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Sorry, war nur ein Test

von Ingo Nöhr

Ingo Nöhr zum 1. Juni 2024

Die beiden Klinikpensionäre Ingo und Jupp finden in ihren abgeschiedenen Altersruhesitzen keine Entspannung. Immer wieder dringen spannende Neuigkeiten zu ihnen durch. Im Fußballspiel fiel das überraschend erfolgreiche Team von Borussia Dortmund im Finale der Champions League gegen die Profis von Real Madrid durch.

Guten Morgen, Ingo. Hast du gestern Borussia Dortmund gegen Real Madrid gesehen? Nach der ersten Halbzeit haben wir alle gedacht, Borussia holt sich den Pokal. Aber dann schlug die deutsche Krankheit wieder zu: fulminant gestartet, und dann geht irgendwie die Luft aus, wenn es entscheidend wird. Mats Hummels hat das Ergebnis gleich passend erklärt: „Wir haben viel Mut, Herz und fußballerische Klasse gezeigt. Wir haben es verpasst ein Tor zu schießen und bekommen dann den Gegentreffer. So machen sie es immer, das ist auch irgendwie eine Qualität, aber da gehörte heute auch ein wenig Matchglück dazu.“

  • Hallo Jupp, ja – das könnte unser ewiges deutsches Schicksal sein: wir sind gut im Job, verpassen dann ein Tor zu schießen und es gewinnen die anderen. Interessant fand ich aber das Intro der Show im Londoner Wembley-Stadion: die zwei Flitzer, die relativ ungehindert auf das Spielfeld gelangten. Der erste konnte in aller Ruhe Selfies mit zwei Starspielern von Real Madrid machen. Ist dir aufgefallen, dass beide ein T-Shirt mit der Aufschrift Mellstroy trugen?

Ach ja? Vermutlich eine Firma, für die sie Werbung machen?

  • So ähnlich, aber nicht ganz. Der belarussische Blogger Andrey Burim, der unter seinem Künstlernamen Mellstroy drei Millionen Follower zählt, hat 30 Millionen Rubel für einen Finale-Flitzer mit seinem Namenszug ausgelobt. Für 305.000 Euro kann man schon etwas riskieren.

Aha. Aber vielleicht müssen sie noch mit den Ordnern teilen, damit diese erst etwas später zugreifen. Nennt man so etwas nicht Korruption?

  • Aber wir Deutschen sollten mit diesem Begriff sehr vorsichtig hantieren. Unser Parteienfinanzierungsgesetz ist ein demokratisches und ethisches Desaster. Die Korruptionswächter des Europarates (GRECO) attestieren Deutschland mangelnden politischen Willen, sein System der intransparenten Parteienfinanzierung „deutlich hinter den europäischen Standards“ zu verbessern.

Gerade vor zwei Wochen befasste sich der Bundestag in einer Aktuellen Stunde mit dem Thema „Aufklärung möglicher Zahlungen an CDU und SPD aus dem Umfeld mutmaßlicher Schleuser“. Es geht um die Parteispende eines Beschuldigten von 52.000 Euro, üblicherweise in nicht meldepflichtigen Tranchen unter 10.000 gestückelt. Damit soll er hunderten reichen Chinesen Aufenthaltstitel, Meldeadressen, Scheinfirmen, Scheingehaltsabrechnungen und auch deutsche Staatsbürgerschaften besorgt haben. Von den aufgeflogenen Kandidaten für das EU-Parlament reden wir besser nicht.

  • Vor 23 Jahren hat der damalige Bundespräsident Johannes Rau einen regelmäßigen „Politikfinanzierungsbericht“ vorgeschlagen. Im gleichen Jahr wurde als eine Folge früherer Pflegeskandale das Pflege-Qualitätssicherungsgesetz beschlossen. Wo stehen wir heute? Damals war der Bundestag mit 669 Sitzen statt regulär 598 noch etwas überschaubarer. Die 733 Abgeordneten heutzutage sollen nun zum Entsetzen der kleinen Parteien wieder auf 630 Mitglieder reduziert werden.

Wie ich bereits sagte, Ingo: fulminant gestartet, wie überall: wir waren mal die bewunderten Alleskönner und perfekten Macher. Jetzt stehen wir bei Stuttgart-21 schon vor der Entscheidung, ob wir das unersättliche Loch nicht besser zuschütten. Wie beim Flughafen BER, als uns auch die Brandschutzvorschriften fast ruiniert hätten. Wie können wir bis zum Ziel durchhalten?

  • Jupp, ich glaube, unser Wirtschaftspolitiker hat neuerdings einen interessanten Gedanken ins Spiel gebracht. „Das Gebäudeenergiegesetz war ein Test“, wie weit die Bevölkerung bereit ist, für Klimaschutz auch Belastungen in Kauf zu nehmen, sagt Habeck beim Demokratiefest. Es gilt aber seit 1. Januar bereits für alle Bürger. Das ist eine ganz neue Taktik, Politik voranzubringen.

Ich weiß schon, was du meinst Ingo. Früher haben Profi-Politiker oder ihre Sprecher erstmal ein Gerücht über ihre brisanten Maximalpläne in die Welt gesetzt und genüsslich den Aufruhr in den Medien und der Bevölkerung abgewartet. Dadurch fanden sie die Schmerzgrenze, haben „aufgrund der öffentlichen Meinung“ zurückgesteckt und ihren Plan auf das Maß reduziert, was sie schon vorab vorgesehen hatten. Und die Wähler registrierten wieder erleichtert, dass sie es denen da oben mit ihrem Protest mal wieder gezeigt haben, dass sie nicht alles mit sich machen lassen. Dabei merken sie überhaupt nicht, wie sie geschickt manipuliert wurden. 

  • Richtig, Jupp. Ein gutes Beispiel war unsere Corona-Politik. Vor kurzem wurden ja die meisten Schwärzungen in den RKI-Protokollen entfernt und nun kann jeder nachlesen, wie die politische Ebene permanent die Viren-Angst in der Bevölkerung hochhalten wollte. Der Name des Gesundheitsministers Spahn taucht nun plötzlich 101 Mal in den Krisenstabsprotokollen auf. So am 13.März 2020: „Herr Spahn hat angeordnet, dass eine Passage zu Schulschließungen in die Kriterien für die Risikoeinschätzung von Großveranstaltungen eingefügt wird.“ Dabei hatte ein RKI-Mitarbeiter schon am 26. Februar 2020 aus China berichtet, dass Kinder „keine wichtigen Glieder in Transmissionsketten“ darstellten.

Was für eine Ignoranz auf politischer Seite. Als Konsequenz schlagen wir uns jetzt mit einer ganzen Generation mental geschädigter Kinder herum. Was steht denn in den geschwärzten Stellen über die Maskenpflicht?

  • Die breite „Nutzung von FFP2-Masken“ außerhalb des Arbeitsschutzes sei „nicht evidenzbasiert“. Und „Kritisch diskutiert wird Maskenpflicht für Grundschüler, evtl. Langzeitfolgen“.

Soso, Langzeitfolgen wurden schon damals befürchtet. So viel zur Wirksamkeit eines Risikomanagements. Wie liefen denn die Impfkampagnen ab?

  • Am 8. Januar 2021 heißt es: „Impfstoffwirkung ist noch nicht bekannt. …Dauer des Schutzes ist ebenfalls unbekannt.“ Wenige Wochen später haben Millionen Deutsche ihre Erstimpfung erhalten, obwohl die STIKO „ungern so ohne Phase III Studienergebnisse Empfehlungen verfassen“ wollte. Kurz danach war das PEI mit 1.600 Meldungen über Nebenwirkungen völlig überlastet und Norwegen setzte die Verwendung von AstraZeneca bis auf weiteres aus, nachdem über viele Fälle mit arteriellen Thrombosen berichtet wurde.

Also Ingo, ich bin etwas schockiert. Diese Impfkampagne gleicht ja einem gewaltigen Menschenexperiment, wo man nicht mehr genau hinschauen konnte. Wir testen mal einfach und hoffen, dass alles gut geht. Wer meckert, wird als Querdenker und Verschwörungstheoretiker diffamiert. Und das hat unser hochnobles Robert-Koch-Institut alles klaglos mitgemacht?

  • Nein, nicht ganz. Der immer abgestrittene politische Druck auf das RKI wird in folgendem Eintrag deutlich: „Kommt das RKI der politischen Forderung nicht nach, besteht das Risiko, dass politische Entscheidungsträger selbst Indikatoren entwickeln und/oder das RKI bei ähnlichen Aufträgen nicht mehr einbindet.“

Auf gut Deutsch: „Liebe Wissenschaftler vom RKI, Ihr werdet gefeuert, wenn Ihr nicht spurt.“ Alles klar. Da wird die „von allen Seiten“ geforderte Aufarbeitung der Maßnahmen zur Covid-19 Pandemie so ausgehen, wie damals 2010 bei der hessischen Parteispendenaffäre, als in der Schweiz eine mehrere Millionen Euro schwere schwarze Kasse der CDU auftauchte: Ministerpräsident Roland Koch forderte die „brutalstmögliche Aufklärung der Vorgänge“. Das Ergebnis ist bekannt.

  • Die Aufklärung der Fehler nach dem erfolgten Schlamassel hilft uns nicht weiter, zudem werden Schuldige nie konkret identifiziert. Ich möchte deinen Blick noch auf weitere aktuelle Testvorhaben unserer Regierung lenken. Etwa das von Lauterbach als Revolution angekündigte Klinikgesetz – ein Regelwerk von 186 Seiten Umfang. Weder Bundesländer noch Krankenhausgesellschaft waren in die Planungen einbezogen. Bayerns Ex-Gesundheitsminister Holetschek nennt die Reform: „von Anfang an falsch gedacht, verfassungswidrig und verfehlt ihre Ziele“. Der Mangel an Pflegekräften wird dazu führen, dass in den nächsten zehn Jahren etwa 30% der Betten verloren gehen. Die Diskussion über die Auswirkungen werden von Lobbyisten und Funktionären dominiert, daher sehe ich hier auch schon einen neuen Testfall. Bei Revolutionen weiß man auch nie vorher, was letztendlich dabei herauskommt.

Ingo, die Regierung hat ja schon die nächste Revolution in der Pipeline: die Aktienrente. Wer wird dort die Lasten der nächsten Jahrzehnte tragen? „Ein großer Wurf ins Unheil“ (Rentenökonom Raffelhüschen), „nicht generationengerecht (Wirtschaftsweise Monika Schnitzer). Liebe Regierung, die Jugend kann ganz schön rebellisch werden, wenn sie sich nicht mehr vertreten fühlt. Lernt mal was aus dem Phänomen „Fridays for Future“!

  • Unsere ehemaligen Volksparteien befinden sich angesichts der kommenden Wahlen in einem Angstzustand. Es gibt zu viele Verlierer, Abgehängte, Unzufriedene und Radikale, die nun die Chance sehen, den Herrschenden durch ein Kreuz ganz rechts oder links einen Denkzettel zu verpassen. Und plötzlich verschieben sich die politischen Gewichte und wir haben ein neues Experimentierfeld.

Aber Ingo, sei mal ehrlich: angesichts des desolaten Zustandes unserer Gesellschaft, insbesondere bei der Bildung, in der Wirtschaft und der Klimapolitik sowie im Gesundheitswesen – da ist doch eine Revolution schon längst angebracht, oder?

  • Ja, Jupp, da gebe ich dir schon lange Recht. Aber wir werden bei diesem grassierenden Fachkräftemangel in unseren politischen Einrichtungen wohl nicht aus der dilettantischen Versuchsphase herauskommen. Und hinterher heißt es dann wieder lapidar: „Sorry, war nur ein Test. Wir werden viel einander verzeihen müssen.“

Na ja, Ingo. Als abgeklärte Pensionäre mit unseren kleinen Häuschen können wir uns in der zweiten Reihe interessiert zurücklehnen und beim Bier ausreichend versorgt den Lauf der Welt beobachten. Also dann Prost auf die unbekannte Zukunft! Her mit den Revolutionen!

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Das Experiment in der Politik ist die Revolution. (Benjamin Disraeli)

Man bildet sich zwar insgemein ein, daß Experimente bei der Erziehung nicht nötig wären, und daß man schon aus der Vernunft urteilen könne, ob etwas gut, oder nicht gut sein werde. Man irret aber hierin aber sehr, und die Erfahrung lehrt, daß sich oft bei unseren Versuchen ganz entgegengesetzte Würkung sich zeigen von denen, die man erwartete.       (Immanuel Kant)

Jean-Claude Juncker ist ein pfiffiger Kopf. ‚Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, was passiert‘, verrät der Premier des kleinen Luxemburg über die Tricks, zu denen er die Staats- und Regierungschefs der EU in der Europapolitik ermuntert. ‚Wenn es dann kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter – Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt.‘ 
(Spiegel vom 26.12.1999)

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