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Fummelt nicht an komplexen Systemen!

von Ingo Nöhr

Ingo Nöhr zum September 2024

Nach dem letzten Stammtischgespräch über die gesteigerte Blasenbildung in unserer Gesellschaft nähern sich die beiden Klinikstrategen den Auswirkungen von unausgegorenen Entscheidungen. Das Fazit vom letzten Monat könnte lauten: Öffnet vorher die Türen Eurer Echoräume für alle betroffenen Personen und versucht ihre abweichenden Meinungen zu verstehen. Nehmt Eure Kritiker immer ernst.

Aber in der Realität zeigt sich leider oft, dass damit nicht alle Probleme zu lösen sind. Unser beschränkter Horizont umfasst zwar das Wissen über das verfügbare Wissen, und bei selbstkritischer Reflektion auch über unsere Wissenslücken. Aber was ist mit unserer fehlenden Erkenntnis über alles, was wir noch nicht Wissen, aber wissen sollten?

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Hallo Ingo, hast du schon gehört? Unsere Stadtverwaltung will uns unsere Brötchentaste wegnehmen. Die Stadt hat 14 Millionen Miese, muss sparen und an allem wird jetzt der Rotstift angesetzt.

  • Morgen, Jupp. Dass viele Kommunen schon pleite sind, hat sich ja wohl schon herumgesprochen. Erklär mir mal bitte, was ist eine „Brötchentaste“. Ich habe keine zu Hause und habe sie bisher auch nicht vermisst. Kostet sie denn so viel Geld?

Nein, eigentlich spart sie Geld. Dem Bürger, wenn er schnell seine Brötchen kaufen will. Da unsere Stadt mit Parkuhren zugepflastert ist, würde er für die wenigen Minuten kein volles Ticket kaufen wollen. Und da haben sich unsere Stadtoberen, natürlich erst auf massivem Druck unserer Geschäftswelt, eine sinnvolle Ergänzung an Parkautomaten ausgedacht. Statt zu bezahlen, drückt man eine grüne Taste und darf für maximal 30 Minuten kostenlos parken. Eben um mal schnell um die Ecke kleine Einkäufe zu erledigen.

  • Das ist doch eine Super-Idee. Damit könnte man vielleicht das Ladensterben in den Innenstädten aufhalten. Ich plädiere dafür, die Parkgebühren ganz abzuschaffen. Dann müsste man nicht mehr so viel bei Amazon und Zalando bestellen oder zu den Supermärkten auf dem Land fahren.

Nun, es gibt schon 361 Parkplätze mit dieser Brötchentaste und die wurden letztes Jahr 385.727mal gedrückt.

  • Ich sage doch: ein Erfolgskonzept. Mehr davon.

Ja, aber ein Erbsenzähler im Rathaus hat folgende Rechnung aufgemacht: Durch das kostenlose Parken sind denen rund 150.000 Euro an Einnahmen entgangen, wenn man die erste halbe Stunde mit 50 Cent berechnen würde.

  • 150.000 Euros bei 14 Millionen Schulden fallen ja unter die Portokosten oder? Und dafür will man die autofahrenden Einkäufer vergrätzen?

Ja richtig, er soll ja weiterhin seine Brötchen und sonstigen Kleinkram in der Innenstadt kaufen. Aber diesmal in 15 Minuten statt 30. Das bringt dann wenigstens 75.000 Euro in den leeren Stadtsäckel.

  • Und es dient der körperlichen Ertüchtigung. Ich sehe schon in unserer vergreisenden City die Rollatoren im Rudel zum Bäcker sprinten, wo sich dann die Kunden um die wertvolle Zeitersparnis balgen. Und wie war die Reaktion im Rat? Sind da keine Senioren drin?

Ein Ratsherr, der immer in größeren Dimensionen denkt, stellte die Frage, ob es sich überhaupt lohne, über solches „Kleinvieh“ zu debattieren. „Doch, wir müssen darüber reden“, antwortete SPD-Vertreter, „Haushalts-Konsolidierung ist schwierig. Es ist heute nicht der große Wurf, aber reden müssen wir darüber.“ Ins selbe Horn stieß eine Dame von den Grünen: „Wir sollten darüber diskutieren und abstimmen, auch wenn die Summen noch so klein sind, auch wenn wir nicht an den großen Stellschrauben drehen können.“ Aber die Spielverderber von der CDU waren dagegen: „Unsere Innenstadt wird immer unattraktiver. Die Brötchentaste ist Wirtschaftsförderung für die Innenstadt. Wir bleiben dabei.“

  • Das Schlagwort „an der Stellschraube drehen“ in der Politik hat schon seit Generationen Unheil angestiftet. Man findet ein Problem, sucht nach einer Stellschraube und schon löst sich das Ärgernis auf elegante Weise. Deswegen hat heute Australien eine Invasion von 200 Millionen Kaninchen, müssen in China nach Pestizideinsatz die Obstbäume mühsam mit Leitern und Pinseln von Hand bestäubt werden, – und Minister Habeck fiel mit seinem Heizungsgesetz mächtig auf die Nase.

Ingo, du solltest nicht auf die Grünen schimpfen, schließlich kämpfen sie mit ihrem erneuerbaren Energiekonzept erfolgreich gegen den Klimawandel. Windkraft war im Jahr 2023 mit einem Anteil von 31 % wichtigster Energieträger für die Stromerzeugung in Deutschland.

  • Ja, der Ausbau der Windenergie ist schon beeindruckend. Aber was zahlen wir für einen Preis dafür? Für den Bau eines Windradflügels werden im Amazonasgebiet 40 Balsaholzbäume geschlagen. Die Bundesregierung will bis 2032 zwei Prozent der deutschen Landfläche für die Windenergie freigeben, auch in den Landschaftsschutzgebieten und Wäldern. Es wird ein Boom bei den Windparkbetreibern erwartet, da fette Gewinne locken.

Das ist doch super, Ingo. Nach der Altmaier-Delle von 2018/2019, als kaum noch Windräder aufgestellt wurden, geht es jetzt wieder stramm aufwärts. Und wo siehst du die Nachteile?

  • Jupp, pass auf: „Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie die Natur.“ Dieser Spruch sollte bei allen politischen Entscheidungen beherzigt werden – am besten im Bundestag und Kanzleramt in die Wand eingemeißelt. Warum? Die Natur lässt sich nicht streicheln. Mein alter Kollege Wolfgang hat mir kürzlich ein Video über die aktuelle Situation geschickt. Es zeigt breite Schneisen in den Wäldern, um dort die Windräder aufstellen zu können. Auf der Bodenfläche der Kahlschläge werden 47,6°C gemessen, während im Unterholz 30°C herrschen. Die heiße Luft nimmt viel Wasser auf und verstärkt dadurch die Trockenheit im Wald. Die Schneisenränder bieten zudem eine gefährliche Angriffsfläche bei Stürmen. Nach der Waldzustandserhebung von 2023 ist nur noch jeder fünfte Baum gesund. Wir sparen zwar schön CO2 ein, aber jeder gesunde Baum würde 18 Liter Sauerstoff pro Stunde produzieren und zehn bis zwanzig Kilogramm CO2 pro Jahr binden. Die Natur ist ein Superbeispiel für komplex-dynamische Systeme.

Mir fällt gerade ein passender Spruch zum Bundestag ein: die meisten Menschen in Großstädten kommen mit der Natur nur noch in Kontakt, wenn sie in einen Hundehaufen treten.

  • Albert Einstein hat mal gesagt: „Die Natur hat es sich nicht angelegen sein lassen, uns die Auffindung ihrer Gesetze bequem zu machen.“ Vielleicht sollten wir alle Parlamentssitzungen in die freie Natur verlegen. Und die Kabinettssitzungen sollten grundsätzlich im Wald stattfinden, um die Blasenbildung zu mindern. Auf jeden Fall ohne irgendwelche Lobbyisten.

Ingo, ich erinnere mich gerade an unser Gespräch im Mai 2021 über das komplex-dynamische Covid-19 Virus. Das ist ja gerade ganz aktuell, da es um die Aufarbeitung geht, die augenscheinlich jeder Politiker fürchtet. Ich fragte dich damals, ob die Corona-Pandemie sich auch in einem solchen komplexen System abgespielt hat. Und du hast laut unserer Aufzeichnung geantwortet: „Klar Jupp, die Ministerpräsidenten haben in ihrer Echokammer nur einen begrenzten Einblick in das Geschehen gehabt. Sie hätten wegen der Komplexität viel öfter zusätzliche Fachleute aus den medizinischen Disziplinen, Psychologen, Pädagogen, Soziologen, Mathematiker und neutrale Wirtschaftsexperten einbeziehen müssen und vor allem auf unbequeme Kritiker hören sollen. Die Dynamik, die durch neue Erkenntnisse der Virologie und Epidemiologie, aber auch durch permanente Mutationen des Virus gestaltet wird, kann mit den langen Entscheidungswegen, den Kommunikationsdefiziten und der extrem langsam reagierenden Bürokratie nicht aufgefangen werden.“

  • Jupp, ich glaube das große Missverständnis bei unseren Entscheidungsträgern liegt oft im Unverständnis, komplizierte Sachverhalte von komplexen zu unterscheiden. Komplizierte Probleme basieren auf Ursache-Wirkungs-Ketten, sie sind vorhersagbar und kontrollierbar. Komplexe Zustände dagegen sind lebendig, nicht kontrollierbar und vorhersagbar, denn die dynamische Interaktion zwischen den vernetzten Elementen sorgt für Diskontinuitäten. Das politische Weltbild orientierte sich bei den Corona-Maßnahmen an dem Ideal eines homogenen Staatsbürgertums, welches aus Angst alle Einschränkungen schadlos mitmachen würde. Dabei wurde in das komplexe Gesellschaftssystem mit groben Werkzeugen eingegriffen und blind an einigen „Stellschrauben“. Wir werden noch viele Jahre an den Schadwirkungen sowie den Vertrauensverlust in den angeblich so fürsorglichen Staat leiden.

Ingo, ich möchte nach unserem tiefsinnigen Gespräch heute wieder auf eine lineare Ursache-Wirkungs-Kette zu sprechen kommen. Wenn ich laut rufe, „Herr Wirt, bitte zwei Bier“ läuft ein nicht-komplexer Prozess ab und hinterlässt bei uns Drei eine Win-Win-Situation.

  • Recht gesprochen, lieber Jupp. Aber betrachtet man den Weg aller Bestandteile haben wir es doch mit einem komplizierten Prozess mit einigen komplexen Komponenten sprich Menschen zu tun. Also Prost.

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Die bedeutenden Probleme im Leben können nicht auf dieselbe Art und Weise gelöst werden wie sie entstanden sind. (Albert Einstein)

Warum macht uns High-Tech nicht glücklich? Weil technischer Fortschritt immer komplexere Systeme hervorbringt, die uns immer mehr Wachsamkeit und Vorausschau abverlangen. Die Folge sind paradoxe „Rache-Effekte“: Technik, die frustriert, unsere Nerven strapaziert. Denn je komplexer die Technik, desto unabsehbarer ihre Langzeitwirkungen und desto größer die ständige Wachsamkeit, die sie uns abverlangt. „Menschliches Versagen“ ist damit programmiert.
(Edward Tenner, zitiert aus seinem Buch „Die Tücken der Technik“, erschienen 1996).

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