„Wir werden viel einander verzeihen müssen“
von Ingo Nöhr
Ingo Nöhr März 2024:
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn schlug im April 2020 nachdenkliche Töne an: „Wir werden in ein paar Monaten wahrscheinlich viel einander verzeihen müssen.“ Mit diesen Worten bat Spahn damals um Verständnis für seine politischen Entscheidungen in der Corona-Krise. Die beispiellosen Eingriffe des Staates in die Grundrechte der Deutschen waren historisch einmalig und haben eine tiefe Spaltung in der Bevölkerung erzeugt.
Bei unseren Klinikrentnern Ingo und Jupp gibt es anscheinend Neuigkeiten. Kein Wunder, dass beim diesmaligen Treffen am Stammtisch in der Eckkneipe das Thema Corona wieder eine Rolle spielt.
# # #
Hallo Ingo, bei dir noch alles im Lot? Ich habe spannende Nachrichten von der Corona-Front.
- Guten Morgen Jupp. Bei mir ist alles okay. Aber ich vergaß, du hast ja mit deinem Untermieter Oleks einen ausgefuchsten Experten über die Corona-Krise. Damals hast du schon im Dezember 2022 mit spannenden Neuigkeiten geglänzt. Danach habt ihr doch angefangen, euren Weltuntergangsbunker zu bauen. Nebenbei gefragt: Sind Oleks und seine Perle Doris denn jetzt mittlerweile geimpft?
Nein, natürlich nicht. Sie haben eine eiserne Kondition und ich habe mich auch nirgendwo angesteckt. Aber jetzt hör mal zu, Ingo. Kannst du dich an den Januar letzten Jahres erinnern? Der Präsident der Robert Koch-Instituts Lothar Wieler sprach sich am 25. Januar 2023 dafür aus, die Entscheidungen und Maßnahmen der Coronapandemie aufzuarbeiten. Es brauche hier eine saubere Analyse, um daraus für die Zukunft zu lernen.
- Jupp, da hatten wir persönlich doch schon unsere öffentlichen Medien alle abgeschaltet, damit wir endlich unsere Ruhe vor den permanent schlechten Nachrichten hatten. Aber lass mich raten: das RKI hat jetzt nach einem Jahr eine knackige Analyse vorgelegt.
Das Robert-Koch-Institut? Vielleicht, ich weiß es nicht. Das RKI hat seit dem Jahre 2000 über 12.000 Publikationen verbreitet, darunter sicherlich haufenweise Corona-Studien. Aber die gründlichste und umfassendste Analyse über die Corona-Maßnahmen gibt es gerade im Buchhandel – aber interessanterweise nicht vom RKI.
- Hätte mich auch gewundert, dass ein so riesiger Beamtenapparat mit einem etwas chaotischen Gesundheitsminister in so kurzer Zeit ein Ergebnis erwirtschaften könnte. Wer hat denn jetzt die ganze Chose analysiert?
Ein Professor Günter Kampf hat sich seit Beginn der Corona-Pandemie regelmäßig mit den Maßnahmen befasst und 2023 schon drei Bücher darüber geschrieben. Eine wahre Fleißarbeit, nämlich insgesamt 500 Seiten: über die Maskenpflicht, über die Impflicht, über die G2-Regelungen und jetzt im Januar 2024 mit CoroFluenza ein neues Buch mit einem Vergleich von weltweiten pandemischen Atemwegsinfektionen. Ein gewaltiges Werk mit 233 Quellenangaben und knapp 150 Seiten.
- Kampf? Jupp, das hört sich wie ein Pseudonym an. Fürchtet der Professor jetzt um sein Leben? Was ist denn herausgekommen? Nichts schlimmes als Auftragsarbeit vom Gesundheitsminister denke ich? Da tippe ich mal ins Blaue: die Politiker haben gezeigt, dass sie mit ihren drastischen Maßnahmen unser aller Leben gerettet haben.
Mensch Ingo, ganz falsch. Der Name ist kein Pseudonym. Prof. Kampf ist ein selbstständiger Facharzt für Hygiene und Umweltmedizin in Hamburg sowie außerplanmäßiger Professor für Hygiene und Umweltmedizin an der Universität Greifswald. Er hat mehr als 250 wissenschaftliche Veröffentlichungen in meist internationalen Fachzeitschriften, 44 Buchkapitel sowie zwölf Fachbücher veröffentlicht. Und es ist auch keine Auftragsarbeit vom BMG
- Da wäre natürlich etwas aufwändig, alles in einem Pseudonym unterzubringen zu wollen. Aber ich gehe mal davon aus, dass die Uni Greifswald als Empfänger von staatlichen Forschungsgeldern Wert darauflegt, nachzuweisen, dass der Staat in Coronazeiten alles richtig gemacht hat.
Das könnte man annehmen, Ingo. Aber dann hätte man unseren Professor schon 2022 mundtot gemacht, als er sein Buch mit dem provokanten Titel „Wissenschaft ist frei – auch in der Pandemie?“ herausgebracht hat. Ich zitiere mal Revolutionäres aus dem Klappentext: „Es steht nicht gut um die Freiheit der Wissenschaft. Ihre Unabhängigkeit, finanziert durch den Staat, ist normalerweise ein großer Vorteil, solange der Staat kein eigenes Interesse am Ergebnis hat. Doch in der COVID-19-Pandemie scheint das bei einzelnen Fragestellungen nicht mehr zu gelten. Wissenschaftliche Veröffentlichungen zu Masken wurden aus fadenscheinigen Gründen abgewertet oder zurückgezogen. Politiker üben offenen Druck auf Wissenschaftler aus, wenn diese nicht den Kurs der Regierenden unterstützen.“
- Das ist ja bemerkenswert, Jupp. Das ist genau auf dem Punkt gebracht, was ich befürchtet hatte. Und diese Revolte hat er wissenschaftlich und politisch überlebt?
Ja, hör mal zu. Er ging damals sogar einen heiligen Wissenschaftstempel an: „Die Leopoldina beschreibt ein Dokument als Wissenschaft, was in keiner Weise den Ansprüchen an evidenzbasierte Empfehlungen entspricht. Die Wissenschaft sollte öffentlich Distanz zu staatlichen Autoritäten wahren, kontroverse Debatten einfordern und politische Entscheidungen und ihre Begründungen fortwährend kritisch und ergebnisoffen auf ihre wissenschaftlichen Grundlagen hinterfragen.
- Ich erinnere mich noch daran: im Dezember 2020 berief sich Angela Merkel auf ein Leopoldina-Papier, welches von den Experten und als Titel der WELT qualitätsmäßig als wissenschaftliches Desaster deklariert wurde. Nun denn, jetzt bin ich aber sehr interessiert, mehr darüber zu erfahren. Wie bist du denn überhaupt darauf gekommen?
Das war ganz schön dramatisch. Kürzlich tauchte Oleks bei mir auf und knallte mir wütend das Kampf-Buch über CoroFluenca auf den Schreibtisch. Er verlangte als Impfverweigerer sofortige und öffentliche Rehabilitation und vor allem Wiedergutmachung für all die Beleidigungen und Bestrafungen, die er als Impfverweigerer erdulden musste. Schließlich musste er sich vom Ex-Bundespräsidenten Joachim Gauck als „Bekloppter“, vom FDP-Politiker Rainer Stinner als „gefährlicher Sozialschädling“ und vom zweifachen Oskar-Preisträger Christopf Waltz als „asozialer Vollidiot“ beschimpfen lassen.
- Klar, Jupp, das war damals eine unglaubliche Hysterie in den Medien und bei den Politikern, welche fast die gesamte Bevölkerung angesteckt hat. Bis eben auf die Impfverweigerer, die gleich mit dem Schlagwort Querdenker ins Abseits gestellt wurden. Dabei war vorher der Begriff des Querdenkens eine durchaus positiv besetzte Einstellung, die durch das Hinterfragen verkrusteter Strukturen eminent wichtig für die gesunde Entwicklung einer Gesellschaft ist. Die Frage ist doch, was ist denn jetzt so anders gewesen, dass wir so hysterisch reagiert haben? Es war ja nicht die erste Pandemie, die die Menschheit erlebt hat.
Nein beileibe nicht, Ingo. Schwere Grippewellen sind in den letzten Jahrzehnten immer wieder aufgetreten. Sie führten manchmal für kurze Zeit zu lokalen Engpässen der Krankenversorgung, so dass einzelne Patienten in umliegende Krankenhäuser verlegt werden mussten. Aber noch nie hat eine schwere Grippewelle dazu geführt, dass es Lockdowns gab, dass Heimbewohner monatelang keinen Besuch von ihren Angehörigen bekommen durften oder gar allein sterben mussten, dass in Bussen FFP2-Masken getragen werden mussten, dass Schwangere nach der Geburt von ihrem Neugeborenen isoliert wurden, dass es nächtliche Ausgangssperren gab, dass Schulen und Universitäten geschlossen wurden, dass ein ganzes Hochhaus wie in Göttingen für sieben Tage mit einem Bauzaun abgeriegelt wurde oder dass bei privaten Zusammenkünften staatlich vorgeschrieben wurde, wie viele Personen aus wie vielen Haushalten sich treffen durften. Insbesondere der Umgang mit Leidenden und Sterbenden war im Jahr 2020 ein Tabubruch.
- Ja, das war eine unglaubliche Zeit, aber das ist doch nichts Neues, Jupp und das kennen wir doch längst aus eigener Erfahrung. Worüber hat sich dein Oleks denn jetzt so fürchterlich aufgeregt?
Ganz einfach: über die statistischen Ergebnisse der Analysen. Das Fazit von Kampfs Analyse lautet: „Die Hospitalisierungsrate von COVID-19-Fällen ist nicht grundsätzlich höher als bei saisonalen Coronavirus-Infektionen, sondern sogar deutlich niedriger als bei den Grippevirus-Infektionen in Deutschland“ und der „Anteil der intensivmedizinisch behandelten COVID-19-Fälle ist nicht durchgängig höher als bei saisonalen Coronavirus- oder verschiedenen Influenzavirus-Infektionen.“
- Das sind aber gewaltige Ohrfeigen für unsere politische Führung. Und das hat der Herr Professor alles statistisch sauber belegt?
Ingo: Da wirst du von dem vorliegenden Material regelrecht erschlagen. Er hat jeden einzelnen Aspekt penibel beleuchtet. Und oft sind das keine neuen Erkenntnisse. Oleks regt sich vor allem über die schon im März 2020 längst vorliegenden Ergebnisse der Wissenschaft auf, die von den Verantwortlichen einfach ignoriert wurden. Eine Autorengruppe aus Frankreich deutete im Mai 2020 darauf hin, dass die öffentliche Aufmerksamkeit gegenüber SARS-CoV-2 möglicherweise übertrieben war. Bereits im Sommer 2020 hätte man eine vergleichende Bilanz zwischen den verschiedenen viralen Atemwegsinfektionen ziehen können. Die Daten lagen also frühzeitig vor. Auf dieser Grundlage hätte man die Gefährlichkeit von SARS-CoV-2 neu bewerten, besondere Risikogruppen identifizieren, ein fundiertes Indikatoren-Set zur Erfassung medizinisch relevanter Fälle entwickeln und damit wesentlich gezielter intervenieren können. Nichts davon ist geschehen.
- Jupp, jetzt verstehe ich auch die Aussage von Gesundheitsminister Spahn: „Wir werden in ein paar Monaten wahrscheinlich viel einander verzeihen müssen.“ Erinnerst du dich noch an unserem Stammtisch vom März 2020? Unser Motto lautete „Don’t Panic“. Und im Monat darauf fragten wir uns: „Hätten wir ohne Kenntnis des Virus die Corona-Pandemie im Tagesgeschäft des Todes vielleicht garnicht bemerkt?“ Nebenbei bemerkt: ist doch hilfreich, dass unser Chronist unsere Stammtischgespräche jeden Monat penibel aufgezeichnet hat, oder?
Ja Ingo, wir waren damals erstaunlich abgeklärt und haben uns angesichts der alternativen Todesraten nicht verrückt machen lassen. Oleks hat mir dann noch ein Zitat von dem juristischen Prof. Uwe Volkmann von der Universität Frankfurt um die Ohren gehauen: „Auch bei den bisherigen Epidemien von der Schweinegrippe bis zur normalen Influenza hätten wir durch Einreisesperren, Verbot von Großveranstaltungen oder zuletzt auch Isolierungen der Menschen voneinander die Todesrate von vornherein erheblich senken können. Aber wir haben es nicht getan, weil uns diese Einschränkungen zu schwerwiegend erschienen und alle Erkrankten in den Krankenhäusern behandelt werden konnten.
Und ganz generell könnte irgendwann der Punkt kommen, an dem wir uns eingestehen müssen, dass es Krankheiten gibt, die wir nicht besiegen können, ebenso wenig wie wir den Tod besiegen können. Wir können uns, wie jetzt, eine Zeitlang dagegen anstemmen, am Ende aber eben doch immer nur eine Zeitlang. So oder so werden wir irgendwann wieder lernen müssen, die Welt nicht nur durch die Brille der Virologen zu betrachten.“
- Ich erinnere mich, dass schon frühzeitig bemängelt wurde, dass fast immer nur Virologen zu Wort kamen und kaum die Epidemiologen, die eine viel abgeklärtere Sicht auch Pandemien haben. Ganz zu schweigen von den Psychologen, Psychiatern, Soziologen, Pädagogen und Kinderärzten, die angesichts der brutalen Corona-Maßnahmen laufend Warnungen vor den Konsequenzen für die Kinder und Erwachsenen aussprachen.
Also, Ingo, das hätte in den Medien wohl die lukrative Dramatik geschmälert. Vergiss nicht die permanente Jagd nach den Quotenbringern. Leider auch bei unserem öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Der persönliche Eindruck von Prof. Kampf war schon zu Beginn der Pandemie, dass große Teile der etablierten Medien, der Politik und auch Teile der Wissenschaft in ungewöhnlich großer Sorge oder sogar Angst waren. Die Medien erzielten mit Talkshows gute Einschaltquoten, die Politiker hatten eine Bühne für öffentliche Aufmerksamkeit, und die Wissenschaftler waren gefragt wie nie zuvor. Und doch stellt sich im Nachhinein heraus, dass von politischer Seite, wie in Großbritannien, die Angst in der Bevölkerung teilweise ganz bewusst hochgehalten werden sollte
- Nun mal Jupp, Butter bei de Fische: was ist nun das letztendliche Resultat seiner Analysen?
Er beschreibt es etwas diplomatisch, aber eindeutig: „Es ist fraglich, ob durch die massiven und grundrechtseinschränkenden Maßnahmen tatsächlich der gewünschte Effekt auf die Kenngrößen der COVID-19-Pandemie erreicht werden konnte. Eine umfassende Auswertung von 2G ergab keinen relevanten Nutzen des Ausschlusses ungeimpfter Personen von weiten Teilen des öffentlichen Lebens. Das gleiche Ergebnis ergab eine umfangreiche Auswertung öffentlicher Daten und Studien zur Masken- und Impfpflicht.“
- Ganz klar eine gewaltige Blamage für unser Pandemie-Management. Wo bleiben denn jetzt die Schlagzeilen in der Presse, die Interviews und Talkshows bei den Sendern, die „Mea culpa“ und „sorry“ bei den Verantwortlichen? Will das keiner mehr so genau wissen, was damals für ein Unsinn fabriziert worden ist?
Ach Ingo, genau deswegen haben wir uns doch in unsere mediale Klausur geflüchtet und uns anderen Werten des Lebens hingegeben. Lass uns wieder die alte Tradition aufleben und unserem Wirt danken, dass er die kritischen Zeiten überlebt hat.
- Du hast Recht, Jupp. Also: Herr Wirt, bitte wieder zwei Bier, das krisenfeste und unerschütterliche Beruhigungsmittel.
# # #
Der Soziologe Alexander Zinn schrieb am 8. Januar 2022:
„Was wir dabei übersehen: „Wissenschaftsfeinde“ sind nicht diejenigen, die Zahlen, Studien und Maßnahmen hinterfragen, sondern diejenigen, die den offenen Diskurs darüber unterbinden wollen. Schuldzuweisung und Ausgrenzung mögen uns psychologisch entlasten. Die Corona-Krise, die inzwischen eher eine gesellschaftliche als eine gesundheitliche ist, werden wir damit nicht lösen.“
Der Chefredakteur der Neuen Züricher Zeitung Eric Gujer schrieb am 23. Dezember 2022:
„Die Medien verbreiteten unkritisch als objektive Wissenschaft verbrämte Mutmaßungen: darunter die Behauptung, Geimpfte seien nicht ansteckend. Dies alles geschah unter der Parole «Follow the science». Selten war Wissenschaftsgläubigkeit naiver und zugleich militanter. Die damals bereits vorliegenden Fakten wurden nicht unvoreingenommen geprüft, sondern man machte sich zum Gehilfen der offiziellen Linie, die Ungeimpfte stigmatisierte. Die Beschlüsse waren zu wenig evidenzbasiert, sondern von den Stimmungen und Ängsten der Handelnden – also vor allem von Merkel und Braun – getrieben.
Zu Recht wird beklagt, dass Querdenker eine extreme und mitunter extremistische Form der Realitätsverweigerung praktizieren. Aber alle Politiker bis hin zum Kanzler, die einen Impfzwang forderten, vertraten eine nicht minder extreme Position. Der Extremismus der Mitte ist gefährlicher als der Extremismus der Ränder, weil nur die Mitte die Macht hat, ihre Stimmungen in Gesetze zu gießen. Das sollten die Deutschen nicht vergessen.“
(Anmerkung des Chronisten:
Alle fachlichen Textstellen stammen von Prof. Günter Kampf aus seinen Büchern der Reihe „Pandemie-Management auf dem Prüfstand“: Impfpflicht, Maskenpflicht, 2G und CoroFluenza)
Einen Kommentar schreiben