„Booh, das hätten wir mal wieder geschafft. MEDICA in drei Tagen.“ Mit wundgelaufenen Füssen haben Jupp und ich uns wieder in unserer Eckkneipe eingefunden, um eine erste Rückschau zu halten.
„Hast du das gelesen, Ingo? Gigantisch, nicht wahr: 130.000 Besucher aus 120 Ländern. Wieviel Hallen hast du denn geschafft?“
„Na ja, so riesig ist die MEDICA eigentlich nicht, verglichen mit anderen Messen. Die IAA, die CeBit und die Frankfurter Buchmesse sind mindestens doppelt so groß. Und die Grüne Woche in Berlin lockt sogar dreimal soviel Besucher an. Aber ich gebe dir recht, die Hallen der MEDICA sind in drei Tagen nicht zu bewältigen. Bei den 4.600 Ausstellern hast du weniger als 20 Sekunden Zeit, um jeden Stand zu besuchen.“
Der regnerische Novemberabend hatte bei Jupp eine schwere Depression ausgelöst. Mit Grabesstimme und trübseligem Blick empfing er mich zu unserer allwöchentlichen Sitzung in der Eckkneipe. „Mensch Jupp, was ist denn mit dir los?“ –
„Ich glaube, wir Medizintechniker gehören einer aussterbenden Art an. Vorbei sind die seligen Zeiten, wo wir Medizingeräte noch selbst repariert oder verbessert haben. Damals konnten wir alle noch die physikalische Funktionsweise und den direkten Nutzen für den Patienten nachvollziehen. Und heute …? Wer weiß, wo das in zehn Jahren noch hinführen wird.“
„Der Ball ist jetzt im Spielfeld!“ Jeder interviewte Politiker befand sich in der Wahlnacht wohl auf einem Fußballplatz, so oft wurde dieser Satz zitiert. „Nun ja, in den Tagen danach entpuppten sich die Bälle als Köpfe, die nun dahinrollen.“ Bei unserem traditionellen Bier in Jupps Eckkneipe analysieren wir mit gemischten Gefühlen den Ausgang der Bundestagswahl.
„Kannst du dir heute eine Stadt ohne Verkehrsschilder und Ampeln vorstellen?“ Jupp eröffnete unser aktuelles Treffen in seiner Lieblingskneipe wieder mit einer interessanten Frage. Aber so leicht ließ ich mich nicht irritieren: „Na klar, schau doch mal in Indien oder Afrika auf die großen Plätze. Da fährt alles durcheinander: Autos, Eselskarren, LKWs, Fahrräder, Busse, Mopeds und mittendrin die Fußgänger und Karrenschieber. Ohne Spurlinien, Vorfahrtsschilder, Ampeln oder irgendeine Verkehrsregelung.“
Beim letzten Treffen in unserer Eckkneipe zum regelmäßigen Erfahrungs- oder besser gesagt Frustrationsaustausch war Jupp wieder stimmungsmäßig aufgeladen. „Stell’ dir vor, Ingo. Gestern erhielt ich einen Anruf aus unserem Klinikum. Ich bin zwar pensioniert, aber für Notfälle habe ich eine Geheimnummer hinterlegt.“
„Das ist aber sehr edel von dir. Und wie oft bist du schon angerufen worden?“ fragte ich zwischen zwei Bissen meines exzellenten Rindersteaks.
„Ingo, ich brauche Deine Verstärkung im Kampf gegen die Scharlatane. Komm mal schnell vorbei!“
Diesem dringenden Notruf von Jupp auf meiner Handy-Mailbox konnte ich nur widerstrebend Folge leisten, da ich selbst gerade ein Gerät der Bioresonanztherapie zerlegte, um dem Geheimnis der sechsdimensionalen Hyperwellen auf die Spur zu kommen. Dabei durfte ich auf keinem Fall den Elektronen-Plasma-Strömen in die Quere zu kommen, da sie bei einer falschen Handhabung die Umpolung meiner pathologischen Körperschwingungen in ein harmonisches Gesundheitsfeld hinfällig machen. Vielleicht hätte ich mir doch besser den Medea 7 Orgonstrahler vorgenommen, der ohne Akku und Netzkabel auskommt.
In der Nacht klingelt mein Telefon. Am anderen Ende meldet sich ein total frustrierter Mensch mit den alkoholtypischen Artikulationsschwierigkeiten: „Nur Freunde, die man morgens um vier Uhr anrufen kann, die zählen!“ entnehme ich dem Genuschel. Da scheint ein Notfall vorzuliegen und angesichts dieser Einleitung bereite ich mich auf einen Besuch bei meinem Freund Jupp vor. Die alte Volksweisheit bestätigt sich mal wieder: Gute Freunde erkennt man daran, dass sie immer da sind, wenn sie uns brauchen.
Einerseits war Jupps Vorstellung von der geplanten neuen EU-Regelung zu Medizinprodukten vollkommen überzogen, andererseits konnte ich seine Verärgerung nur zu gut verstehen. Auch wurde mir bewusst, dass ich mich nun auch selbst mit dem neuen Papierwust der EU-Kommission intensiver auseinandersetzen musste, um Jupps pauschalen Rundumschlägen mit sachlichen Argumenten Paroli bieten zu können. Zunächst aber mußte er sich auf dem Spaziergang wieder etwas beruhigen. Ich probierte es daher mit einem Ablenkungsthema, der interkulturellen Kommunikation. Wir schlenderten also in der abendlichen Frühlingsluft die kaum befahrene Straße entlang.
Jupp hat wieder einen Notruf abgesetzt. Ich solle unbedingt bei ihm vorbeikommen. Der verzweifelte Unterton in seinem Anruf verhieß nichts Gutes. Ich machte mich also auf den Weg. Sollte eine neue Runde Familienmanagement anstehen? Ich war auf alles gefaßt.
Jupp war hinter seinen auf dem Schreibtisch aufgebauten Ordnern kaum zu sehen. Ich las gut bekannte Titel: Sicherheitsvorschriften für Medizinprodukte, Medizinproduktegesetz – MPG, Handbuch Medizintechnik, usw. nebst etlichen Fachbüchern zum selben Thema. Allein anderthalb Meter an einschlägigen Loseblattwerken.
Letzte Woche gab es also das historische ISO 9001-Spaghetti-Essen bei Jupp. Er wollte ja mit dieser Pilotaktion ein Qualitätsmanagementsystem in seiner Familie einführen. Getreu der PDCA-Regel von Deming hatte Jupp zunächst sein Pilotprojekt nach ISO 9001 geplant (PLAN), dann im Familienkreis umgesetzt (DO), und war nun bereit, das Feedback seiner Kundschaft entgegenzunehmen (CHECK). Danach wollte er in die Verbesserung seines Systems (ACT) einsteigen.
Wir erinnern uns, Jupp war auf der Grünen Woche. Er kam vollbepackt und ausgepumpt von seinem Besuch zurück. Was hat er da wohl gewollt?
„Na, mein lieber Freund, ich muß doch mein Qualitätsmanagementprojekt vorbereiten. Die ISO 9001 hält mich dazu ganz schön auf Trab.“
Jetzt wird es für mich interessant. Jupp will also tatsächlich zu Hause die ISO 9001 einführen. Sein Kundenkreis ist überschaubar: die eigene Familie, nämlich Jupp, seine Frau und drei Kinder. „Wie gehst du denn vor?“
Vor kurzem traf ich Jupp vor seiner Garageneinfahrt. Er schleppte schwere Plastiktaschen ins Haus. „Na, Großeinkauf gemacht.“ – „Nein, der steht mir noch bevor. Dies sind erst die Vorbereitungen“ keuchte er.
Neugierig geworden half ich ihm beim Tragen. Erst jetzt erkannte ich, dass er keine Lebensmittel, sondern nur Prospektmaterial in seine Tüten gepackt hatte.
„Mensch, Jupp, was hast du gemacht? Du bist ja komplett ausgepumpt!“
Nachdem wir augenscheinlich alle den Weltuntergang vom 21. Dezember überlebt haben, wollen wir uns am Silvesterabend wieder zuversichtlich der Zukunft widmen: Wie sieht das Krankenhaus von morgen aus? Jupp hat da seine eigenen Visionen entwickelt. Zunächst fängt unser Gespräch ganz banal an.