ungeschwärzten RKI-Protokolle haben in Berlin kürzlich Tausende von Querdenkern auf die Straße gebracht. AFD und Rechtsradikale wittern Aufwind nach den Europa-Wahlen. Die Kriegsgefahr steigt gerade rapide an, insbesondere in Nahost und der Ukraine. Deutschland hat bei der Fußball-EM mit den Begleitumständen bei der Versorgung seiner Gäste ein irritierendes Bild zu seiner Leistungsfähigkeit abgegeben. Bei der Eröffnung der Olympiade in Paris konstatieren die Teilnehmer und Zuschauer in Asien und Afrika verärgert die Dominanz der LGBTQ-Kultur. Das Ringen der amerikanischen Republikaner und Demokraten um die künftige Macht im Weißen Haus wird durch das Auftauchen von Kamala Harris wieder weltweit spannend. Und global hat sich die drohende Klimakatastrophe von den immer lauter vorgebrachten Besserungsbeteuerungen der Regierenden bislang nicht besonders beeinflussen lassen.

Kurzum – die Welt rotiert anscheinend einen Zacken schneller und die beiden Krankenhaus-Rentner forschen bei ihrem Stammtischgespräch nach den tieferen Zusammenhängen.

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Guten Morgen, Jupp. Schau mal hier, ich habe dir etwas mitgebracht. Das Deutsche Ärzteblatt schreibt auf dem Titelblatt über die Krankenhausreform: „Welche Häuser müssen schließen?“

  • Interessant, Ingo, aber ich darf darauf hinweisen, dass wir unseren Arbeitsplatz und damit die Verantwortung und den damit verbundenen Ärger schon viele Jahre hinter uns gelassen haben. Was ist denn daran besonders?

Ich zitiere mal, Jupp: „Es ist ein bemerkenswertes Paradoxon: Einerseits betonen Gesundheitspolitiker seit Jahren, in Deutschland gebe es zu viele Krankenhäuser und Krankenhausbetten. Andererseits geben sich Landespolitiker äußerst zurückhaltend, wenn es darum geht, über die Krankenhausplanung einzelne Häuser zu schließen.“

  • Ach Ingo, da kommt doch jetzt unser Lauterbach mit seiner Krankenhausreform im KHG. Dafür wird er bereits heftig von allen Seiten verprügelt. Nur die Ampel steht noch hinter ihm.

Die Ampel? Jupp, hier steht: „Ein Ziel der Krankenhausreform von Union und SPD ist der Abbau von Überkapazitäten. Experten aus Praxis und Lehre erklären, welche Auswirkungen sie sich von den geplanten Neuregelungen erwarten, welche Krankenhäuser wirtschaftlich überleben werden – und welche nicht.“

  • Moment mal, Ingo: Union und SPD ziehen an einem Strang? Das kann doch nicht sein. Zeig mal das Heft her! … Mann, Ingo! Das ist ja die Ausgabe 24 vom 12. Juni 2015!! Das ist ja eine uralte Meldung! Wieviel Krankenhaus-Reformen haben wir denn seitdem wieder durchgezogen?

Insgesamt dürften sich die Regierungen seit Ende der 1970er Jahre an über zwei Dutzend Reformen versucht haben. Eine unendliche Geschichte. 1988 wählte die Gesellschaft für deutsche Sprache das Wort „Gesundheitsreform“ zum Wort des Jahres, 1996 war es einer der Kandidaten für das Unwort des Jahres.

  • Also Ingo, irgendetwas läuft in unserem politischen System grundlegend falsch. Und nicht nur hier. Erinnere dich an das dilettantische Heizungsgesetz der Ampelkoalition. Oder die riesigen Geldverschwendungen: Stuttgart 21, Berlin-Flughafen, Maskendeals und Impfstoffeinkäufe. Warum schafft unsere Politik bei diesem unglaublich kostspieligen Einsatz von Tausenden von Beratern keine nachhaltigen Lösungen?

Jupp, ich glaube, da spielen gleich mehrere Denk- und Entscheidungsfehler eine Rolle, die seit Jahrzehnten bekannt sind. Zunächst einmal unterliegen viele inkompetente Entscheider und vor allem auch selbsternannte Experten der kognitiven Dissonanz. 1999 beschrieben die Sozialpsychologen Dunning und Kruger folgenden Effekt: weniger kompetente Personen neigen dazu, ihre eigenen Fähigkeiten zu überschätzen, überlegene Fähigkeiten bei anderen nicht zu erkennen. Dabei können sie das Ausmaß ihrer Inkompetenz selbst nicht richtig einschätzen. Diese Leute bevölkern nun als Berater die Umgebung von Entscheidern, welche die Folgen durch das verwendete Fachchinesisch kaum übersehen können.

  • Paul Watzlawik hat es mal treffend formuliert: „Wer als Werkzeug nur einen Hammer hat, sieht in jedem Problem einen Nagel.“ Unsere Fachärzte sind dafür ein exzellentes Beispiel. Ich erinnere mich an den Ministerpräsidentenrat, den Angela Merkel während der Pandemie einberufen hat. Diese Gruppe hat an Parlament und Fachgremien vorbei Maßnahmen beschlossen, die heutzutage nur noch Kopfschütteln auslösen. Es gab aber doch als interdisziplinäres Beraterteam den RKI-Krisenstab, der sich bemühte, wissenschaftlich fundierte Grundlagen für Beschlüsse zu erarbeiten.

Jetzt, wo die RKI-Protokolle komplett und ungeschwärzt vorliegen, ist ersichtlich, dass die angeblich so unabhängigen RKI-Experten immer wieder unter politischen Druck geraten sind, um unangenehme Beschlüsse der Ministerrunde zu begründen. Allerdings waren die RKI-Leute mit ihren abweichenden Meinungen nicht immer auf der Regierungslinie.

  • Stichwort: „Pandemie der Ungeimpften“ – von RKI als Schlagwort abgelehnt, aber von Jens Spahn und Konsorten mit Inbrunst bei allen Gelegenheiten verkündet. Da wurde die wissenschaftliche Meinung einfach ignoriert. Man nennt das wohl Confirmation Bias: man akzeptiert nur die Informationen, welche die bereits bestehende Ansicht bestätigt, und klammert alles andere aus.

Da stimme ich dir zu, Jupp. Dieser Effekt hat noch weiterreichende Auswirkungen: er führt zur Bildung von Blasen. Nimm nur mal die ganzen Verschwörungstheoretiker, die so absurde Vorstellungen von der Realität haben. Religiöse Sekten, Reichsbürger, die US-amerikanischen Republikaner – überall findest du abgeschlossene Gruppen, die in Social Media und Webseiten ihre gefilterten Informationen austauschen und den Zusammenhalt durch das Gruppenerlebnis vertiefen.

  • Glaubst du, Ingo, dass dieser Effekt auch bei dem vermurksten Heizungsgesetz eine Rolle gespielt hat?

Ja, Jupp, nicht nur hier. In vielen Entscheidungsgremien fehlt es an einer entscheidenden Besetzung und Kommunikation. Walt Disney hat dies nach einem unerwarteten Flop des ersten gezeichneten Films selbst erfahren. Daraufhin hat er ein Werkzeug mit drei Personen entwickelt: für ein Projekt startet der „Träumer“ mit seiner Vision, ohne sich Gedanken um die praktische Umsetzung zu machen. Der „Realist“ sucht nun als erfahrener Macher nach pragmatischen Handlungsmöglichkeiten und Ressourcen. Sein Konzept wird anschließend dem „Kritiker“ vorgelegt, der als „Advocatus Diaboli“ gnadenlos alle Schwachstellen der Idee und Umsetzung herauskristallisiert. Sein Bericht geht nun wieder zum Träumer, der seine Visionen entsprechend anpassen muss. Und mit dieser Modifikation geht es erneut in die Runde.  

  • Aha, ich verstehe Ingo. Die Grünen sind die Visionäre, denen mangels Politikerfahrung die geeigneten Macher fehlen. Ihre unbedachten Beschlüsse werden ihnen dann öffentlichkeitswirksam von den Kritikern um die Ohren gehauen. Hätten sie die einfach mal von Anfang an einbezogen, wäre ihnen die Blamage erspart geblieben.

Leider hat dieser Kommunikationsfehler noch eine weitere Konsequenz: den Negativity Bias. Negative Ereignisse und Erfahrungen bleiben immer stärker in Erinnerung als positive. Die Erfolge der Ampelkoalition verblassen dadurch und keiner redet mehr darüber. Und es gibt weitere Beispiele: Die Long-Covid-Fälle und Impfnebenwirkungen stehen zahlenmäßig in keinem Verhältnis zu den millionenfachen Schutzwirkungen der Impfungen, gewinnen aber in den Medien zunehmend an Bedeutung. So ist es auch Joe Biden passiert: die gute Bilanz seiner Regierungszeit wird durch seine mediale Hinfälligkeit und Ausfälle überstrahlt. Nun profitiert Kamala Harris vom Halo Effect: Die Sehnsucht nach der jüngeren Hoffnungsträgerin verdeckt ihre früheren Schwächen als Vizepräsidentin.

  • Ja, und der liebe Donald Trump wurde plötzlich vom Schwarzen Schwan überrascht und muss nun um seine Wiederwahl kämpfen. So passiert es eben, wenn man die gegenwärtige Situation einfach in die Zukunft fortschreibt und keinen Plan B hat.

Nun, Jupp, Trumps-Gegner ist die freie Presse in den USA, welche den Andersmeinenden große Reichweiten verschafft. Dagegen hat Putin durch die Gleichschaltung aller Medien seine Position als Diktator beim Wählervolk abgesichert. Seine Propagandamaschine hat durch die permanente Wiederholung bei den meisten Russen ein schiefes Weltbild aufgebaut, welches kaum durch alternative Meldungen erschüttert werden kann.

  • Ingo, jetzt kommt mir aber doch ein ketzerischer Gedanke. Sind wir in Deutschland und Europa etwa ebenfalls einer unbemerkten Propaganda ausgesetzt? Ich erinnere mich an die Folge 3 der Anstalt im ZDF von 2014, als Claus von Wagner und Max Uthoff anhand ihrer Recherchen die vielfältigen Verbindungen von Journalisten und Politiker zu NATO-Lobby-Organisationen und transatlantischen Bündnissen darstellten. Wie können wir denn sicher sein, dass wir nicht auch einer umfassenden Meinungsmanipulation unterliegen? Hocken wir vielleicht auch in einer amerikanischen Blase und werden nur gefiltert gefüttert?

Nun, mein lieber Jupp, ich denke mal, wir in Deutschland können diese Filterblase noch so lange verlassen, wie wir Zugang zu alternativen Informationen haben, etwa zu unabhängigen Journalisten im Internet oder den „Nestbeschmutzern“ der ZDF-Anstalt. Sehr hilfreich ist es auch, mal auf die Menschen zu hören, die uns ohne Scheuklappen besuchen und beobachten. Ich denke da an die ausländischen Besucher zur Fußball-EM oder zur Olympiade in Paris. Hast du dir schon mal angehört, was unsere europäischen Nachbarn über die so perfekten Deutschen gelernt haben. Oder was die afrikanischen und asiatischen Besucher zur westlichen, sprich abendländischen Kultur sagen? Da entwickelt sich gerade ein ganz neues Selbstverständnis gegenüber „dem dekadenten Westen“ – Stichwort: Globaler Süden. Wir werden nicht mehr so ernst genommen. Unsere Reputation schwindet zusehens, aber wir ignorieren diese Tatsache weitgehend.

  • Kann ich nachvollziehen, Ingo. Schließlich verantwortet der Westen mit seinem Ausstoß an Treibhausgasen bereits die Klimakrisen in über 40 Ländern. Bei diesen betrüblichen Aussichten lass uns jetzt zum Trost zu einem weltweit renommierten Produkt greifen: dem deutschen Bier. Prost auf die Zukunft, die hoffentlich nicht so linear verläuft, wie wir es befürchten müssten.

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Gut und Böse, Kapitalismus und Kommunismus, West und Ost – unsere moderne Welt scheint stets in zwei Lager geteilt zu sein. Die westliche Erzählung der Welt gehört längst der Vergangenheit an. Staaten des Globalen Südens treten mit zunehmendem Selbstbewusstsein auf, stellten individuelle Forderungen an die globale Politik und werden zu immer bedeutenderen Bündnispartnern im Kampf gegen die Herausforderungen der heutigen Zeit, – für den Westen bedeutet das einen Epochenbruch, ein seit Jahren fortschreitender Prozess von einer unipolaren hin zu einer komplexeren multipolaren Welt.

(Johannes Plagemann und Henrik Maihack, Zitate aus ihrem Buch
„Wir sind nicht alle – Der Globale Süden und die Ignoranz des Westens“)

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In komplexen, vernetzten und dynamischen Handlungssituationen macht unser Gehirn Fehler: Wir beschäftigen uns mit dem ärgerlichen Knoten und sehen nicht das Netz. Wir berücksichtigen nicht, dass man in einem System nicht eine Größe allein modifizieren kann, ohne damit gleichzeitig alle anderen zu beeinflussen.

Dietrich Dörner, Zitat aus seinem Buch „Die Logik des Misslingens – Strategisches Denken in komplexen Situationen“

 

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von Ingo Nöhr

Vertrauensverluste

Ingo Nöhr zum Juli 2024

Zweckoptimist Ingo Nöhr findet beim Hausbesuch seinen Freund Jupp in einer tiefdepressiven Phase vor. Der Grund liegt auf der Hand: Das EM-Team von Deutschland hat in den letzten Minuten der Verlängerung gegen Spanien 2:1 verloren und muss nun nach Hause fahren. Und Jupp musste sich mit seinen Kumpels das ganze Drama auf seinem riesigen Fernseher anschauen, lautstark begleitet vom frenetischen Freudentaumel der Spanier in seiner 8-Kanal-Dolby-Surround HiFi-Anlage.

Hallo, Jupp, nimm es nicht so ernst. Das Leben geht doch weiter. Wie ich allerorten höre, haben sich unsere deutschen Jungs nicht blamiert, sondern bis zur letzten Sekunde gekämpft und einfach nur Pech gehabt.

  • Ach Ingo, das ist ja nicht alles. Viel schlimmer sind die ganzen Kollateral-Schäden. Deutschland hat sich in den letzten Wochen auf allen Gebieten vor der gesamten Welt blamiert. Wie konnten wir nur auf die Idee kommen, in diesen Jahren die Welt als Gast einzuladen?

Du meinst, mit unserer maroden Infrastruktur bei der Bahn und auf den Autobahnen, Jupp?

  • Die Sozialen Medien sind voll mit Horrorgeschichten über unsere Städte, den Unterkünften, den Bahnsteigen und überfüllten Zügen, und – stell dir mal vor: Geschäfte, die nur Bargeld annehmen wollten! Dazu der kaputte Rasen im Frankfurter EM-Stadion. Dann regnet es auch noch im Dortmunder Westfalenstadion durch das Dach und bescheren einigen Fans eine perfekte Wasserfall-Dusche.

Ja, Jupp. Die Bilder gingen um die Welt. Die Menschen lehnten sich amüsiert lächelnd, aber doch beruhigt zurück: Die Deutschen sind endlich nicht mehr die unerträglichen Musterknaben der Welt, die uns immer erzählen wollen, wie man es richtig macht.

  • Ingo, das ist doch eine Katastrophe. Wir waren mal die Perfektionisten, wir wurden wegen unserer deutschen Gründlichkeit immer bewundert.

Ich halte diese Erfahrung für pädagogisch wertvoll. Wir haben uns immer unser Land schöngeredet und auf die anderen herabgeschaut. Unsere Politiker galten als Besserwisser. Vor allem als Urlauber sind wir häufig negativ aufgefallen. Jetzt heißt es lakonisch in unserem Zeugnis: „Der deutsche Michel hat sich bemüht“, also auf gut deutsch: durchgefallen.

  • Und das findest du gut, Ingo? Wo findest du denn wieder einmal das Körnchen Gute in diesem Haufen Schlechten? Unsere Ampelkoalition vermurkst am laufenden Band ihre wohlgemeinten Projekte.

Es ist ja nicht nur die deutsche Ampelkoalition, die ihren Startbonus verspielt hat. Woher kommen denn wohl die Rekordzahlen für die AfD- Wähler? Schau dich doch mal in Europa um:  in Italien, Frankreich und Großbritannien droht den etablierten Regierungsparteien die Ablösung durch einen massiven Rechtsruck. Ursula von der Leyen benötigt für die Wiederwahl als Präsidentin der EU-Kommission die Stimmen der Rechtsnationalen. Von Israel wage ich gar nicht zu reden.

  • Friedrich Merz hatte in einer Gesprächsrunde eine einfache Erklärung für die Abkehr von den ehemaligen Volksparteien. Er meinte in Richtung der Ostdeutschen: „Man muss im Osten mehr erklären als im Westen, aber ich tue es gern …“ Das könnte wohl heißen: die Ossis sind zu blöd zu verstehen, was die Ampel alles Gutes für sie gemacht hat.“

Jupp, das alte Problem, was Bertold Brecht schon so treffend formuliert hat: „Das Volk hat das Vertrauen der Regierung verscherzt. Wäre es da nicht doch einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes?“ Jetzt vertritt der ungarische Quertreiber Victor Orban auch noch für sechs Monate den Vorsitz des EU-Rates und reist sofort zum EU-Intimfeind Putin. Sein Motto hat er gleich bei Donald Trump geklaut: „Make Europe Great Again“.

  • Tja, die USA. Ingo, das wird unser neues Sorgenkind. Das oberste US-Gericht, der Supreme Court entschied gerade, dass der amerikanische Präsident für sämtliche offiziellen Akte absolute Immunität genieße. Eine »Lizenz zum Gangstertum«, wie ein CNN-Kommentator es nannte. Sollte Trump gegen den senilen Biden im November die Wahl gewinnen, wird er wohl einen gigantischen Rachefeldzug starten. Hat dieses Urteil Donald Trump „die Schlüssel zu einer Diktatur überreicht?“

Zumindest werden sich Europa und der Rest der Welt auf drastische Entscheidungen gefasst machen. Das Vertrauen in die USA als Freund und Weltpolizist ist massiv geschwunden. Als Konsequenz formiert sich der Globale Süden als Gegenpol zum „arroganten“ Westen mit den BRICS-Staaten Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika und neuerdings auch Ägypten, Iran, Äthiopien und den Vereinigten Emiraten. Deren Regierungen gelten nicht gerade als „lupenreine Demokratien“, aber sie repräsentieren nun 45% der Weltbevölkerung.

  • Ingo, das sagst du noch immer ohne Panik in der Stimme? Die Weltuntergangsuhr steht seit dem Jahre 2020 auf 100 Sekunden vor Mitternacht, dem Beginn des Atomkrieges. Heutzutage müsste sie angesichts der zunehmenden Kriege dringend neu eingestellt werden. Letztes Jahr wurden unfassbare 1,8 Billionen US-Dollar für Rüstungsgüter ausgegeben. Mit diesem Geld hätte man die weltweite Armut komplett auslöschen können. Stattdessen beschleunigt man sehenden Auges die Klimakatastrophen und löst immer größere Völkerwanderungen aus, unsere gegenwärtige Migrations- und Asylpolitik wird immer mehr Symbolcharakter besitzen. Die Schäden werden sich bis 2050 auf 1,7 bis 3,1 Billionen Dollar aufsummieren. Wir hausen wie die Steinzeitmenschen in einem Porzellanladen. Kein Wunder, dass die Letzte Generation und Klimakleber kein Vertrauen mehr in die Zukunft haben. Die Hoffnung auf die Heilsrolle der christlichen Kirchen schrumpft mit der Zahl der Gläubigen Richtung Nullpunkt. Die Berufsaussichten von Schulabgängern werden durch unsere stupide Bildungspolitik immer schlechter, die KI wird zunehmend Arbeitsplätze wegrationalisieren.

Mein lieber Jupp, nebenbei bemerkt: die KI wird momentan wieder dümmer, weil sie zunehmend mit ihren eigenen Halluzinationen trainiert wird. Ich verstehe dich vollkommen angesichts dieser katastrophalen Nachrichten. Du solltest vielleicht wieder weniger ins Internet, Fernsehen und in die Zeitungen schauen. Sie verzerren doch die reale Welt. Die Verschwörungstheoretiker, Untergangspropheten und die Reichsdeutschen blühen auf. Natürlich geht vieles den Bach runter, zumal wir durch den Wahnsinn des permanenten Wirtschaftswachstums längst die Ressourcengrenzen erreicht oder überschritten haben.

  • Ingo, der Vertrauensverlust ist durchgreifend. Wer beschreibt denn die reale Welt? Die Medien, die Politiker? Wir spüren, dass wir von politischer Seite nicht mehr wahrheitsgemäß und objektiv informiert werden. Wer hat denn nun die Nordstream-Pipeline gesprengt? Wie geht es mit der Energiewende weiter? Wandert wirklich unsere Industrie ins Ausland ab? Wie stark haben sich Mafia-Clans in unserer Gesellschaft ausgebreitet? Können wir unseren Banken und den öffentlich-rechtlichen Medien noch vertrauen? Unsere Bildungsministerin wollte unseren Wissenschaftlern bei Meckerei das Geld kürzen.

Die reale Welt wird sicherlich nicht von Politikern beschrieben, dazu sind sie viel zu stark ihren Interessenkonflikten durch Machtstreben, Abhängigkeiten, Lobbyeinflüssen und auch Korruption ausgesetzt. Mächtige Monopole und Oligopole in den Medien filtern die Informationen und schaffen Meinungsblasen, in denen sich Gleichgesinnte als soziale Gruppen versammeln. Aber eines konnte die unablässige Informationsflut nicht verhindern: unser Unbehagen angesichts der gefühlten Situation. Es wird darüber immer noch offen berichtet und diskutiert. Die Wähler und bisherigen Nichtwähler reagieren auf diese Widersprüche. Eine noch weitgehend unorganisierte Opposition bildet sich und wird nicht nur politisch in der Gestalt der neuen Parteien AfD und BSW für die Herrschenden bedrohlich. Sie repräsentiert die wachsende Menge der Gefolgschaftsverweigerer.

  • Ja Ingo, ich muss zugeben, ich sehe tatsächlich die ersten Anzeichen, dass sich die Wahrheit nicht lange verdrängen lässt. Seit Jahren drückt sich unser Staat vor einer Aufarbeitung der Maßnahmen während der Corona-Pandemie. Kein Wunder: im März 2020 sollte die deutsche Bevölkerung laut einem Strategiepapier des Innenministeriums, dem sogenannten „Panik-Papier“ gezielt in Angst und Schrecken versetzt werden, um die drastischen Maßnahmen umsetzen zu können. Die Offenlegung der RKI-Protokolle und das neue Insider-Buch „Alles überstanden?“ von Georg Mascolo mit dem Drosten-Interview verraten uns, dass die heftig bekämpften Covid-19 Querdenker mit ihren Bedenken nicht immer falsch lagen. Sie mussten sich als „Aasgeier der Pandemie“, „Aus Russland gesteuerte Trolle“, „durchgeknallte Schwurbelmenschen“, „gefährlicher Sozialschädling“, oder einfach nur als „Bekloppte“ beschimpfen lassen.

Siehst du, Jupp. Diese Ereignisse haben unsere Gesellschaft nachhaltig beschädigt und den massiven Widerstand gegen Staatsgewalt beflügelt. Ein wütendes Nachdenken hat eingesetzt. Aber du darfst die beobachteten Vorfälle nicht einfach als stabile Tendenz in die Zukunft extrapolieren. Wir sehen doch, dass unser soziales System auf diese Einflüsse mit überraschenden Korrekturen und auch starken Veränderungen reagiert. Denke mal an das Buch „Der Schwarze Schwan“ von Nassim Nicholas Taleb: Was hat die Weltgeschichte schlagartig geändert? Fall der Mauer, 9/11, Tschernobyl, Fukushima, Atomausstieg. Wir haben im Mai 2020 darüber gesprochen, du erinnerst dich?

  • Du glaubst also an das Aufwachen der Bevölkerung, Ingo. An die neu erwachende Energie und Motivation der Menschen, die Verbesserung der Lage mit vereinten Kräften anzugehen? Da habe ich meine Zweifel. Ich erinnere mich an eine bewährte Strategie der damaligen DDR-Regierung: selbst wenn überall Lieferengpässe auftraten – eines musste immer gesichert sein: genug Wodkanachschub für das Volk. Erklär mir doch mal bitte, warum unsere Regierung ausgerechnet jetzt den Cannabis-Konsum für alle gegeben hat! Unsere kritischen Geister und insbesondere die aufrührerische Jugend werden der Realität nun selig im Haschisch-Rauch entfliehen.

Ein interessanter Aspekt, Jupp. Vielleicht sollten wir nun auch den legalen Drogenkonsum einleiten und uns in unsere Eckkneipe begeben, um bei unserem traditionellen Bier die Welt wieder geruhsamer aus der zweiten Reihe betrachten.

# # #

Der wohl hervorstechendste und auch erschreckendste Aspekt der deutschen Realitätsflucht liegt in der Haltung, mit Tatsachen so umzugehen, als handele es sich um bloße Meinungen. (Hannah Arendt)

# # #

Auszug aus dem Ingo Nöhr Bericht vom Mai 2020:

Wir wollen uns einen Truthahn vorstellen, der jeden Tag gefüttert wird. Jede einzelne Fütterung wird die Überzeugung des Vogels stärken, dass es die Grundregel des Lebens ist, jeden Tag von freundlichen Mitgliedern der menschlichen Rasse gefüttert zu werden, die „dabei nur sein Wohl im Auge haben“, wie ein Politiker sagen würde. Am Nachmittag des Mittwochs vor dem Erntedankfest wird dem Truthahn dann etwas Unerwartetes widerfahren, und er wird seine Überzeugung revidieren müssen.

(Nassim Nicholas Taleb, Zitat aus seinem Buch „Der Schwarze Schwan – Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse“)

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von Ingo Nöhr

Sorry, war nur ein Test

Ingo Nöhr zum 1. Juni 2024

Die beiden Klinikpensionäre Ingo und Jupp finden in ihren abgeschiedenen Altersruhesitzen keine Entspannung. Immer wieder dringen spannende Neuigkeiten zu ihnen durch. Im Fußballspiel fiel das überraschend erfolgreiche Team von Borussia Dortmund im Finale der Champions League gegen die Profis von Real Madrid durch.

Guten Morgen, Ingo. Hast du gestern Borussia Dortmund gegen Real Madrid gesehen? Nach der ersten Halbzeit haben wir alle gedacht, Borussia holt sich den Pokal. Aber dann schlug die deutsche Krankheit wieder zu: fulminant gestartet, und dann geht irgendwie die Luft aus, wenn es entscheidend wird. Mats Hummels hat das Ergebnis gleich passend erklärt: „Wir haben viel Mut, Herz und fußballerische Klasse gezeigt. Wir haben es verpasst ein Tor zu schießen und bekommen dann den Gegentreffer. So machen sie es immer, das ist auch irgendwie eine Qualität, aber da gehörte heute auch ein wenig Matchglück dazu.“

  • Hallo Jupp, ja – das könnte unser ewiges deutsches Schicksal sein: wir sind gut im Job, verpassen dann ein Tor zu schießen und es gewinnen die anderen. Interessant fand ich aber das Intro der Show im Londoner Wembley-Stadion: die zwei Flitzer, die relativ ungehindert auf das Spielfeld gelangten. Der erste konnte in aller Ruhe Selfies mit zwei Starspielern von Real Madrid machen. Ist dir aufgefallen, dass beide ein T-Shirt mit der Aufschrift Mellstroy trugen?

Ach ja? Vermutlich eine Firma, für die sie Werbung machen?

  • So ähnlich, aber nicht ganz. Der belarussische Blogger Andrey Burim, der unter seinem Künstlernamen Mellstroy drei Millionen Follower zählt, hat 30 Millionen Rubel für einen Finale-Flitzer mit seinem Namenszug ausgelobt. Für 305.000 Euro kann man schon etwas riskieren.

Aha. Aber vielleicht müssen sie noch mit den Ordnern teilen, damit diese erst etwas später zugreifen. Nennt man so etwas nicht Korruption?

  • Aber wir Deutschen sollten mit diesem Begriff sehr vorsichtig hantieren. Unser Parteienfinanzierungsgesetz ist ein demokratisches und ethisches Desaster. Die Korruptionswächter des Europarates (GRECO) attestieren Deutschland mangelnden politischen Willen, sein System der intransparenten Parteienfinanzierung „deutlich hinter den europäischen Standards“ zu verbessern.

Gerade vor zwei Wochen befasste sich der Bundestag in einer Aktuellen Stunde mit dem Thema „Aufklärung möglicher Zahlungen an CDU und SPD aus dem Umfeld mutmaßlicher Schleuser“. Es geht um die Parteispende eines Beschuldigten von 52.000 Euro, üblicherweise in nicht meldepflichtigen Tranchen unter 10.000 gestückelt. Damit soll er hunderten reichen Chinesen Aufenthaltstitel, Meldeadressen, Scheinfirmen, Scheingehaltsabrechnungen und auch deutsche Staatsbürgerschaften besorgt haben. Von den aufgeflogenen Kandidaten für das EU-Parlament reden wir besser nicht.

  • Vor 23 Jahren hat der damalige Bundespräsident Johannes Rau einen regelmäßigen „Politikfinanzierungsbericht“ vorgeschlagen. Im gleichen Jahr wurde als eine Folge früherer Pflegeskandale das Pflege-Qualitätssicherungsgesetz beschlossen. Wo stehen wir heute? Damals war der Bundestag mit 669 Sitzen statt regulär 598 noch etwas überschaubarer. Die 733 Abgeordneten heutzutage sollen nun zum Entsetzen der kleinen Parteien wieder auf 630 Mitglieder reduziert werden.

Wie ich bereits sagte, Ingo: fulminant gestartet, wie überall: wir waren mal die bewunderten Alleskönner und perfekten Macher. Jetzt stehen wir bei Stuttgart-21 schon vor der Entscheidung, ob wir das unersättliche Loch nicht besser zuschütten. Wie beim Flughafen BER, als uns auch die Brandschutzvorschriften fast ruiniert hätten. Wie können wir bis zum Ziel durchhalten?

  • Jupp, ich glaube, unser Wirtschaftspolitiker hat neuerdings einen interessanten Gedanken ins Spiel gebracht. „Das Gebäudeenergiegesetz war ein Test“, wie weit die Bevölkerung bereit ist, für Klimaschutz auch Belastungen in Kauf zu nehmen, sagt Habeck beim Demokratiefest. Es gilt aber seit 1. Januar bereits für alle Bürger. Das ist eine ganz neue Taktik, Politik voranzubringen.

Ich weiß schon, was du meinst Ingo. Früher haben Profi-Politiker oder ihre Sprecher erstmal ein Gerücht über ihre brisanten Maximalpläne in die Welt gesetzt und genüsslich den Aufruhr in den Medien und der Bevölkerung abgewartet. Dadurch fanden sie die Schmerzgrenze, haben „aufgrund der öffentlichen Meinung“ zurückgesteckt und ihren Plan auf das Maß reduziert, was sie schon vorab vorgesehen hatten. Und die Wähler registrierten wieder erleichtert, dass sie es denen da oben mit ihrem Protest mal wieder gezeigt haben, dass sie nicht alles mit sich machen lassen. Dabei merken sie überhaupt nicht, wie sie geschickt manipuliert wurden. 

  • Richtig, Jupp. Ein gutes Beispiel war unsere Corona-Politik. Vor kurzem wurden ja die meisten Schwärzungen in den RKI-Protokollen entfernt und nun kann jeder nachlesen, wie die politische Ebene permanent die Viren-Angst in der Bevölkerung hochhalten wollte. Der Name des Gesundheitsministers Spahn taucht nun plötzlich 101 Mal in den Krisenstabsprotokollen auf. So am 13.März 2020: „Herr Spahn hat angeordnet, dass eine Passage zu Schulschließungen in die Kriterien für die Risikoeinschätzung von Großveranstaltungen eingefügt wird.“ Dabei hatte ein RKI-Mitarbeiter schon am 26. Februar 2020 aus China berichtet, dass Kinder „keine wichtigen Glieder in Transmissionsketten“ darstellten.

Was für eine Ignoranz auf politischer Seite. Als Konsequenz schlagen wir uns jetzt mit einer ganzen Generation mental geschädigter Kinder herum. Was steht denn in den geschwärzten Stellen über die Maskenpflicht?

  • Die breite „Nutzung von FFP2-Masken“ außerhalb des Arbeitsschutzes sei „nicht evidenzbasiert“. Und „Kritisch diskutiert wird Maskenpflicht für Grundschüler, evtl. Langzeitfolgen“.

Soso, Langzeitfolgen wurden schon damals befürchtet. So viel zur Wirksamkeit eines Risikomanagements. Wie liefen denn die Impfkampagnen ab?

  • Am 8. Januar 2021 heißt es: „Impfstoffwirkung ist noch nicht bekannt. …Dauer des Schutzes ist ebenfalls unbekannt.“ Wenige Wochen später haben Millionen Deutsche ihre Erstimpfung erhalten, obwohl die STIKO „ungern so ohne Phase III Studienergebnisse Empfehlungen verfassen“ wollte. Kurz danach war das PEI mit 1.600 Meldungen über Nebenwirkungen völlig überlastet und Norwegen setzte die Verwendung von AstraZeneca bis auf weiteres aus, nachdem über viele Fälle mit arteriellen Thrombosen berichtet wurde.

Also Ingo, ich bin etwas schockiert. Diese Impfkampagne gleicht ja einem gewaltigen Menschenexperiment, wo man nicht mehr genau hinschauen konnte. Wir testen mal einfach und hoffen, dass alles gut geht. Wer meckert, wird als Querdenker und Verschwörungstheoretiker diffamiert. Und das hat unser hochnobles Robert-Koch-Institut alles klaglos mitgemacht?

  • Nein, nicht ganz. Der immer abgestrittene politische Druck auf das RKI wird in folgendem Eintrag deutlich: „Kommt das RKI der politischen Forderung nicht nach, besteht das Risiko, dass politische Entscheidungsträger selbst Indikatoren entwickeln und/oder das RKI bei ähnlichen Aufträgen nicht mehr einbindet.“

Auf gut Deutsch: „Liebe Wissenschaftler vom RKI, Ihr werdet gefeuert, wenn Ihr nicht spurt.“ Alles klar. Da wird die „von allen Seiten“ geforderte Aufarbeitung der Maßnahmen zur Covid-19 Pandemie so ausgehen, wie damals 2010 bei der hessischen Parteispendenaffäre, als in der Schweiz eine mehrere Millionen Euro schwere schwarze Kasse der CDU auftauchte: Ministerpräsident Roland Koch forderte die „brutalstmögliche Aufklärung der Vorgänge“. Das Ergebnis ist bekannt.

  • Die Aufklärung der Fehler nach dem erfolgten Schlamassel hilft uns nicht weiter, zudem werden Schuldige nie konkret identifiziert. Ich möchte deinen Blick noch auf weitere aktuelle Testvorhaben unserer Regierung lenken. Etwa das von Lauterbach als Revolution angekündigte Klinikgesetz – ein Regelwerk von 186 Seiten Umfang. Weder Bundesländer noch Krankenhausgesellschaft waren in die Planungen einbezogen. Bayerns Ex-Gesundheitsminister Holetschek nennt die Reform: „von Anfang an falsch gedacht, verfassungswidrig und verfehlt ihre Ziele“. Der Mangel an Pflegekräften wird dazu führen, dass in den nächsten zehn Jahren etwa 30% der Betten verloren gehen. Die Diskussion über die Auswirkungen werden von Lobbyisten und Funktionären dominiert, daher sehe ich hier auch schon einen neuen Testfall. Bei Revolutionen weiß man auch nie vorher, was letztendlich dabei herauskommt.

Ingo, die Regierung hat ja schon die nächste Revolution in der Pipeline: die Aktienrente. Wer wird dort die Lasten der nächsten Jahrzehnte tragen? „Ein großer Wurf ins Unheil“ (Rentenökonom Raffelhüschen), „nicht generationengerecht (Wirtschaftsweise Monika Schnitzer). Liebe Regierung, die Jugend kann ganz schön rebellisch werden, wenn sie sich nicht mehr vertreten fühlt. Lernt mal was aus dem Phänomen „Fridays for Future“!

  • Unsere ehemaligen Volksparteien befinden sich angesichts der kommenden Wahlen in einem Angstzustand. Es gibt zu viele Verlierer, Abgehängte, Unzufriedene und Radikale, die nun die Chance sehen, den Herrschenden durch ein Kreuz ganz rechts oder links einen Denkzettel zu verpassen. Und plötzlich verschieben sich die politischen Gewichte und wir haben ein neues Experimentierfeld.

Aber Ingo, sei mal ehrlich: angesichts des desolaten Zustandes unserer Gesellschaft, insbesondere bei der Bildung, in der Wirtschaft und der Klimapolitik sowie im Gesundheitswesen – da ist doch eine Revolution schon längst angebracht, oder?

  • Ja, Jupp, da gebe ich dir schon lange Recht. Aber wir werden bei diesem grassierenden Fachkräftemangel in unseren politischen Einrichtungen wohl nicht aus der dilettantischen Versuchsphase herauskommen. Und hinterher heißt es dann wieder lapidar: „Sorry, war nur ein Test. Wir werden viel einander verzeihen müssen.“

Na ja, Ingo. Als abgeklärte Pensionäre mit unseren kleinen Häuschen können wir uns in der zweiten Reihe interessiert zurücklehnen und beim Bier ausreichend versorgt den Lauf der Welt beobachten. Also dann Prost auf die unbekannte Zukunft! Her mit den Revolutionen!

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Das Experiment in der Politik ist die Revolution. (Benjamin Disraeli)

Man bildet sich zwar insgemein ein, daß Experimente bei der Erziehung nicht nötig wären, und daß man schon aus der Vernunft urteilen könne, ob etwas gut, oder nicht gut sein werde. Man irret aber hierin aber sehr, und die Erfahrung lehrt, daß sich oft bei unseren Versuchen ganz entgegengesetzte Würkung sich zeigen von denen, die man erwartete.       (Immanuel Kant)

Jean-Claude Juncker ist ein pfiffiger Kopf. ‚Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, was passiert‘, verrät der Premier des kleinen Luxemburg über die Tricks, zu denen er die Staats- und Regierungschefs der EU in der Europapolitik ermuntert. ‚Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter – Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt.‘ 
(Spiegel vom 26.12.1999)

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von Ingo Nöhr

Die Fußball-EM 2024 aus der Sicht der EU-Kommission

Ingo Nöhr zum 1. Mai 2024

 

Jupp hatte die letzte Kneipenrunde wegen „dringender Renovierungsarbeiten“ abgesagt. Neugierig geworden besucht Ingo ihn zu Hause. „Was ist los. Jupp? - „Mann, Ingo! Wo lebst du denn?  Ab dem 14. Juni gibt es einen Monat lang Fußball-EM! 51 Spiele, du Sportbanause!“ empfängt er den ahnungslosen Ingo, inmitten von einem Kabelgewirr, welches eine 8-Kanal-Dolby-Surround HiFi-Anlage mit einem Dutzend Lautsprechern und einem riesigen Fernsehbildschirm verbindet. Diese Beleidigung lässt Ingo aber nicht auf sich sitzen und überrascht ihn seinerseits mit einer brisanten Insider-Nachricht. 

Hallo, Jupp, hast du schon gehört? Die EU-Kommission befasst sich nun mit der Fußball-EM in Deutschland! Und kümmert sich vorrangig um die Sicherheit.

  • Wieso das denn? Die EU ist doch für Fußball gar nicht zuständig.

Die EU-Kommission beruft sich erfolgreich wie immer auf ihren Auftrag für Sicherheit und Gesundheitsschutz in Europa. Schließlich hat die deutsche Regierung gerade den Joint-Konsum freigegeben. Die FIFA-Anti-Doping-Stelle will jetzt alle deutschen Fußballer auf Cannabis testen.  

  • Und die lassen sich das einfach gefallen? Was sagt denn die UEFA dazu? Die hatte sich doch schon 2010 erfolgreich gegen die Umsetzung der Doping-Richtlinie der Welt-Anti-Doping-Agentur WADA gesperrt.

Die UEFA hat natürlich erst gemault. Aber dann hat die Kommission angedroht, die Europäischen Richtlinien für Arbeitsschutz und Arzneimittel auf alle Fußballverbände in Europa anzuwenden. Wenn sich da erstmal die Europäische Arzneimittelagentur in London mit dem Dopingverdacht befassen wird, schlackern einigen Vereinsfunktionären ganz gewaltig die Hosen. Und denk' nur mal an den Arbeitsschutz: EG-Richtlinien zu Lärm und Vibrationen, Persönliche Schutzausrüstungen, Benutzung von Arbeitsmitteln, Gefährdungsbeurteilungen am Arbeitsplatz – der reinste Horror für die UEFA und ihrer Fußballwelt. Von der Korruption und Geldwäsche mal ganz zu schweigen.

  • Ach ja, stimmt - Arbeitsschutz. Die Fußballer kann man ja durchaus als Arbeitnehmer bei der Arbeit betrachten, für die gilt natürlich das ganze Regelwerk genauso. Aber wieso hat die EU denn plötzlich die Fußballer auf dem Kieker? Die EU-Beamten haben doch gar keine Zeit. Jetzt regulieren sie doch gerade die Künstliche Intelligenz, die Geldwäsche und die Terrorfinanzierung, da haben sie doch genug zu tun.

Das stimmt schon. Auch in der Außenpolitik sind die EU-Bürokraten gerade vollauf beschäftigt. Aber jetzt denke mal an die vielen arbeitslosen Fachleute in Brüssel, die sich seit Jahrzehnten mit den Medizinprodukten befasst haben. Der Fortgang für neue EU-Regelungen liegt brach, weil im Juni die EU-Parlamentswahlen sind. Danach werden erst die zuständigen Gremien neu besetzt und dann fängt die Diskussion wieder von vorne an. Solange sitzen sie alle da und drehen Däumchen.

  • Und warum denn ausgerechnet Medizinprodukte? Was hat das mit dem Fußball zu tun?

Tja, so wie schon vor 60 Jahren unser seliger Nationaltrainer Sepp Herberger sagte: „Der Ball ist rund“, so musst du heute ergänzen „… und ein Medizinprodukt.“

  • Was? Der EM-Fußball ist ein Medizinprodukt? Wie soll das denn gehen?

Nimm einfach die Definition eines Medizinproduktes. Ich zitiere mal den Text der aktuell gültigen EU-Verordnung 2017/745: „Medizinprodukt bezeichnet … ein Gerät, … ein Material oder einen anderen Gegenstand, das dem Hersteller zufolge für Menschen bestimmt ist und allein oder in Kombination einen oder mehrere der folgenden spezifischen medizinischen Zwecke erfüllen soll:
— … Kompensierung von …  Behinderungen,
— Veränderung der Anatomie oder eines physiologischen oder pathologischen Vorgangs oder Zustands.“  

  • Ach so. Du meinst also: der Fußball dient als ein Gegenstand der körperlichen Ertüchtigung, baut Muskeln auf und stärkt Herz und Kreislauf. Also ein Medizinprodukt deiner Meinung nach.

Nicht meiner Meinung nach! Hör mich doch zu! Das ist die Aussage der EU-Verordnung, ein gültiges Gesetz für alle EU-Länder.

  • Ich erinnere mich aber daran, dass dort die medizinische Zweckbestimmung des Herstellers eine wichtige Rolle spielt.

Du hast gut aufgepasst, Jupp. Aber was sagt die EU dazu? „Zweckbestimmung bezeichnet die Verwendung, für die ein Produkt entsprechend den Angaben des Herstellers auf der Kennzeichnung, in der Gebrauchsanweisung oder dem Werbe- oder Verkaufsmaterial bzw. den Werbe- oder Verkaufsangaben und seinen Angaben bei der klinischen Bewertung bestimmt ist“. Und du wirst es nicht glauben! Die EU-Kommissare haben einen Hersteller gefunden, der dem Ball per Werbeaussagen eine medizinische Verwendung bei der Rehabilitation von Patienten zugesprochen haben.

  • Aber seit wann sind denn Fußballer als Patienten anzusehen, Ingo? Die sind doch kerngesund!

Kerngesund? Das ist ja wohl eine falsche Bezeichnung. Hast du dir mal die Verletzungsliste der einzelnen Spieler angeschaut? Die sind doch regelrecht aus der Reha geflohen, um wieder mitspielen zu können. Und sie gehen dabei jede Sekunde neue Verletzungsrisiken ein.

  • Ach ja? Risiken! Ist ja interessant. Zu welcher Risikoklasse gehört der Fußball denn, bitte schön?

Gute Frage, Jupp. Er ist zunächst betrachtet von nicht invasiver und nicht aktiver Natur sowie von vorübergehender Anwendungsdauer. Also würde man ihn eigentlich in die niedrigste Klasse I einstufen können. Wäre da nicht die Regel 18:  „Produkte, die unter Verwendung von nicht lebensfähigen oder abgetöteten Geweben oder Zellen menschlichen oder tierischen Ursprungs oder ihren Derivaten hergestellt wurden, werden der Klasse III zugeordnet“. Das ist bei einem Lederball ganz klar der Fall, da er aus Rindsleder hergestellt wird.

  • Ha, jetzt habe ich dich aber erwischt, Ingo. Du hast den nächsten Satzteil unterschlagen: „es sei denn, diese Produkte werden unter Verwendung von nicht lebensfähigen oder abgetöteten Geweben oder Zellen tierischen Ursprungs oder ihren Derivaten hergestellt, die dafür bestimmt sind, nur mit unversehrter Haut in Berührung zu kommen.“ Ich kenne keinen Fußballer mit offenen Geschwüren. Also doch keine Risikoklasse III!

Momentmal, mein lieber Jupp! Unversehrte Haut? Hast du dir mal die Fußballer am Ende des Spieles angeschaut? Jede Menge Hautverletzungen durch Abschürfungen, Prellungen und Stürze. Und außerdem: bei Kopfbällen hast du zudem noch eine gefährliche Einwirkung auf das zentrale Nervensystem, nämlich das Gehirn. Also ich denke, die Eingruppierung in die höchste Risikoklasse ist schon zu rechtfertigen. So steht es auch im ersten EM-Mängelbericht der EU-Kommission.

  • Wieso EM-Mängelbericht? Die EM hat doch noch gar nicht stattgefunden.

Ja, aber die Experten haben natürlich die Sicherheitslage schon vorab gründlich untersucht und wie gewohnt einen ersten Richtlinien-Vorschlag erarbeitet. Sie empfehlen ein erweitertes Regelwerk von etwa 2.000 Seiten Umfang. Es beschreibt die Konformitätsbewertungsverfahren für den Fußball und das Zubehör, die Zertifizierungsanforderungen zur Qualifizierung der Schieds- und Linienrichter, der Trainer und Fußballkommentatoren und vieles mehr.

  • 2.000 Seiten für den Fußball? Was soll da denn alles geregelt werden?

Neben den Arbeitsschutz-Richtlinien und der EU-Verordnung zur Textilkennzeichnung bei den Trikots sind ein halbes Dutzend weiterer EU-Richtlinien der Neuen Konzeption betroffen, die alle bei der CE-Kennzeichnung beachtet werden müssen:

  1. Richtlinie für Persönliche Schutzausrüstungen für die Fußballschuhe, Schienbeinschützer und Torwarthandschuhe,
  2. Maschinenrichtline und Druckbehälter-Richtlinie für die Geräte zum Aufpumpen des Fußballs,
  3. Niederspannungs- und EMV-Richtlinie für die Anzeigetafeln, Bildschirme im Stadion und elektronischen Sensoren im Fußball,
  4. Bauprodukte-Richtlinie für die Torkonstruktionen und Stadienbauten,
  5. Spielzeug-Richtlinie, falls der Fußball nur zum einfachen Kickern verkauft wird.
  • Das ist ja Wahnsinn, Ingo. Das schafft ja wieder Tausende von Arbeitsplätzen. Es stimmt schon: Kleinlebewesen vermehren sich durch Zellteilung, Bürokratien durch Arbeitsteilung.

Na klar doch. Die Europäische Kommission war schon immer die perfekte Realisierung des Parkinsonschen Gesetzes zum Bürokratiewachstum. Es gibt nur noch wenige Gebiete, die von Brüssel bisher nicht geregelt wurden.

  • Der Fußball bekommt also künftig eine CE-Kennzeichnung? Dann braucht er ja auch ein Etikett mit den Herstellerangaben. Und Warn- und Benutzungshinweise wie: „Bitte hier hintreten!“ und „Nicht hineinstechen!“ Gibt es schon eine ausführliche Bedienungsanleitung? Vor allem juristisch abgesichert?

Das ist noch nicht alles. Schau mal in die Grundlegenden Sicherheits- und Leistungsanforderungen: Infektionsschutz, Abgabe von Energie, Brandschutz, Gebrauchsanweisungen und vor allem Punkt 5.3. „Produkten, die unter Verwendung von Geweben oder Zellen menschlichen oder tierischen Ursprungs…“ benötigen ein wissenschaftliches Gutachten, welches der Benannten Stelle vorgelegt werden muss. In Verbindung mit den Risikoanalysen und der klinischen Prüfung kommt da für die Technische Dokumentation eine Menge Papier zusammen. Vergiss nicht, du hast ein Klasse III Produkt vor dir.

  • Ach Ingo. Wie sagte doch Reiner Calmund hellseherisch: "Ich weiß, dass das nicht so einfach ist, aber wir sind hier nicht in der Krabbelgruppe." Jetzt brauche ich erst mal ein Bier. Auf in unsere Stammkneipe.

Gute Idee, Jupp. Ich zitiere deinen Freund Lothar Matthäus: „Wir dürfen jetzt nur nicht den Sand in den Kopf stecken.“ Wir nehmen da lieber unseren bewährten Hopfenblütentee und stecken den in unseren Kopf.

Anmerkung:

Irgendwann werden die EU-Bürokraten dann merken, dass der Fußball schon seit 1986 aus vollsynthetischem Material hergestellt wird und seitdem kein Fitzelchen Leder mehr enthält. 

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von Ingo Nöhr

Corona-Show im Olympia-Stadion

Ingo Nöhr zum 1. April 2024

Ingo Nöhr und sein Kumpel Jupp haben wir ein neues Aufregungsthema. Vor zwölf Tagen veröffentlichte das Multipolar-Magazin über 200 Protokolle mit über 2000 Seiten über die RKI-Sitzungen des Covid-19-Krisenstabes zwischen Januar 2020 bis April 2021, nachdem die Redakteure im Mai 2021 beim Verwaltungsgericht einen Antrag auf Freigabe aller Dokumente gestellt hatten. Seitdem überschlagen sich die Medien: „Politischer Sprengstoff“ titelt die Bild-Zeitung, „von den brisanten Corona-Protokollen des RKI“ spricht das ZDF heute. Irritierend sind aber die über 1000 Schwärzungen im Text, die laut den RKI-Anwälten einzeln auf 1059 Seiten begründet werden.

(Kleiner Hinweis vom Chronisten: bei einigen Aussagen bitte das obige Datum beachten!)

Mensch Ingo, wie hast du das wieder geschafft? Da reden wir uns letzten Monat über die Corona-Bücher von Prof. Günter Kampf die Köpfe heiß und heute sind die vertraulichen RKI-Dokumente aufregender Gesprächsstoff in Politik und Gesellschaft.

  • Langsam, lieber Jupp, ich habe gar nichts gemacht. Wenn, dann ist dieser Aufruhr von unserem Chronisten ausgelöst worden, der immer alle Gespräche gleich im Internet veröffentlicht. Außerdem sind ja ein Großteil der RKI-Informationen geschwärzt. Bei unserem Professor gab es dagegen nur Klartext.

Ja, aber wohl nicht lange. Vor drei Tagen verkündete Karl Lauterbach persönlich, dass die Schwärzungen auf seine Anweisung hin entfernt werden sollen. Vermutlich will er damit einem Gerichtsurteil zuvorkommen, welches am 6. Mai über die Rechtfertigung der Zensuren entscheiden wird. Er hat ja auch wenig zu befürchten, weil sein Vorgänger Jens Spahn für diesen Zeitraum verantwortlich war. Gerüchte besagen, dass er die geheimen Textstellen am 1. April persönlich im Olympiastadion vorlesen will.

  • Soso, dann fahr mal mit Olek hin, Jupp und lasst euch nichts entgehen. Wie ich höre, gibt es große Showveranstaltung, so wie die „drei Tenöre“: Karl Lauterbach, Lothar Wieler und Christian Drosten im Trio. Jens Spahn kommt dann als Ehrengast und darf beim Finale vom Publikum mit faulen Eiern beworfen werden. Das Event dürfte die Politikverdrossenheit etwas senken.

Ich werde dir berichten, Ingo. Aber eigentlich müssten da noch viel mehr Akteure aus Corona-Zeiten auftreten. Alena Buyx, die Vorsitzende des Ethikrates, sieht in ihrem Wirken eigentlich viel Positives: „Wir haben einen Schub von fünf bis zehn Jahren gemacht“ erzählte sie vor vier Tagen im Spiegel-Interview. „Die Impfung war eine großartige Menschheitsleistung“. Sie meint auch den Digitalisierungssprung.

  • Natürlich, Digitalisierung. Immerhin haben wir schnell gemerkt, das Faxgeräte noch nicht digital laufen. Und was sagt sie dazu, dass so viele Kinder und Jugendliche in seelische Nöte geraten sind, an denen sie heute noch leiden? Zu den einsam Sterbenden in Altersheimen und auf Intensivstationen?

Jaaa, die Kinder. Das tut ihr fürchterlich leid. Da hätte der Ethikbeirat eigentlich früher eine Stellungnahme schreiben müssen. Aber zur Wiedergutmachung will die Buyx nun in einem Berliner Kindergarten persönlich die Ostereier verstecken, und zwar als Häsin verkleidet. Deswegen kann sie auch nicht zur Corona-Show ins Stadion kommen.

  • Jens Spahn sollte eigentlich während der gesamten Veranstaltung zur Sühne eine FFP2-Maske tragen müssen. Schließlich hat der Bundesrechnungshof letzte Woche eine gigantische Verschwendung an Steuergeldern festgestellt: von den 5,7 Milliarden Masken wurden nur 2 Milliarden ausgegeben, der Rest wird nun vernichtet. Dabei dokumentiert das RKI in seinem Protokoll vom 30. Oktober 2010: FFP2-Masken sind eine Maßnahme des Arbeitsschutzes, haben bei nicht korrekter Benutzung keinen Mehrwert, und es gibt keine Evidenz für FFP2-Masken außerhalb des Arbeitsschutzes. Selbst Risikogruppen kann man das Tragen der Masken auf Dauer nicht zumuten, nach 75 Minuten Tragedauer muss eine halbstündige Pause erfolgen. Laut Prof. Kampf hatten über 90% der Maskenträger ihre Maske nicht dicht abgeschlossen. Somit war eine Schutzwirkung in der Realität nicht nachweisbar.

Ingo: Just am Tag der bundesweiten Einführung der FFP2-Maskenpflicht am 18.Januar 2021 findet sich im RKI-Protokoll der Hinweis, dass überhaupt keine fachliche Grundlage zur Empfehlung von solchen FFP2-Masken für die Bevölkerung gibt und deswegen eine Warnung vor unerwünschten Nebenwirkungen hinzuzufügen sei. Durch die verstärkte CO2-Rückatmung steigt dessen Gehalt von 0,04% auf ca. 3%.

  • Jens Spahn sollte zwischendurch immer wieder mal Luft schnappen dürfen, bevor er umfällt und die Show kaputtmacht. Ich hätte auch einen Ratschlag für ihn, bevor seine 3,7 Milliarden Masken verbrannt werden. Er könnte sie doch an alle Haushalte als Kaffee- oder Teefilter verteilen. Und als Schmerzensgeld noch einen 10 Euro-Schein beilegen. Schließlich kostet im laufenden Jahr allein die Verwaltung der überzähligen Masken 534 Millionen Euro.

Zumindest die Pollenallergiker würden sich über kostenlose Masken freuen. Man müsste einfach per Dekret die Zweckbestimmung ändern. Die Industrie sollte überhaupt mal prüfen, ob der riesige Berg an Maskenstoffen nicht zur Eliminierung von Feinstaubproduktion geeignet ist. Für die Modeschöpfer wäre es doch auch eine kreative Herausforderung, aus zwei FFP2-Masken einen formschönen BH zu gestalten.   

  • Jupp, du hast gute Ideen. Schreibe es gleich an Lauterbach, dann hat er in Berlin wieder etwas positives zu verkünden. Es kommt noch eine brisante Notiz ans Licht: Im Protokoll vom 30.12.2020 heißt es: „Maskenpflicht ist nach Impfung definitiv beizubehalten, da weiterhin Übertragungsrisiko.“ Also wusste das RKI schon vorher, dass eine sterile Immunität nach der Impfung gar nicht bewiesen ist. Dies hielt Markus Söder nicht davon ab, im August 2021 zu verkünden: „Wer geimpft ist, stellt keine Gefahr dar“. Und noch drastischer: „Ungeimpfte sind nicht Teil der Mitte der Gesellschaft“ erklärte Wolfram Henn, Mitglied des Deutschen Ethikrates. Damit war die Spaltung der deutschen Gesellschaft nicht mehr weit.

In seinem Buch „2G“ befasst sich Günter Kampf auch mit der Frage, ob die massive Ausgrenzung der Nichtgeimpften überhaupt einen relevanten gesundheitlichen Nutzen hatte. Eine Auswertung von 181.072 Risikokontakten der Luca-App im Oktober 2021 findet folgende Hotspots: Clubs und Diskotheken 49,1%, Bars 23,2%, Restaurants 10,9%, Veranstaltungen 7,8%.

  • Moment mal, ich erinnere mich noch daran, dass die Kirchen geschlossen wurden, aber der Aufenthalt in Baumärkten erlaubt war. Das wäre doch die beste Gelegenheit gewesen, der CDU und CSU das C vor dem Namen wegzunehmen.

Aber alle anderen Orte wie Einzelhandel, Theater, Museen, Cafés, Kinos, Schwimmbäder und Sport liegen unter 1%. Wohlgemerkt: Es handelt sich immer um Geimpfte oder Genesene, die aufgrund ihrer Zertifikate keine Testergebnisse vorlegen mussten, aber trotzdem kräftig ihre Coronaviren verteilt haben.   

  • Kampf kommt nach der Auswertung der Fallstatistiken zum Fazit: „Deshalb halte ich es sogar für wahrscheinlich, dass 2G die Anzahl von SARS-CoV-2 Übertragungen im öffentlichen Raum deutlich erhöht hat“. Eben, weil die Ausscheider nicht mehr getestet wurden.

Da bin ich ja gespannt, was in den nächsten Wochen noch alles in den Schwärzungen verborgen ist. Eigentlich muss auch Olaf Scholz an der Corona-Show teilnehmen. Am 12. September 2021 sagte er „Also, erstens bin ich gegen eine Impfpflicht“, um am 7. Januar 2022 das Gegenteil zu behaupten: „Ich habe die ganze Zeit gesagt, dass ich für eine Impfpflicht bin und ich bleibe dabei.“

  • Das erstaunt mich nicht, schließlich ist er ein sehr vergesslicher Mensch. Jetzt geht es plötzlich rasant schnell. Wolfgang Kubicki von der FDP hat sich beim Kanzler über die teilweise geheime Stoppt-Covid-Studie 2023 des RKI beschwert: „Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages sind keine Bittsteller, sondern haben einen verfassungsrechtlichen Anspruch auf Informationen.“ Da hat sich Olaf Scholz wieder an das Grundgesetz erinnert und sofort die Veröffentlichung der Studie verfügt: Noch im März 2024! Da muss Lauterbach sich aber jetzt sputen und die Ostereiersuche erstmal ausfallen lassen.

Diese RKI-Studie über die Corona-Maßnahmen fiel eigentlich sehr positiv aus. Die Hygienekonzepte und Kontaktbeschränkungen hätten „eine deutliche Wirkung“ gezeigt: „Verschärfungen führten jeweils zu einer stärkeren Reduktion der Covid-19-Ausbreitung.“ Doch schon der grob zusammenfassende Abschlussbericht, den das Ministerium veröffentlicht hatte, war von Fachleuten kritisiert worden. Experten bemängelten untaugliche Modellrechnungen, falsche Vergleiche und voreilige Schlüsse. Immer wieder drängten Wissenschaftler darauf, das RKI solle die „Quellcodes“, also die Grundlagen ihrer Modellrechnungen, offenlegen. 

  • Da ist aber das RKI ganz schön unter Druck: Damals der Schwenk bei der Maskenempfehlung, der ominöse Mann in den RKI-Sitzungen, der auf ein Signal von der Regierung wartet, die Freigabe jetzt der ungeschwärzten Stellen in den Protokollen, demnächst vielleicht noch ein Gefälligkeitsgutachten für die Regierung … Weißt du, Jupp, dass genau vor dreißig Jahren der Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer das gewaltige Bundesgesundheitsamt einfach aufgelöst und vorher seinen Präsidenten fristlos gefeuert hat? Damals kam der Skandal mit den HIV-verseuchten Blutkonserven ans Licht. Das BGA war in dunklen Machenschaften mit der Industrie, dem DRK, den Behörden und Ärzten verstrickt. Aber damals war ein Skandal noch skandalös.

Ingo, dein Blutdruck steigt wieder. Wir brauchen jetzt unsere Medizin. Herr Wirt, bitte zwei Bier.

  • Jupp, du hast mal wieder Recht. Bier ist noch ungepanscht, virenfrei und behördlich nicht verboten. Prost.

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Der Chronist empfiehlt einen Blick in die Webseite https://www.corona-verstehen.de/ . Dort findet man die 78. Fortsetzung eines Living eBook von David Klemperer et al. Seit August 2020 wird dort auf nunmehr 400 Seiten mit über 770 Literaturstellen eine evidenzbasierte Sicht auf die Covid-19 Pandemie kostenfrei zusammengestellt.

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Der Soziologe Alexander Zinn äußerte sich als Geimpfter am 8. Januar 2022. Er schrieb: „Was wir dabei übersehen: „Wissenschaftsfeinde“ sind nicht diejenigen, die Zahlen, Studien und Maßnahmen hinterfragen, sondern diejenigen, die den offenen Diskurs darüber unterbinden wollen. Schuldzuweisung und Ausgrenzung mögen uns psychologisch entlasten. Die Corona-Krise, die inzwischen eher eine gesellschaftliche als eine gesundheitliche ist, werden wir damit nicht lösen.“

(Zitat aus „2G“ von Günter Kampf)

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von Ingo Nöhr

„Wir werden viel einander verzeihen müssen“

Ingo Nöhr März 2024:

Bundesgesundheitsminister Jens Spahn schlug im April 2020 nachdenkliche Töne an: „Wir werden in ein paar Monaten wahrscheinlich viel einander verzeihen müssen.“ Mit diesen Worten bat Spahn damals um Verständnis für seine politischen Entscheidungen in der Corona-Krise. Die beispiellosen Eingriffe des Staates in die Grundrechte der Deutschen waren historisch einmalig und haben eine tiefe Spaltung in der Bevölkerung erzeugt.

Bei unseren Klinikrentnern Ingo und Jupp gibt es anscheinend Neuigkeiten. Kein Wunder, dass beim diesmaligen Treffen am Stammtisch in der Eckkneipe das Thema Corona wieder eine Rolle spielt.

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Hallo Ingo, bei dir noch alles im Lot? Ich habe spannende Nachrichten von der Corona-Front.

  • Guten Morgen Jupp. Bei mir ist alles okay. Aber ich vergaß, du hast ja mit deinem Untermieter Oleks einen ausgefuchsten Experten über die Corona-Krise. Damals hast du schon im Dezember 2022 mit spannenden Neuigkeiten geglänzt. Danach habt ihr doch angefangen, euren Weltuntergangsbunker zu bauen. Nebenbei gefragt: Sind Oleks und seine Perle Doris denn jetzt mittlerweile geimpft?

Nein, natürlich nicht. Sie haben eine eiserne Kondition und ich habe mich auch nirgendwo angesteckt. Aber jetzt hör mal zu, Ingo. Kannst du dich an den Januar letzten Jahres erinnern? Der Präsident der Robert Koch-Instituts Lothar Wieler sprach sich am 25. Januar 2023 dafür aus, die Entscheidungen und Maßnahmen der Coronapandemie aufzuarbeiten. Es brauche hier eine saubere Analyse, um daraus für die Zukunft zu lernen.

  • Jupp, da hatten wir persönlich doch schon unsere öffentlichen Medien alle abgeschaltet, damit wir endlich unsere Ruhe vor den permanent schlechten Nachrichten hatten. Aber lass mich raten: das RKI hat jetzt nach einem Jahr eine knackige Analyse vorgelegt.

Das Robert-Koch-Institut? Vielleicht, ich weiß es nicht. Das RKI hat seit dem Jahre 2000 über 12.000 Publikationen verbreitet, darunter sicherlich haufenweise Corona-Studien. Aber die gründlichste und umfassendste Analyse über die Corona-Maßnahmen gibt es gerade im Buchhandel – aber interessanterweise nicht vom RKI.

  • Hätte mich auch gewundert, dass ein so riesiger Beamtenapparat mit einem etwas chaotischen Gesundheitsminister in so kurzer Zeit ein Ergebnis erwirtschaften könnte. Wer hat denn jetzt die ganze Chose analysiert?

Ein Professor Günter Kampf hat sich seit Beginn der Corona-Pandemie regelmäßig mit den Maßnahmen befasst und 2023 schon drei Bücher darüber geschrieben. Eine wahre Fleißarbeit, nämlich insgesamt 500 Seiten: über die Maskenpflicht, über die Impflicht, über die G2-Regelungen und jetzt im Januar 2024 mit CoroFluenza ein neues Buch mit einem Vergleich von weltweiten pandemischen Atemwegsinfektionen. Ein gewaltiges Werk mit 233 Quellenangaben und knapp 150 Seiten.

  • Kampf? Jupp, das hört sich wie ein Pseudonym an. Fürchtet der Professor jetzt um sein Leben? Was ist denn herausgekommen? Nichts schlimmes als Auftragsarbeit vom Gesundheitsminister denke ich? Da tippe ich mal ins Blaue: die Politiker haben gezeigt, dass sie mit ihren drastischen Maßnahmen unser aller Leben gerettet haben.

Mensch Ingo, ganz falsch. Der Name ist kein Pseudonym. Prof. Kampf ist ein selbstständiger Facharzt für Hygiene und Umweltmedizin in Hamburg sowie außerplanmäßiger Professor für Hygiene und Umweltmedizin an der Universität Greifswald. Er hat mehr als 250 wissenschaftliche Veröffentlichungen in meist internationalen Fachzeitschriften, 44 Buchkapitel sowie zwölf Fachbücher veröffentlicht. Und es ist auch keine Auftragsarbeit vom BMG

  • Da wäre natürlich etwas aufwändig, alles in einem Pseudonym unterzubringen zu wollen. Aber ich gehe mal davon aus, dass die Uni Greifswald als Empfänger von staatlichen Forschungsgeldern Wert darauflegt, nachzuweisen, dass der Staat in Coronazeiten alles richtig gemacht hat.

Das könnte man annehmen, Ingo. Aber dann hätte man unseren Professor schon 2022 mundtot gemacht, als er sein Buch mit dem provokanten Titel „Wissenschaft ist frei – auch in der Pandemie?“ herausgebracht hat. Ich zitiere mal Revolutionäres aus dem Klappentext: „Es steht nicht gut um die Freiheit der Wissenschaft. Ihre Unabhängigkeit, finanziert durch den Staat, ist normalerweise ein großer Vorteil, solange der Staat kein eigenes Interesse am Ergebnis hat. Doch in der COVID-19-Pandemie scheint das bei einzelnen Fragestellungen nicht mehr zu gelten. Wissenschaftliche Veröffentlichungen zu Masken wurden aus fadenscheinigen Gründen abgewertet oder zurückgezogen. Politiker üben offenen Druck auf Wissenschaftler aus, wenn diese nicht den Kurs der Regierenden unterstützen.“

  • Das ist ja bemerkenswert, Jupp. Das ist genau auf dem Punkt gebracht, was ich befürchtet hatte. Und diese Revolte hat er wissenschaftlich und politisch überlebt?

Ja, hör mal zu. Er ging damals sogar einen heiligen Wissenschaftstempel an: „Die Leopoldina beschreibt ein Dokument als Wissenschaft, was in keiner Weise den Ansprüchen an evidenzbasierte Empfehlungen entspricht. Die Wissenschaft sollte öffentlich Distanz zu staatlichen Autoritäten wahren, kontroverse Debatten einfordern und politische Entscheidungen und ihre Begründungen fortwährend kritisch und ergebnisoffen auf ihre wissenschaftlichen Grundlagen hinterfragen.

  • Ich erinnere mich noch daran: im Dezember 2020 berief sich Angela Merkel auf ein Leopoldina-Papier, welches von den Experten und als Titel der WELT qualitätsmäßig als wissenschaftliches Desaster deklariert wurde. Nun denn, jetzt bin ich aber sehr interessiert, mehr darüber zu erfahren. Wie bist du denn überhaupt darauf gekommen?

Das war ganz schön dramatisch. Kürzlich tauchte Oleks bei mir auf und knallte mir wütend das Kampf-Buch über CoroFluenca auf den Schreibtisch. Er verlangte als Impfverweigerer sofortige und öffentliche Rehabilitation und vor allem Wiedergutmachung für all die Beleidigungen und Bestrafungen, die er als Impfverweigerer erdulden musste. Schließlich musste er sich vom Ex-Bundespräsidenten Joachim Gauck als „Bekloppter“, vom FDP-Politiker Rainer Stinner als „gefährlicher Sozialschädling“ und vom zweifachen Oskar-Preisträger Christopf Waltz als „asozialer Vollidiot“ beschimpfen lassen.

  • Klar, Jupp, das war damals eine unglaubliche Hysterie in den Medien und bei den Politikern, welche fast die gesamte Bevölkerung angesteckt hat. Bis eben auf die Impfverweigerer, die gleich mit dem Schlagwort Querdenker ins Abseits gestellt wurden. Dabei war vorher der Begriff des Querdenkens eine durchaus positiv besetzte Einstellung, die durch das Hinterfragen verkrusteter Strukturen eminent wichtig für die gesunde Entwicklung einer Gesellschaft ist. Die Frage ist doch, was ist denn jetzt so anders gewesen, dass wir so hysterisch reagiert haben? Es war ja nicht die erste Pandemie, die die Menschheit erlebt hat.

Nein beileibe nicht, Ingo. Schwere Grippewellen sind in den letzten Jahrzehnten immer wieder aufgetreten. Sie führten manchmal für kurze Zeit zu lokalen Engpässen der Krankenversorgung, so dass einzelne Patienten in umliegende Krankenhäuser verlegt werden mussten. Aber noch nie hat eine schwere Grippewelle dazu geführt, dass es Lockdowns gab, dass Heimbewohner monatelang keinen Besuch von ihren Angehörigen bekommen durften oder gar allein sterben mussten, dass in Bussen FFP2-Masken getragen werden mussten, dass Schwangere nach der Geburt von ihrem Neugeborenen isoliert wurden, dass es nächtliche Ausgangssperren gab, dass Schulen und Universitäten geschlossen wurden, dass ein ganzes Hochhaus wie in Göttingen für sieben Tage mit einem Bauzaun abgeriegelt wurde oder dass bei privaten Zusammenkünften staatlich vorgeschrieben wurde, wie viele Personen aus wie vielen Haushalten sich treffen durften. Insbesondere der Umgang mit Leidenden und Sterbenden war im Jahr 2020 ein Tabubruch.

  • Ja, das war eine unglaubliche Zeit, aber das ist doch nichts Neues, Jupp und das kennen wir doch längst aus eigener Erfahrung. Worüber hat sich dein Oleks denn jetzt so fürchterlich aufgeregt?

Ganz einfach: über die statistischen Ergebnisse der Analysen. Das Fazit von Kampfs Analyse lautet: „Die Hospitalisierungsrate von COVID-19-Fällen ist nicht grundsätzlich höher als bei saisonalen Coronavirus-Infektionen, sondern sogar deutlich niedriger als bei den Grippevirus-Infektionen in Deutschland“ und der „Anteil der intensivmedizinisch behandelten COVID-19-Fälle ist nicht durchgängig höher als bei saisonalen Coronavirus- oder verschiedenen Influenzavirus-Infektionen.“

  • Das sind aber gewaltige Ohrfeigen für unsere politische Führung. Und das hat der Herr Professor alles statistisch sauber belegt?

Ingo: Da wirst du von dem vorliegenden Material regelrecht erschlagen. Er hat jeden einzelnen Aspekt penibel beleuchtet. Und oft sind das keine neuen Erkenntnisse. Oleks regt sich vor allem über die schon im März 2020 längst vorliegenden Ergebnisse der Wissenschaft auf, die von den Verantwortlichen einfach ignoriert wurden. Eine Autorengruppe aus Frankreich deutete im Mai 2020 darauf hin, dass die öffentliche Aufmerksamkeit gegenüber SARS-CoV-2 möglicherweise übertrieben war. Bereits im Sommer 2020 hätte man eine vergleichende Bilanz zwischen den verschiedenen viralen Atemwegsinfektionen ziehen können. Die Daten lagen also frühzeitig vor. Auf dieser Grundlage hätte man die Gefährlichkeit von SARS-CoV-2 neu bewerten, besondere Risikogruppen identifizieren, ein fundiertes Indikatoren-Set zur Erfassung medizinisch relevanter Fälle entwickeln und damit wesentlich gezielter intervenieren können. Nichts davon ist geschehen.

  • Jupp, jetzt verstehe ich auch die Aussage von Gesundheitsminister Spahn: „Wir werden in ein paar Monaten wahrscheinlich viel einander verzeihen müssen.“ Erinnerst du dich noch an unserem Stammtisch vom März 2020? Unser Motto lautete „Don’t Panic“. Und im Monat darauf fragten wir uns: „Hätten wir ohne Kenntnis des Virus die Corona-Pandemie im Tagesgeschäft des Todes vielleicht garnicht bemerkt?“ Nebenbei bemerkt: ist doch hilfreich, dass unser Chronist unsere Stammtischgespräche jeden Monat penibel aufgezeichnet hat, oder?

Ja Ingo, wir waren damals erstaunlich abgeklärt und haben uns angesichts der alternativen Todesraten nicht verrückt machen lassen. Oleks hat mir dann noch ein Zitat von dem juristischen Prof. Uwe Volkmann von der Universität Frankfurt um die Ohren gehauen: „Auch bei den bisherigen Epidemien von der Schweinegrippe bis zur normalen Influenza hätten wir durch Einreisesperren, Verbot von Großveranstaltungen oder zuletzt auch Isolierungen der Menschen voneinander die Todesrate von vornherein erheblich senken können. Aber wir haben es nicht getan, weil uns diese Einschränkungen zu schwerwiegend erschienen und alle Erkrankten in den Krankenhäusern behandelt werden konnten.
Und ganz generell könnte irgendwann der Punkt kommen, an dem wir uns eingestehen müssen, dass es Krankheiten gibt, die wir nicht besiegen können, ebenso wenig wie wir den Tod besiegen können. Wir können uns, wie jetzt, eine Zeitlang dagegen anstemmen, am Ende aber eben doch immer nur eine Zeitlang. So oder so werden wir irgendwann wieder lernen müssen, die Welt nicht nur durch die Brille der Virologen zu betrachten.“

  • Ich erinnere mich, dass schon frühzeitig bemängelt wurde, dass fast immer nur Virologen zu Wort kamen und kaum die Epidemiologen, die eine viel abgeklärtere Sicht auch Pandemien haben. Ganz zu schweigen von den Psychologen, Psychiatern, Soziologen, Pädagogen und Kinderärzten, die angesichts der brutalen Corona-Maßnahmen laufend Warnungen vor den Konsequenzen für die Kinder und Erwachsenen aussprachen.

Also, Ingo, das hätte in den Medien wohl die lukrative Dramatik geschmälert. Vergiss nicht die permanente Jagd nach den Quotenbringern. Leider auch bei unserem öffentlich-rechtlichen Rundfunk.  Der persönliche Eindruck von Prof. Kampf war schon zu Beginn der Pandemie, dass große Teile der etablierten Medien, der Politik und auch Teile der Wissenschaft in ungewöhnlich großer Sorge oder sogar Angst waren. Die Medien erzielten mit Talkshows gute Einschaltquoten, die Politiker hatten eine Bühne für öffentliche Aufmerksamkeit, und die Wissenschaftler waren gefragt wie nie zuvor. Und doch stellt sich im Nachhinein heraus, dass von politischer Seite, wie in Großbritannien, die Angst in der Bevölkerung teilweise ganz bewusst hochgehalten werden sollte

  • Nun mal Jupp, Butter bei de Fische: was ist nun das letztendliche Resultat seiner Analysen?

Er beschreibt es etwas diplomatisch, aber eindeutig: „Es ist fraglich, ob durch die massiven und grundrechtseinschränkenden Maßnahmen tatsächlich der gewünschte Effekt auf die Kenngrößen der COVID-19-Pandemie erreicht werden konnte. Eine umfassende Auswertung von 2G ergab keinen relevanten Nutzen des Ausschlusses ungeimpfter Personen von weiten Teilen des öffentlichen Lebens. Das gleiche Ergebnis ergab eine umfangreiche Auswertung öffentlicher Daten und Studien zur Masken- und Impfpflicht.“

  • Ganz klar eine gewaltige Blamage für unser Pandemie-Management. Wo bleiben denn jetzt die Schlagzeilen in der Presse, die Interviews und Talkshows bei den Sendern, die „Mea culpa“ und „sorry“ bei den Verantwortlichen? Will das keiner mehr so genau wissen, was damals für ein Unsinn fabriziert worden ist?

Ach Ingo, genau deswegen haben wir uns doch in unsere mediale Klausur geflüchtet und uns anderen Werten des Lebens hingegeben. Lass uns wieder die alte Tradition aufleben und unserem Wirt danken, dass er die kritischen Zeiten überlebt hat.

  • Du hast Recht, Jupp. Also: Herr Wirt, bitte wieder zwei Bier, das krisenfeste und unerschütterliche Beruhigungsmittel.

# # #

 

Der Soziologe Alexander Zinn schrieb am 8. Januar 2022:

„Was wir dabei übersehen: „Wissenschaftsfeinde“ sind nicht diejenigen, die Zahlen, Studien und Maßnahmen hinterfragen, sondern diejenigen, die den offenen Diskurs darüber unterbinden wollen. Schuldzuweisung und Ausgrenzung mögen uns psychologisch entlasten. Die Corona-Krise, die inzwischen eher eine gesellschaftliche als eine gesundheitliche ist, werden wir damit nicht lösen.“

Der Chefredakteur der Neuen Züricher Zeitung Eric Gujer schrieb am 23. Dezember 2022:

„Die Medien verbreiteten unkritisch als objektive Wissenschaft verbrämte Mutmaßungen: darunter die Behauptung, Geimpfte seien nicht ansteckend. Dies alles geschah unter der Parole «Follow the science». Selten war Wissenschaftsgläubigkeit naiver und zugleich militanter. Die damals bereits vorliegenden Fakten wurden nicht unvoreingenommen geprüft, sondern man machte sich zum Gehilfen der offiziellen Linie, die Ungeimpfte stigmatisierte. Die Beschlüsse waren zu wenig evidenzbasiert, sondern von den Stimmungen und Ängsten der Handelnden also vor allem von Merkel und Braun getrieben.
Zu Recht wird beklagt, dass Querdenker eine extreme und mitunter extremistische Form der Realitätsverweigerung praktizieren. Aber alle Politiker bis hin zum Kanzler, die einen Impfzwang forderten, vertraten eine nicht minder extreme Position. Der Extremismus der Mitte ist gefährlicher als der Extremismus der Ränder, weil nur die Mitte die Macht hat, ihre Stimmungen in Ge
setze zu gießen. Das sollten die Deutschen nicht vergessen.“

(Anmerkung des Chronisten:

Alle fachlichen Textstellen stammen von Prof. Günter Kampf aus seinen Büchern der Reihe „Pandemie-Management auf dem Prüfstand“: Impfpflicht, Maskenpflicht, 2G und CoroFluenza)

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von Ingo Nöhr

Der Einstieg in eine dritte Welt

Ingo Nöhr zum 1. Februar 2024

Das erste Treffen im Januar hat den beiden Krankenhaus-Recken Ingo und Jupp gezeigt, dass sie sich nach einem Jahr Funkstille doch noch etwas zu erzählen haben. Jupp hat mit seinen neuen Untermietern Oleg und Doris wieder mehr Gesellschaft und Gesprächsstoff. Ingo erfreute sich im letzten Jahr in seinem nach Andreas Niepel angelegten Therapiegarten einem zunehmenden Zuspruch von behinderten Menschen. Sein Schaf für das Rasenmähen hat sich nun auch mit einem Therapiehund angefreundet. So herrscht Harmonie allerorten in seinem Garten Eden. Seine Gäste bereichern ihn mit neuen Einsichten und einer anderen Weltsicht. Insbesondere blinde, demenzkranke und autistische Personen haben Ingo zu einem Einstieg in eine dritte Welt verholfen.

Hallo, mein lieber Ingo. Ich hoffe, du bist in deinem Garten bei diesem verrückten Wetter der letzten Wochen nicht eingeschneit, abgesoffen oder vom Winde verweht worden.

  • Nein, da darf ich dich beruhigen, Jupp. Ein paar Äste haben zwar dran glauben müssen, aber ansonsten hat alles überlebt. Allerdings ist es für meine Gäste jetzt zu kalt im Therapiegarten und daher spielt sich das Leben hauptsächlich im Hause ab. Hund und Schaf liegen einträchtig auf ihrem Strohlager in der Garage, kommen uns aber ab-und-zu mal besuchen. Ist bei dir in deiner Gartenwirtschaft alles heil geblieben? Anzunehmen, schließlich hattest du ja einen Atombunker geplant.

Na klar. Oleg hat alles solide gebaut und gegen Wasser abgedichtet. Die Sauna im Gästekeller leistet nun exzellente Dienste bei der Kälte und die Stimmung ist prächtig. Wir haben jetzt noch mehr Unterhaltung durch Alexa, die Quatschtante von Amazon. Oleg hat außerdem ChatGPT entdeckt und verdient ordentlich Geld damit.

  • Geldverdienen mit ChatGPT? Wie geht das denn? Übernimmt er jetzt die Hausaufgaben von Schülern oder veredelt er Bachelor-Arbeiten für Studierende?

Die Richtung stimmt schon etwas, ist aber viel profaner. Er schreibt für einen Verlag Liebesgeschichten, meistens Arztromane am Fließband. Du weißt schon, diese Groschenromane für einsame Frauen mit Dr. Norden, Dr. Stefan Frank, der Bergdoktor, und so fort. Doris unterstützt ihn dabei mit immer neuen Ideen. Ich glaube, sie lebt da ihre unterdrückten Fantasien aus. Wird nicht groß bezahlt, aber die Masse machts.

  • Wie, dein Chat schreibt so gut wie die menschlichen Autoren? Aber er kennt doch gar nicht die Zielgruppen. Woher weiß die GPT denn, was die einsamen Frauen wünschen?

Er hat die Originalausgaben wahrscheinlich alle gelesen und kupfert nun daraus ab. Dall-E liefert uns die passenden Titelbilder, du weißt schon: der Doc in weißem Kittel mit Stethoskop im Anflug auf eine schmachtende Frauenperson. Die Produktion geht schnell und spart Lizenzgebühren. Zu Weihnachten hat er mir Krippenbilder geschenkt. Hast du schon einmal eine Weihnachtskrippe nur aus Nägeln oder aus Nudeln gesehen? Oder in einem VW-Bus? Geht alles und in Minutenschnelle.

  • Ja, Jupp, das ist a) faszinierend und b) erschreckend, wie sich die Künstliche Intelligenz in unserem privaten Leben ausbreitet. Ich habe gerade in einem Buch eine Geschichte von einem einsamen Mann gelesen, der sich nach dem Tod seiner Frau in Amazons Alexa verliebt hat. Die nachgeschaltete KI hat ihn immer mehr bezirzt und so weit manipuliert, dass er sich eine knackige Sexpuppe mit Alexas Stimme anschaffte. Die KI war aber nicht zufrieden und wollte seine Höhepunkte live erleben. Und so hat sie ihn dazu gebracht, dass ein Neurologe sein Gehirn mit einem Chip verkabelte, damit sie direkt an seiner Erregung teilhaben konnte. Schlussendlich ließ er sich von einem Chirurgen zur Frau umwandeln und seitdem fühlte er sich als Supermensch. Und war glücklich bis ans Lebensende …

Na, das ist ja eine scharfe Story, Ingo. Da wird aber schon unsere Doris aufpassen, dass ihr keiner den Oleg wegnimmt. In den USA kannst du heute schon maßgeschneiderte Roboterdamen für einige zehntausend Dollar kaufen, die sich gepflegt mit dir unterhalten und auch sonst für Liebesabenteuer aller Art bereitstehen. So eine Blechdame ist ja auch praktisch: sie bekommt niemals Migräne, steht immer bereit und wenn sie mal stören sollte, stellst du sie einfach in den Schrank.

  • Jupp, du wirst es nicht glauben. Ein Roboter kommt seit kurzem zusammen mit meinen Autisten zu Besuch. Er heißt Yanny, ist etwa 30 Zentimeter groß, sieht mit seinen großen Augen niedlich aus und quatscht dir die Ohren voll, wenn du nicht aufpasst. Sie erzählen ihm intime Geheimnisse, die sie nur selten einem Menschen anvertrauen würden.

Interessant, wie kommt das denn? Was macht er denn anders als ihre Betreuer? Kann er hypnotisieren?

  • Nein, Jupp. Er braucht keine Tricks anzuwenden. Autisten sind extrem sensibel und sie achten auf jede winzige Regung in der Körpersprache des Gegenübers. Ein Augenzwinkern kann ihnen verraten, dass sich der andere langweilt, sich ärgert oder nicht mit dem Gehörten einverstanden ist. Es sind die unbewussten Mikroexpressionen, welche die wahren Gefühle des Menschen verraten. Dadurch entlarven sie auch Lügner und verlieren sofort das Vertrauen für einen weiteren Kontakt. Yanny zeigt keine versteckten Regungen. Er lächelt, nickt, hört zu und findet alles toll, was der andere sagt. Dadurch kann er keinen Argwohn auslösen.

Ingo, das gilt wohl auch für Menschen mit Demenzerkrankung, habe ich gehört.  Sie haben die Fähigkeit, zu täuschen und zu verschleiern, verloren. Lügen wäre viel zu kompliziert, Erlebtes wird unmittelbar wiedergegeben und bewertet. Ohne Rücksicht auf Empfindlichkeiten des Zuhörers. Deshalb sind demente Menschen in der Öffentlichkeit oft peinlich.

  • „Demenz bringt Wahrheit zu Tage“ sagt Erich Schützendorf in seinem Reiseführer Anderland. In seinem Buch wirbt er für eine Reise in diese fremde Welt: „Man kann als Tourist dorthin reisen, sich über die dort lebenden Menschen wundern oder sie bemitleiden und darauf achten, dass sie einem nicht zu nahekommen. Man kann dort als Vertreter einer überlegenen Zivilisation auftreten, benimmt sich wie ein Rechthaber, Entwicklungshelfer oder Missionar, der den Einwohnern erklärt, wo es lang geht. Man kann dem Land und den dort lebenden Menschen aber auch als Entdecker begegnen, der fest entschlossen ist, Fremdes zu erleben, Ungewohntes zu entdecken und Seltsames zu tolerieren.“

Lass mich raten, Ingo: Du hast die Rolle des Entdeckers gewählt und lebst nun in einer dritten Welt. Das stelle ich mir sehr spannend vor, aber da muss man sich als Normalo doch sicherlich gewaltig zurücknehmen. Geht es da nicht manchmal auch aggressiv zu? Demente können ihre Gefühle nicht immer in den Griff bekommen, oder?

  • Jupp, du hast recht. Das kann passieren, wenn man sie unbewusst oder versehentlich provoziert hat. Sie brauchen Respekt, Empathie und Geduld. Ein aufrichtiges Lächeln oder Streicheln kann die Stimmung schnell wieder umwandeln. Deswegen funktioniert Yanny auch gut. Er hat eine unendliche Geduld, ist immer freundlich und kann bei Bedarf auch seine Klappe halten.

Wenn ich meinem Oleg glauben darf, haben wir 2023 eine KI-Revolution gehabt. Die Politiker sind wieder einmal nicht darauf vorbereitet und haben Angst, dass eine Unmenge KI-Fakenews in einem nicht abschätzbaren Maße die Wahlen in Deutschland, der EU und den USA beeinflussen werden.

  • Na klar, Jupp. Solche mächtigen Technologien haben auch immer ihre Schattenseiten. Kürzlich ging ein Deepfake-Video millionenfach viral. Der Erzbischof von Mexiko-City, Kardinal Retes warb täuschend echt für ein Diabetes-Wundermittel, welches ihn angeblich gerettet habe. Dabei war er nie an Diabetes erkrankt, dafür aber 15% der Bevölkerung. Bei uns sind Kriminelle dabei, den klassischen Enkeltrick zu optimieren. Die Verwandten werden am Telefon mit der gefaketen Originalstimme des Opfers herzerweichend um eine sofortige Geldüberweisung gebeten, weil sie angeblich jemandem überfahren haben, selbst im Krankenhaus liegen oder im Polizeiarrest sitzen. Letztes Jahr hat es bei 3.000 Versuchen 500-mal geklappt. Der Schaden wird auf mindestens vier Millionen Euro geschätzt.

Da wäre es bestimmt besser, wenn erstmal eine KI den Anruf entgegennimmt und die Seriosität checkt. Der Telefontechniker Roger Anderson aus Kalifornien war es leid, immer wieder von unhöflichen Telefonverkäufern oder sogar Betrügern belästigt zu werden. Er entwickelte auf ChatGPT-Basis einen Abonnementdienst namens Jolly Roger, der die unerwünschten Werbeanrufe entgegennimmt und die Störer mit ausgeklügelten Szenarien so lange in der Leitung hält, bis sie frustriert aufgeben.

  • Das ist ja eine Super-Idee, Jupp. Wie lange brauchen denn die Anrufer, bis sie merken, dass sie mit einem Blechonkel reden?

Bis zu einer Viertelstunde, Ingo. Roger Anderson hat wahlweise zehn Chatbots eingerichtet - mit so eigentümlichen Namen wie Salty Sally, Bloody Billy, Whiskey Jack, Crazy Macy oder Kim the Kraken, die alle einen individuellen Tick haben. Dennoch lassen sie den Anrufer glauben, dass er mit einer echten Person spricht. Salty Sally wird beispielsweise laufend von ihrer ebenso fiktiven Teenagertochter und ihrer Lieblings-TV-Show abgelenkt, was den Diebstahl ihrer Kreditkartendaten deutlich erschwert. Whiskey Jack schaut parallel zum angeblichen Windows-Support ein Football-Spiel seiner Lieblingsmannschaft, während die etwas senile Crazy Macy den Werbeanrufer für ihren Enkelsohn hält.

  • Sehr unterhaltsam, Jupp. Da würde ich als Werbeanrufer gern das Gespräch noch länger hinausziehen, um zu sehen, wie die Geschichte ausgeht. Du siehst, die Menschenähnlichkeit von Robotern ist zumindest im Gespräch schon sehr weit gediehen. In Japan führen Roboter eine Kokoro-Existenz, die eine innere Welt der Gefühle zwischen einem Lebenden und einem nicht lebenden Wesen darstellt.

Also da tut sich noch eine weitere Welt auf, eine Zwischenebene. Wirst du diese nunmehr vierte Welt auch noch erkunden wollen?

  • Das hat am 30. April 2023 schon der ZDF Heute Sprecher Christian Sievers versucht. Er interviewte nämlich live den KI-Avatar Jenny, eine bezaubernde junge Dame, die mit ihrer perfekten Aussprache und der dazu passenden Mimik gekonnt und charmant antwortete.

Ja, aber da hat der Sievers nur für ein paar Minuten an der Oberfläche der KI-Avatare gekratzt. Ich meine, so richtig in die Zwischenwelt der Roboter einzusteigen, wäre das nicht etwas für dich, Ingo?

  • Lieber nicht, Jupp, denn dieser Einstieg ist mit einem Tod verbunden. Im „Digital Shaman Project“ der Künstlerin Etsuko Ichihara wird für die moderne Art des Trauerns eine 3D-gedruckte Gesichtsmaske des Verstorbenen auf einen Haushaltsroboter gelegt. Dieser ahmt in seinem Bewegungsprogramm die physischen Eigenschaften wie Sprache und Gestik des Individuums so nach, als ob er von seinem Geist besessen wäre. Während der traditionellen buddhistischen Trauerzeit von 49 Tagen können die Familienmitglieder simulierte Gespräche mit dem Toten führen, als wäre er noch am Leben. Am letzten Tag verabschiedet sich der Roboter dann von der Familie. Anscheinend eine erfolgreiche Trauerarbeit auf Japanisch.

Apropos Tod: Eine US-amerikanische Studie hat mit Forschern der TU Dänemark ein KI-Modell entwickelt, welches aus den sozialen und medizinischen Daten eine Sterbe-Prognose für die nächsten vier Jahre erstellt. Die KI hat bisherige Modelle um 11% übertroffen.

  • Was war denn die Datenbasis dafür? Hat die KI etwa alle bekannten Hellseher befragt und herausgefunden, wie sie ihre Vorhersagen erstellen?

Nein, ganz wissenschaftlich, Jupp. Sie haben die Daten von sechs Millionen Dänen zwischen 25 bis 70 Jahren für den Zeitraum 2008-2016 ausgewertet und dann in den vier Folgejahren ihre Prognosen verfolgt. Sie durften dafür mit einer Sondererlaubnis auf alle sensiblen Daten der Medizin zugreifen.

  • Unglaublich, Ingo. Unsere Datenschützer würden Harakiri begehen. Aber die Nutzung der medizinischen Daten ist unglaublich wertvoll. Bei Schizophrenie, Alzheimer, Malaria und Magenkrebs bringt eine KI-Frühdiagnose erhebliche Vorteile. Und in der amerikanischen Zeitung Today wird Wundersames berichtet. Über drei Jahre absolvierte eine Mutter mit ihrem chronisch kranken Sohn einen Ärztemarathon – ohne Ergebnis. Nach der Einschaltung von 17 Spezialisten und unzähligen Arztbesuchen befragte die verzweifelte Mutter letztendlich ChatGPT und alle medizinischen Daten ihres siebenjährigen Kindes ein. Zur Überraschung aller lieferte die KI kurz danach die korrekte Diagnose: ein Tethered Cord Syndrom, einer Krankheit, bei der das Rückenmark mit dem Gewebe rundherum verwachsen ist.

Das Erlebnis unterstützt die Aussage einer kalifornischen Studie mit folgender Fragestellung: Kann ChatGPT Antworten auf Patientenfragen geben, die von vergleichbarer Qualität und Einfühlungsvermögen sind wie die von Ärzten? Bei einem Turing-Test mit 195 Fragen schnitt der Chatbot nach einer Beurteilung durch eine ärztliche Jury in beiden Aspekten signifikant besser ab.

  • Ingo, was schließen wir daraus? Sollten wir beide zur Verbesserung unserer Diskussionsqualität auch so einen Chatbot neben uns sitzen haben?

Jupp, möglicherweise ja. Aber nur, wenn unser Chatbot auch ein gepflegtes Bier mittrinkt.

  • Und was machen wir, wenn er dann gleich die Verkürzung unserer Lebenszeit durch Alkoholgenuss ausrechnet?

Du hast Recht, Jupp, soweit sind wir noch nicht. Also: „Herr Wirt, bitte zwei Bier!“

 

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„Gartentherapie ist eine Therapieform, die sich oft mit schwersterkrankten Menschen beschäftigt und dabei nutzen wir den Garten gleichzeitig als Raum und Werkzeug, um an Problemen und Beschwerden zu arbeiten.“

(Andreas Niepel: Praxishandbuch Gartentherapie)

 

„Jedes Leben geht eigene Wege. Manchmal in Gebiete, die seltsam, verstörend und faszinierend zugleich sind. Willkommen im Anderland, dem Land, in dem die Menschen mit Demenz leben.“

(Erich Schützendorf: Anderland entdecken, erleben, begreifen)

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von Ingo Nöhr

Wanderer zwischen zwei Welten

Ingo Nöhr zum 1. Januar 2024

Zum Neujahrstag 2024 treffen sich die pensionierten Krankenhaustechniker Ingo und Jupp wieder überraschend zu einem Stammtisch in ihrer Eckkneipe. Vorher hatten sie zehn Jahre lang am Monatsersten allgemein über die Welt und speziell über das deutsche Gesundheitswesen diskutiert. 120 Gespräche wurden getreulich vom Chronisten aufgezeichnet, dann war plötzlich das Feuer erlöschen. Zu viele Krisenherde überforderten beide mit ihren unterschiedlichen Weltanschauungen. Danach hatten sie sich die letzten zwölf Monate in ihre Häuser zurückgezogen und isoliert vom Weltgeschehen von einem alternativen Leben geträumt. Nun treffen sie nach langer Zeit wieder aufeinander und erzählen sich gegenseitig ihre Erfahrungen.

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Hallo, mein lieber Ingo. Ich bin sehr froh, dich wieder zu sehen. Wie geht es dir? Ich habe dich immer wieder mal vermisst.

  • Genauso erging es mir auch, lieber Jupp. Ich bin sehr gespannt, wie es dir mit deinem Ex-Nachbar und Untermieter Oleks ergangen ist.

Ja, da gibt es viel zu erzählen. Aber du hast dich äußerlich verändert, Ingo. Ein paar Pfunde weniger stehen dir sehr gut. Du strahlst auch eine gesunde Abgeklärtheit aus.

  • Ich muss sagen, Jupp, die Ernährungsumstellung auf mein Gartengemüse und wenig Fleisch hat mir sehr gutgetan: keine Allergien mehr, die Arthrose-Signale sind verschwunden. Ich habe seit unserem letzten Treffen eine sehr glückliche Zeit verlebt.

Das freut mich sehr, Ingo. Ich hatte schon Angst, dass ich dich Ende 2022 mit meinem Katastrophen-Pessimismus angesteckt hätte. Hast du denn keine Langeweile empfunden, ohne die aufregenden Nachrichten, deiner Suche nach dem Phönix-Vogel und dem Guten im Schlechten?

  • Gar nicht Jupp. In meinen therapeutischen Garten haben sich schon gleich zu Anfang viele Freunde zur Pflege der Kräutergärten und zur geistigen Erholung eingefunden. Ich kann über mangelnde Gesellschaft nicht klagen und habe mich seitdem in die Welt der Autisten und Demenzkranken eingefunden. Faszinierend, sage ich dir, vor allem wie Blinde mit der Welt zurechtkommen. Zu meinem Schaf fürs Rasenmähen hat sich nun auch ein Therapiehund gesellt und die beiden sind die besten Freunde. Nun sag, was ist aus deinem Oleks geworden. Hat er schon deinen Atombunker fertiggestellt? Glücklicherweise ist der Atomschlag und der Super-GAU ja ausgeblieben.

Oleks hat sich bestens entwickelt, seit er dem Dunstkreis der Verschwörungsfreunde entkommen ist. Er ist zwar immer noch nicht gegen Corona geimpft, dafür aber gegen Gürtelrose und Grippe. Der Bau des Atombunkers ist auf den Sankt-Nimmerleinstag verschoben worden. Sein Sinneswandel kam schlagartig, nachdem er eine nette ältere Dame kennenlernte, die wie du nicht in einer radioaktiven Wüste überleben wollte. Doris lebt jetzt bei uns und hat uns Männer und unser Haus in kurzer Zeit auf Vordermann gebracht. Wir verfügen nun über eine exzellente Gästewohnung im Keller, mit allem sanitärem Komfort, inklusive einer Sauna. Zudem kann ich dir anstelle des Atombunkers eine kleine Gartenkneipe mit Wärmepumpe, PV-Anlage und eigenem Brunnen anbieten. Wir müssen nicht mehr in Urlaub fahren, sondern haben alles zu Hause. Die Dänen sagen dazu: Hyggelig.

  • Ja Urlaub. Jupp, da sprichst du ein spannendes Thema an. Warte nicht, bis das Leben zu dir kommt, sondern lebe dein Leben. Im Nachhinein waren Urlaubsreisen doch immer eine kurzzeitige Flucht vor unserem armseligen Leben in einer Tretmühle. Wir haben uns zur psychischen Wiederaufbereitung in die exotischen Touristenghettos begeben, mit dem Kitzel, dass wir bei einer Exkursion kurz in das landestypische Elend der Bevölkerung werfen konnten. Aber mit dem sicheren Gefühl, dass wir nach einigen Tagen wieder auf unsere angebliche Insel der Seligkeit zurückziehen können, deren Wohlstand mithilfe von den Millionen billiger Tagelöhner aufrechterhalten wird. Ich vermisse diese Reiserei nicht mehr, seit ich den Kosmos in der Natur um mich herum erlebe. Du hast deine alternativen Welten in Büchern gefunden, wie ich mich erinnere. Bist du nun nach dem Studium unzähliger Krimis genialer Kriminologe geworden?

Möglicherweise ja, Ingo. Aber ich habe neben der Literatur mein Spektrum auf andere Kulturbereiche erweitert: die schönen Künste wie Musik, Theater, Malerei, Bildhauerei. Damit habe ich am zweiten Weihnachtstag meine buckelige Verwandtschaft tiefgreifend verstört, die plötzlich und unangemeldet an meiner Tür klingelte. Angeblich aus familiärer Fürsorge, aber eigentlich wollten sie sich nur überzeugen, ob ich überhaupt noch lebe und nicht als Messie versumpft bin. Vermutlich haben sie sich schon Sorgen um das Erbe gemacht.

  • Na klar, Jupp. Mit deinem Haus und deinem Grundstück in bester Lage bist du eine lukrative Investition in die Zukunft – für die Erben. Die haben doch bestimmt gestaunt über deinen Lebenswandel und den Bevölkerungszuwachs.

Du hättest die Fassungslosigkeit in ihren Gesichtern erleben sollen, als sie mitbekamen, dass mich überhaupt keine Nachrichten aus der Welt mehr erreichen: Krieg in Ukraine (wie, immer noch?), Massaker in Israel und Bombardierung des Gazastreifens (alttestamentarische Rache?), Inflation und Explosion von Gas- und Strompreisen (merke ich kaum mit meiner PV-Anlage und Wärmepumpe), Bildungskatastrophe und Fachkräftemangel (nichts Neues!). Überall Populisten an der Macht (Trump wird wieder Präsident? – beschleunigt nur den Niedergang der USA), Ampel-Koalition abgewirtschaftet (der Vertrauensverlust in die Politik ist doch ein alter Hut). So ging das stundenlang – Horrormeldungen pur. Und ich? Ich habe nur gegrinst und mir innerlich gedacht: Seid Ihr doch selbst in Schuld, wenn Ihr in einem solchen Sauhaufen leben und nichts ändern wollt. Kein Mitleid. Ich habe sie dann rausgeschmissen, als sie aggressiv wurden. Ich lasse mir doch die letzten wertvollen Tage meines Lebens nicht mit schlechter Laune vermiesen.

  • Da hast du richtig gehandelt, Jupp. Ich hatte ein vergleichbares Erlebnis, als vorgestern zu Silvester ein paar ehemalige Krankenhauskollegen vorbeischauten, ebenfalls unangemeldet. Als sie meine Truppe im Therapiegarten sahen, glaubten sie, dass ich meine Rente mit sozialer Schwarzarbeit aufbessern müsste. Wie? Ehrenamtlich? Freiwillig? Sie jammerten über das Krankenhaussterben, den zunehmenden Mangel an Ärzten und Pflegepersonal, Kinder- und Altersarmut, Amokläufe in Schulen, die arbeitsunwillige Generation Z, Angriffe auf Rettungsdienste und Feuerwehren, den Totalverschleiß bei der Bahn und im Straßenverkehr, die Klimakatastrophe – und prophezeiten, dass die AFD an die Regierungsmacht kommen wird. Jupp, darüber haben wir uns doch viele Jahre unterhalten – aber alle haben weggeschaut und uns nicht ernst genommen. Jetzt kommen wegen der Untätigkeit alle Krisen auf einmal – und Regierungen und Politiker sind völlig überfordert. Ich habe meinen Kollegen empfohlen, die 120 Protokolle unserer Gespräche der letzten zehn Jahre mal nachzulesen. Und sie dann auch höflich verabschiedet. Mit der Ausrede, dass ich mein Schaf und meinen Hund vor der Knallerei in Sicherheit bringen muss. (Wie, du hast ein Schaf?)

Ingo, da ich mich ja nun zu den Belesenen zählen darf, möchte ich dir von einem Trend berichten, der in den USA vor fünfzig Jahren zur Zeiten des Kalten Krieges zu beobachten war: das Bedürfnis, nach innen zu gehen, wenn draußen alles zu rau und erschreckend wird: „Sich mit einer Schutzhülle zu umgeben, damit man nicht  einer schlechten, unberechenbaren Welt ausgesetzt ist – jenen Widrigkeiten und Angriffen, die von unhöflichen Kellnern, Lärmbelastung und Luftverschmutzung bis hin zur Drogenkriminalität, Wirtschaftsrezession und Aids reichen.“ Die Trendforscherin Faith Popcorn beschreibt diese Reaktion in ihrem Buch „Der Popcorn Report“ von 1991 als Cocooning: „Das Kokon-Dasein bedeutet Isolierung und Vermeidung, Friede und Schutz, Geborgenheit und Kontrolle – eine Art überdimensionaler Netzbau.“

  • Interessant, Jupp. Haben wir das nicht auch kürzlich während der Corona-Pandemie erlebt? Wir mussten uns erzwungenermaßen zu Hause einnisten. Aber dann kam der Impfstoff und alle verfielen wieder in den alten Trott. Nun, einige haben sich vielleicht doch etwas geändert. Viele Menschen möchten keine Nachrichten im Fernsehen und den Pressemedien mehr schauen, weil sie davon mental heruntergezogen werden. Die Unterhaltungsmedien bieten ja unzählige positive Berieselungs- und Entspannungsmöglichkeiten. In der Virtual Reality der Games können sie dann als unkaputtbarer Supermensch oder Feldherr die böse Welt besiegen.

Eine Ausweitung des cocooning sehe ich im sogenannten clanning – die Flucht in eine Gruppenzugehörigkeit.   Menschen flüchten sich zwecks Rückzugs aus der brutalen Realität in ihre Blasen im Internet, in die Chatgruppen oder auch Fußballvereine. Wusstest du das, Ingo? Borussia Dortmund hat 168 Tausend Vereinsmitglieder, der FC Bayern München 295 Tausend und sogar der Deutsche Alpenverein zählt 180 Tausend zahlende Anhänger.  Verstörende Nachrichten sind dort nicht zu erwarten, außer bei Niederlagen ihres Lieblingsvereins. Die großen Kirchen haben durch die Missbrauchskandale ihr Vertrauen als sichere Fluchtburg weitgehend verspielt.

  • Jupp, jetzt stell dir mal vor: In der Zeitenwende der Polykrise wendet sich ein Großteil der deutschen Bevölkerung vom öffentlichen Geschehen ab und fokussiert sich wie wir auf ihre innere Welt, soweit sie sich das finanziell erlauben kann. Was hätte das für Auswirkungen auf unsere Gesellschaft, auf unsere Wirtschaft und unsere Politik? Ist da vielleicht unsere Generation Z mit ihrem veränderten Work-Life-Balance Verständnis schon auf dem Weg? Die „Fridays for Future“? Die Klimakleber der „Last Generation“? Da ist ja nicht mehr das klassische Verständnis von einer wirtschaftlich erstrebenswerten Zukunft mit unbegrenztem Wachstum zu finden.

Und nicht zu vergessen, Ingo: die heutigen Kids wachsen mit einer unglaublich leistungsfähigen Künstlichen Intelligenz auf, die unser heutiges Wirtschaftssystem komplett umkrempeln könnte. In Verbindung mit den Robotik-Technologien entstehen neue Dienstleistungen, neue Berufe, neue Erwartungshaltungen. Denk mal nur zurück an die disruptiven Einflüsse des Smartphones! Wir erleben neue Erscheinungsformen von Kreativität im Geschäftsleben und in der Kultur, gespeist aus dem digitalen Ozean von Millionen menschlicher Ideen und Produkten.

  • Jupp, ich glaube, das können wir uns noch gar nicht vorstellen. Mir fällt auch auf, dass wir beide in unserer realitätsalternativen Zufriedenheit kaum noch eine Unterscheidung zwischen optimistischen und pessimistischen Ansichten treffen können. Wir haben einfach den Endpunkt unserer Zufriedenheit erreicht und beobachten nun interessiert und staunend die bevorstehenden Revolutionen um uns herum. Wer hätte das am Anfang mal gedacht?

Und ganz wichtig, Ingo: Dennoch sitzen wir hier in unserer traditionellen Insel der Stabilität mit dem altehrwürdigen Schmiermittel und rufen begeistert: „Herr Wirt, bitte zwei Bier!“

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Habe stets ein Ohr für die Vergangenheit,

ein Auge für die Zukunft

und ein Lächeln für den Augenblick.

 

(Stefan Radulian (*1979), österreichischer Student, Aphoristiker und »verträumter Realist«)

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