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INGOs NÖHRgeleien Juli 2024

von Ingo Nöhr

Vertrauensverluste

Ingo Nöhr zum Juli 2024

Zweckoptimist Ingo Nöhr findet beim Hausbesuch seinen Freund Jupp in einer tiefdepressiven Phase vor. Der Grund liegt auf der Hand: Das EM-Team von Deutschland hat in den letzten Minuten der Verlängerung gegen Spanien 2:1 verloren und muss nun nach Hause fahren. Und Jupp musste sich mit seinen Kumpels das ganze Drama auf seinem riesigen Fernseher anschauen, lautstark begleitet vom frenetischen Freudentaumel der Spanier in seiner 8-Kanal-Dolby-Surround HiFi-Anlage.

Hallo, Jupp, nimm es nicht so ernst. Das Leben geht doch weiter. Wie ich allerorten höre, haben sich unsere deutschen Jungs nicht blamiert, sondern bis zur letzten Sekunde gekämpft und einfach nur Pech gehabt.

  • Ach Ingo, das ist ja nicht alles. Viel schlimmer sind die ganzen Kollateral-Schäden. Deutschland hat sich in den letzten Wochen auf allen Gebieten vor der gesamten Welt blamiert. Wie konnten wir nur auf die Idee kommen, in diesen Jahren die Welt als Gast einzuladen?

Du meinst, mit unserer maroden Infrastruktur bei der Bahn und auf den Autobahnen, Jupp?

  • Die Sozialen Medien sind voll mit Horrorgeschichten über unsere Städte, den Unterkünften, den Bahnsteigen und überfüllten Zügen, und – stell dir mal vor: Geschäfte, die nur Bargeld annehmen wollten! Dazu der kaputte Rasen im Frankfurter EM-Stadion. Dann regnet es auch noch im Dortmunder Westfalenstadion durch das Dach und bescheren einigen Fans eine perfekte Wasserfall-Dusche.

Ja, Jupp. Die Bilder gingen um die Welt. Die Menschen lehnten sich amüsiert lächelnd, aber doch beruhigt zurück: Die Deutschen sind endlich nicht mehr die unerträglichen Musterknaben der Welt, die uns immer erzählen wollen, wie man es richtig macht.

  • Ingo, das ist doch eine Katastrophe. Wir waren mal die Perfektionisten, wir wurden wegen unserer deutschen Gründlichkeit immer bewundert.

Ich halte diese Erfahrung für pädagogisch wertvoll. Wir haben uns immer unser Land schöngeredet und auf die anderen herabgeschaut. Unsere Politiker galten als Besserwisser. Vor allem als Urlauber sind wir häufig negativ aufgefallen. Jetzt heißt es lakonisch in unserem Zeugnis: „Der deutsche Michel hat sich bemüht“, also auf gut deutsch: durchgefallen.

  • Und das findest du gut, Ingo? Wo findest du denn wieder einmal das Körnchen Gute in diesem Haufen Schlechten? Unsere Ampelkoalition vermurkst am laufenden Band ihre wohlgemeinten Projekte.

Es ist ja nicht nur die deutsche Ampelkoalition, die ihren Startbonus verspielt hat. Woher kommen denn wohl die Rekordzahlen für die AfD- Wähler? Schau dich doch mal in Europa um:  in Italien, Frankreich und Großbritannien droht den etablierten Regierungsparteien die Ablösung durch einen massiven Rechtsruck. Ursula von der Leyen benötigt für die Wiederwahl als Präsidentin der EU-Kommission die Stimmen der Rechtsnationalen. Von Israel wage ich gar nicht zu reden.

  • Friedrich Merz hatte in einer Gesprächsrunde eine einfache Erklärung für die Abkehr von den ehemaligen Volksparteien. Er meinte in Richtung der Ostdeutschen: „Man muss im Osten mehr erklären als im Westen, aber ich tue es gern …“ Das könnte wohl heißen: die Ossis sind zu blöd zu verstehen, was die Ampel alles Gutes für sie gemacht hat.“

Jupp, das alte Problem, was Bertold Brecht schon so treffend formuliert hat: „Das Volk hat das Vertrauen der Regierung verscherzt. Wäre es da nicht doch einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes?“ Jetzt vertritt der ungarische Quertreiber Victor Orban auch noch für sechs Monate den Vorsitz des EU-Rates und reist sofort zum EU-Intimfeind Putin. Sein Motto hat er gleich bei Donald Trump geklaut: „Make Europe Great Again“.

  • Tja, die USA. Ingo, das wird unser neues Sorgenkind. Das oberste US-Gericht, der Supreme Court entschied gerade, dass der amerikanische Präsident für sämtliche offiziellen Akte absolute Immunität genieße. Eine »Lizenz zum Gangstertum«, wie ein CNN-Kommentator es nannte. Sollte Trump gegen den senilen Biden im November die Wahl gewinnen, wird er wohl einen gigantischen Rachefeldzug starten. Hat dieses Urteil Donald Trump „die Schlüssel zu einer Diktatur überreicht?“

Zumindest werden sich Europa und der Rest der Welt auf drastische Entscheidungen gefasst machen. Das Vertrauen in die USA als Freund und Weltpolizist ist massiv geschwunden. Als Konsequenz formiert sich der Globale Süden als Gegenpol zum „arroganten“ Westen mit den BRICS-Staaten Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika und neuerdings auch Ägypten, Iran, Äthiopien und den Vereinigten Emiraten. Deren Regierungen gelten nicht gerade als „lupenreine Demokratien“, aber sie repräsentieren nun 45% der Weltbevölkerung.

  • Ingo, das sagst du noch immer ohne Panik in der Stimme? Die Weltuntergangsuhr steht seit dem Jahre 2020 auf 100 Sekunden vor Mitternacht, dem Beginn des Atomkrieges. Heutzutage müsste sie angesichts der zunehmenden Kriege dringend neu eingestellt werden. Letztes Jahr wurden unfassbare 1,8 Billionen US-Dollar für Rüstungsgüter ausgegeben. Mit diesem Geld hätte man die weltweite Armut komplett auslöschen können. Stattdessen beschleunigt man sehenden Auges die Klimakatastrophen und löst immer größere Völkerwanderungen aus, unsere gegenwärtige Migrations- und Asylpolitik wird immer mehr Symbolcharakter besitzen. Die Schäden werden sich bis 2050 auf 1,7 bis 3,1 Billionen Dollar aufsummieren. Wir hausen wie die Steinzeitmenschen in einem Porzellanladen. Kein Wunder, dass die Letzte Generation und Klimakleber kein Vertrauen mehr in die Zukunft haben. Die Hoffnung auf die Heilsrolle der christlichen Kirchen schrumpft mit der Zahl der Gläubigen Richtung Nullpunkt. Die Berufsaussichten von Schulabgängern werden durch unsere stupide Bildungspolitik immer schlechter, die KI wird zunehmend Arbeitsplätze wegrationalisieren.

Mein lieber Jupp, nebenbei bemerkt: die KI wird momentan wieder dümmer, weil sie zunehmend mit ihren eigenen Halluzinationen trainiert wird. Ich verstehe dich vollkommen angesichts dieser katastrophalen Nachrichten. Du solltest vielleicht wieder weniger ins Internet, Fernsehen und in die Zeitungen schauen. Sie verzerren doch die reale Welt. Die Verschwörungstheoretiker, Untergangspropheten und die Reichsdeutschen blühen auf. Natürlich geht vieles den Bach runter, zumal wir durch den Wahnsinn des permanenten Wirtschaftswachstums längst die Ressourcengrenzen erreicht oder überschritten haben.

  • Ingo, der Vertrauensverlust ist durchgreifend. Wer beschreibt denn die reale Welt? Die Medien, die Politiker? Wir spüren, dass wir von politischer Seite nicht mehr wahrheitsgemäß und objektiv informiert werden. Wer hat denn nun die Nordstream-Pipeline gesprengt? Wie geht es mit der Energiewende weiter? Wandert wirklich unsere Industrie ins Ausland ab? Wie stark haben sich Mafia-Clans in unserer Gesellschaft ausgebreitet? Können wir unseren Banken und den öffentlich-rechtlichen Medien noch vertrauen? Unsere Bildungsministerin wollte unseren Wissenschaftlern bei Meckerei das Geld kürzen.

Die reale Welt wird sicherlich nicht von Politikern beschrieben, dazu sind sie viel zu stark ihren Interessenkonflikten durch Machtstreben, Abhängigkeiten, Lobbyeinflüssen und auch Korruption ausgesetzt. Mächtige Monopole und Oligopole in den Medien filtern die Informationen und schaffen Meinungsblasen, in denen sich Gleichgesinnte als soziale Gruppen versammeln. Aber eines konnte die unablässige Informationsflut nicht verhindern: unser Unbehagen angesichts der gefühlten Situation. Es wird darüber immer noch offen berichtet und diskutiert. Die Wähler und bisherigen Nichtwähler reagieren auf diese Widersprüche. Eine noch weitgehend unorganisierte Opposition bildet sich und wird nicht nur politisch in der Gestalt der neuen Parteien AfD und BSW für die Herrschenden bedrohlich. Sie repräsentiert die wachsende Menge der Gefolgschaftsverweigerer.

  • Ja Ingo, ich muss zugeben, ich sehe tatsächlich die ersten Anzeichen, dass sich die Wahrheit nicht lange verdrängen lässt. Seit Jahren drückt sich unser Staat vor einer Aufarbeitung der Maßnahmen während der Corona-Pandemie. Kein Wunder: im März 2020 sollte die deutsche Bevölkerung laut einem Strategiepapier des Innenministeriums, dem sogenannten „Panik-Papier“ gezielt in Angst und Schrecken versetzt werden, um die drastischen Maßnahmen umsetzen zu können. Die Offenlegung der RKI-Protokolle und das neue Insider-Buch „Alles überstanden?“ von Georg Mascolo mit dem Drosten-Interview verraten uns, dass die heftig bekämpften Covid-19 Querdenker mit ihren Bedenken nicht immer falsch lagen. Sie mussten sich als „Aasgeier der Pandemie“, „Aus Russland gesteuerte Trolle“, „durchgeknallte Schwurbelmenschen“, „gefährlicher Sozialschädling“, oder einfach nur als „Bekloppte“ beschimpfen lassen.

Siehst du, Jupp. Diese Ereignisse haben unsere Gesellschaft nachhaltig beschädigt und den massiven Widerstand gegen Staatsgewalt beflügelt. Ein wütendes Nachdenken hat eingesetzt. Aber du darfst die beobachteten Vorfälle nicht einfach als stabile Tendenz in die Zukunft extrapolieren. Wir sehen doch, dass unser soziales System auf diese Einflüsse mit überraschenden Korrekturen und auch starken Veränderungen reagiert. Denke mal an das Buch „Der Schwarze Schwan“ von Nassim Nicholas Taleb: Was hat die Weltgeschichte schlagartig geändert? Fall der Mauer, 9/11, Tschernobyl, Fukushima, Atomausstieg. Wir haben im Mai 2020 darüber gesprochen, du erinnerst dich?

  • Du glaubst also an das Aufwachen der Bevölkerung, Ingo. An die neu erwachende Energie und Motivation der Menschen, die Verbesserung der Lage mit vereinten Kräften anzugehen? Da habe ich meine Zweifel. Ich erinnere mich an eine bewährte Strategie der damaligen DDR-Regierung: selbst wenn überall Lieferengpässe auftraten – eines musste immer gesichert sein: genug Wodkanachschub für das Volk. Erklär mir doch mal bitte, warum unsere Regierung ausgerechnet jetzt den Cannabis-Konsum für alle gegeben hat! Unsere kritischen Geister und insbesondere die aufrührerische Jugend werden der Realität nun selig im Haschisch-Rauch entfliehen.

Ein interessanter Aspekt, Jupp. Vielleicht sollten wir nun auch den legalen Drogenkonsum einleiten und uns in unsere Eckkneipe begeben, um bei unserem traditionellen Bier die Welt wieder geruhsamer aus der zweiten Reihe betrachten.

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Der wohl hervorstechendste und auch erschreckendste Aspekt der deutschen Realitätsflucht liegt in der Haltung, mit Tatsachen so umzugehen, als handele es sich um bloße Meinungen. (Hannah Arendt)

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Auszug aus dem Ingo Nöhr Bericht vom Mai 2020:

Wir wollen uns einen Truthahn vorstellen, der jeden Tag gefüttert wird. Jede einzelne Fütterung wird die Überzeugung des Vogels stärken, dass es die Grundregel des Lebens ist, jeden Tag von freundlichen Mitgliedern der menschlichen Rasse gefüttert zu werden, die „dabei nur sein Wohl im Auge haben“, wie ein Politiker sagen würde. Am Nachmittag des Mittwochs vor dem Erntedankfest wird dem Truthahn dann etwas Unerwartetes widerfahren, und er wird seine Überzeugung revidieren müssen.

(Nassim Nicholas Taleb, Zitat aus seinem Buch „Der Schwarze Schwan – Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse“)

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