Die Welt ist aus den Fugen geraten
von Ingo Nöhr
Ingo Nöhr zum 1. November 2024
Oleks, der Ex-Nachbar von Jupp, hatte sich bekanntermaßen vor zwei Jahren mit seiner Lebensgefährtin Doris in Jupps Garten eingenistet, um dort Zuflucht als Impfverweigerer zu finden. Aus Dankbarkeit hat er dort mit dem Bau eines Atombunkers begonnen, der allerdings angesichts des Ausbleibens von Angriffen mit Nuklearraketen jetzt als Partykeller und komfortable Wohnung dient.
Dieser Olek also schlägt nun erneut Alarm: die Dooms-Day-Clock steht danach auf 90 Sekunden vor der Auslöschung der Menschheit. Gleich drei Nuklearmächte liebäugeln angeblich mit einem Einsatz ihren Atomwaffen: Russland, Iran und Israel. Der Atombunker soll angesichts der aktuellen Nachrichten unbedingt fertiggestellt werden. Ein wichtiger Grund, dass sich Ingo und Jupp aus ihrer selbstverordneten Medienisolation lösen und mal wieder die aktuellen Nachrichten studieren. Das zu erwartende Ergebnis beim Stammtischgespräch bleibt nicht aus: Fassungslosigkeit.
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Guten Morgen, Ingo. Solange wir uns noch einen guten Morgen wünschen können. Wo sind wir hineingeraten? Haben wir einen Zeitsprung erlebt? Wir hatten uns doch gerade mal zwei Jahre vom politischen Geschehen ausgekoppelt? Erleben wir gerade eine neue Pandemie mit einem Virus, der die Gehirne befällt?
- Hallo lieber Jupp, ich kann deine Aufregung gut verstehen. Auch ich habe die disruptive Veränderung im Weltgeschehen verpasst. Vermutlich, weil wir auf einer Insel der Seligen leben. Wir haben keine Naturkatastrophen erlebt, haben die Zeitungen abbestellt und in der Mediathek nur noch Dokumentationen angeschaut und gute Bücher gelesen. Ansonsten waren wir mit der Natur in unseren Gärten im Reinen und unsere sozialen Kontakte bezogen sich nur auf liebenswerte Menschen.
Wir sind ja auch nicht krank geworden, sonst hätten wir die Misere im Gesundheitswesen schnell am eigenen Leibe verspürt. Lange Wartezeiten bei den Ärzten, Engpässe bei bestimmten Medikamenten (und sogar Kochsalzlösungen!) in den Apotheken, drohender Kahlschlag in der Krankenhaus-Landschaft. Anscheinend ist unser Minister Karl Lauterbach auch vom Hirnvirus infiziert: er stürzt gerade Hunderte von Kliniken in Existenzängste.
- Aber, mal langsam, lieber Jupp. Wir wissen doch schon seit vielen, vielen Jahren, dass wir uns mit heute 1700 Krankenhäusern immer noch die höchste Dichte an Betten und damit auch die teuerste Krankenversorgung in Europa leisten. Ich erinnere mich, dass schon vor langer Zeit von der Anzahl von 500 Kliniken gesprochen wurde, die geschlossen werden sollten, vor allem auch im Ruhrgebiet. Ein hoher Prozentsatz der Behandlungen ist unnötig und dient nur für die Vermeidung der roten Zahlen. Also da setzt ein Gesundheitsminister endlich mal eine notwendige Reform durch. Ob sie in dieser radikalen Form durchgeführt werden sollte, darüber darf man natürlich streiten.
Und der Betreuungsnotstand für uns im Alter? Jetzt reisen Annalena Baerbock und Arbeitsminister Heil nach Brasilien, um Pflegepersonal für Deutschland anzulocken. Die Bundesagentur für Arbeit hat im Jahr jedoch 2022 gerade einmal 656 Pflegekräfte aus dem Ausland nach Deutschland vermittelt. Bei einem akuten Bedarf von 180.000 Pflegekräften müssen die Beiden noch die nächsten zweihundert Jahre auf Werbetourneen gehen.
- Jupp, warum denn erst nach Brasilien reisen? Unsere Automobilindustrie könnte doch mit Umschulungen einspringen: der Volkswagen-Konzern will mindestens drei Werke schließen, zehntausenden Mitarbeiter kündigen und allen Gehaltskürzungen auferlegen. Die meisten Fabrikarbeiter sind den Umgang mit Robotern gewohnt und die kämen doch locker auch mit den Pflegerobotern aller Art klar. Dumm nur, dass VW das Jahr 2023 mit einer Rendite von 2,3% abgeschlossen und im Juni 4,5 Milliarden Euro Dividende an die Aktionäre ausgeschüttet hat. Da fällt der Hilferuf nach Staatshilfe etwas unglaubwürdig aus.
Ingo, der Fisch stinkt vom Kopf. Das wichtigste Symptom für den Virusbefall gab es doch letzte Woche zu sehen. Erinnerst du dich noch an die dynamische Viererbande Ende 2021: vor Erfolg und Harmonie strotzend präsentierten Scholz, Lindner, Habeck und Baerbock die frischgegründete Ampelkoalition und ein Raunen ging durch die Nation. Mit mehr „Fortschritt wagen“ und „Führung zeigen“ sollte eine neue Politik eingeläutet werden. Jetzt ist nur noch ein desolater, völlig zerstrittener Haufen zu sehen, ohne Ideen und Strategien, aber mit zwei konkurrierenden Wirtschaftsgipfeln gleichzeitig, die bewusst nicht untereinander koordiniert wurden.
- Der Hirnvirus scheint sich schon weltweit verbreitet und dabei bewährte Aggressionsschranken der menschlichen Zivilisation gefressen zu haben. Putin bombardiert Ukraine mit seiner gesamten Kriegswirtschaft und ruiniert langfristig seine Ökonomie. Erdogan fliegt gerade Angriffe in den Irak und Syrien. Nordkoreas Diktator schickt über 10.000 unerfahrene Soldaten in den fast sicheren Tod an die russische Front. Netanjahu greift den Libanon und Iran an, nachdem er schon den Gaza-Streifen in eine Trümmerwüste verwandelt hat. Die UN steht fassungslos vor den Trümmern des Völkerrechts und keiner hört mehr auf sie. Ihre Hilfsorganisation für Palästina UNRWA hat sogar gerade Hausverbot in Israel erhalten. Damit sind auch alle Zugänge in den Gazastreifen blockiert und die Millionen Flüchtlinge ihrem Schicksal überlassen.
Also Ingo, der Zustand der gegenwärtigen Welt übersteigt schon jetzt mein Fassungsvermögen, aber in einer Woche könnte die Menschheit vor einer noch schlimmeren Prüfung stehen. Als alter Risikomanager kann ich mir den Schlimmsten Fall nur noch als Horrorszenario vorstellen.
- Du meinst die Wahlen in den USA, wenn Trump gewinnen sollte. Er hat ja vorher schon erklärt: wenn er nicht ausreichend Stimmen für den Sieg erhalten sollte, haben die Demokraten ihn erneut um die Wählerstimmen betrogen. Und seine Chancen stehen 50:50, dass er gewinnt.
Kannst du dir in deiner Fantasie überhaupt ausmalen, was dieser Psycho in kürzester Zeit in unserer Welt anrichten könnte?
- Nun ja, er hat es doch schon detailliert aufgelistet: alle seine verurteilten Freunde in den Gefängnissen werden sofort amnestiert, er ist natürlich einbezogen. Das neu besetzte Justizministerium hat als wichtigste Aufgabe die Verfolgung seiner Gegner, vor allem auch in der freien Presse. Jeff Bezos als Zeitungsverleger hat ja augenblicklich vor Angst die Hosen voll. Nach einem kurzen Telefonat mit seinem Freund Putin wird er umgehend den Ukraine-Krieg beenden. Naturschutzgebiete werden für die Ölförderung freigegeben, europäische Hersteller mit Schutzzöllen überzogen. Und zwischendurch will er wieder bei jeder Gelegenheit ausspannen und Golf spielen.
Die US-Amerikaner sind ja bis an die Zähne bewaffnet. Da werden politische Diskussionen und persönliche Unstimmigkeiten schnell mal nach alter Wild-West-Manier mit einem Schusswechsel geklärt. Und alle Nichtamerikaner will er des Landes verwiesen. Hoppla, seine Frau Melania ist ja ursprünglich auch aus Slowenien eingereist. MAGA – Make America Great Again – aber nur mit den echten Amerikanern. Und schon wieder hoppla: Eigentlich sind fast alle US-Amerikaner ja auch als frühere Migranten eingewandert. Die „echten“ Amerikaner leben in den Indianer-Reservaten.
- Ich denke mal weiter, Jupp. Die Weltwirtschaft ist ein komplex-dynamisches System und reagiert unvorhersehbar auf Eingriffe. Mit seiner MAGA-Philosophie könnte Trump in den nächsten Jahren Schiffbruch erleiden, angesichts des letzten Treffens der BRICS-Staaten im russischen Kasan. Ursprünglich waren es bei der Gründung nur fünf Staaten: Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika. In Kasan haben letzte Woche bereits 22 Staats- und Regierungschefs aus 36 Ländern teilgenommen, allein 30 warten auf eine Aufnahme in das Bündnis. Gemeinsames Ziel: die Abhängigkeit von der westlichen Wirtschaftswelt zu beseitigen durch ein eigenes Zahlungssystem ohne SWIFT und US-Dollar sowie einen massiven Widerstand gegen die weitere Ausplünderung ihrer Bodenschätze. Die jetzigen BRICSplus Mitglieder repräsentieren bereits 45% der Weltbevölkerung und 30% der globalen Ölproduktion.
Ingo, ich erinnere mich gerade daran, dass in der jüngeren Geschichte Deutschlands nicht nur einmal eine einzige Person mit seiner Entscheidung ein ganzes Reich ruinieren konnte. Kaiser Wilhelm II löste mit seiner trump‘schen Großspurigkeit 1914 nach dem Attentat von Sarajevo den Ersten Weltkrieg aus. Das führte vier Jahre später zum Ende der Monarchie und seinem Exil in den Niederlanden.
- Jupp, ich glaube, wir sollten unsere Krisenszenarien jetzt beenden und uns wieder in unsere privaten Paradiese zurückziehen. Am 6. November schauen wir mal kurz in die Nachrichten und überlegen, was diese verrückte Welt denn in unserem privaten Leben verändern könnte. Im schlimmsten Fall möchte ich bei einem Atomkrieg nicht in deinem Bunker hocken und elendig in einer verstrahlten Wüste um mein Leben kämpfen, sondern lieber in einem Sekundenbruchteil eines Lichtblitzes alle meine Atome ins Weltall beamen.
Du hast Ingo recht, wir können die aus den Fugen geratene Welt nicht ändern, geschweige denn verstehen und sollten daher keine weitere Minute unserer Lebenszeit mit solchem Blödsinn verschwenden. Wenden wir uns wieder den angenehmen Menschen zu und genießen vor allem die Natur, die eine selbstmörderische Menschheit locker überleben wird. Lass uns nach alter Tradition das bewährte Naturheilmittel anwenden – Herr Wirt, bitte zwei Bier. Aber bitte möglichst noch vor dem Weltuntergang servieren!
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„Die Welt ist aus den Fugen geraten“ - Rede von Außenminister Frank-Walter Steinmeier beim Deutschen Evangelischen Kirchentag, Stuttgart am 07.06.2015
Vor genau 32 Jahren stand Willy Brandt auf dem Podium des Kirchentages und fragte, ob die Regierungen selbst der mächtigsten Staaten überhaupt etwas ausrichten könnten gegen den großen Unfrieden dieser Welt. Und schon damals fiel ihm die Antwort nicht einfach! …
Heute, 32 Jahre nach Willy Brandts Rede, ist diese Welt keineswegs friedlicher geworden. So lange ich denken kann, kann ich mich an keine Zeit erinnern, in der internationale Krisen in so großer Zahl an so vielen Orten gleichzeitig auf uns eingestürmt wären wie heute. …
Deshalb war ich in der vergangenen Woche unterwegs: von Kiew aus zu Notunterkünften für Vertriebene in Dnjepropetrowsk in der Ostukraine; über Jerusalem, Ramallah in den Gaza-Streifen, wo über den Ruinen des letzten Krieges neue Eskalation droht. …
Was kann man da schon machen? Macht das alles Sinn: reden, verhandeln – ohne Garantie für Erfolg?
Willy Brandt gab damals hier auf dem Kirchentag eine wunderbare Antwort auf diesen Zweifel. Er sagte: „Weitab entfernt von jeder Götzenanbetung, was [unsere] Macht [und Einflussmöglichkeiten] betrifft, ist mir doch kein Weg ersichtlich, anders unseren hilfreichen Beitrag zu leisten, als durch die Bereitschaft, Verantwortung zu tragen. So verlockend das Gegenteil für den Frieden mancher Seele ist – es führt zu keinem vernünftigen Ende.“
Was heißt das? Ganz schlicht: Verantwortung für den Frieden zu übernehmen ist immer anstrengend, meistens riskant, oft von Zweifeln begleitet, selten mit den einfachen, den schwarz-weißen Antworten zu haben, und niemals von schnellen Erfolgen gekrönt.
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Als letzte Institution auf der Welt wird vermutlich das diplomatische Protokoll verschwinden. Seine Vertreter werden sich vermutlich bemühen, auch noch den Weltuntergang in würdiger Form zu regeln.
(Roger Peyrefitte, französischer Schriftsteller und Diplomat)
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Die letzte Stimme, die man hört, bevor die Welt explodiert,
wird die Stimme eines Experten sein, der sagt: 'Das ist technisch unmöglich!'
(Peter Ustinov)
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