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INGOs NÖHRgeleien August 2024

von Ingo Nöhr

Die Logik des Misslingens

Ingo Nöhr zum 1. August 2024

Der Sommer 2024 ist nicht nur aus klimatischen Gründen sehr unruhig. Die ungeschwärzten RKI-Protokolle haben in Berlin kürzlich Tausende von Querdenkern auf die Straße gebracht. AFD und Rechtsradikale wittern Aufwind nach den Europa-Wahlen. Die Kriegsgefahr steigt gerade rapide an, insbesondere in Nahost und der Ukraine. Deutschland hat bei der Fußball-EM mit den Begleitumständen bei der Versorgung seiner Gäste ein irritierendes Bild zu seiner Leistungsfähigkeit abgegeben. Bei der Eröffnung der Olympiade in Paris konstatieren die Teilnehmer und Zuschauer in Asien und Afrika verärgert die Dominanz der LGBTQ-Kultur. Das Ringen der amerikanischen Republikaner und Demokraten um die künftige Macht im Weißen Haus wird durch das Auftauchen von Kamala Harris wieder weltweit spannend. Und global hat sich die drohende Klimakatastrophe von den immer lauter vorgebrachten Besserungsbeteuerungen der Regierenden bislang nicht besonders beeinflussen lassen.

Kurzum – die Welt rotiert anscheinend einen Zacken schneller und die beiden Krankenhaus-Rentner forschen bei ihrem Stammtischgespräch nach den tieferen Zusammenhängen.

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Guten Morgen, Jupp. Schau mal hier, ich habe dir etwas mitgebracht. Das Deutsche Ärzteblatt schreibt auf dem Titelblatt über die Krankenhausreform: „Welche Häuser müssen schließen?“

  • Interessant, Ingo, aber ich darf darauf hinweisen, dass wir unseren Arbeitsplatz und damit die Verantwortung und den damit verbundenen Ärger schon viele Jahre hinter uns gelassen haben. Was ist denn daran besonders?

Ich zitiere mal, Jupp: „Es ist ein bemerkenswertes Paradoxon: Einerseits betonen Gesundheitspolitiker seit Jahren, in Deutschland gebe es zu viele Krankenhäuser und Krankenhausbetten. Andererseits geben sich Landespolitiker äußerst zurückhaltend, wenn es darum geht, über die Krankenhausplanung einzelne Häuser zu schließen.“

  • Ach Ingo, da kommt doch jetzt unser Lauterbach mit seiner Krankenhausreform im KHG. Dafür wird er bereits heftig von allen Seiten verprügelt. Nur die Ampel steht noch hinter ihm.

Die Ampel? Jupp, hier steht: „Ein Ziel der Krankenhausreform von Union und SPD ist der Abbau von Überkapazitäten. Experten aus Praxis und Lehre erklären, welche Auswirkungen sie sich von den geplanten Neuregelungen erwarten, welche Krankenhäuser wirtschaftlich überleben werden – und welche nicht.“

  • Moment mal, Ingo: Union und SPD ziehen an einem Strang? Das kann doch nicht sein. Zeig mal das Heft her! … Mann, Ingo! Das ist ja die Ausgabe 24 vom 12. Juni 2015!! Das ist ja eine uralte Meldung! Wieviel Krankenhaus-Reformen haben wir denn seitdem wieder durchgezogen?

Insgesamt dürften sich die Regierungen seit Ende der 1970er Jahre an über zwei Dutzend Reformen versucht haben. Eine unendliche Geschichte. 1988 wählte die Gesellschaft für deutsche Sprache das Wort „Gesundheitsreform“ zum Wort des Jahres, 1996 war es einer der Kandidaten für das Unwort des Jahres.

  • Also Ingo, irgendetwas läuft in unserem politischen System grundlegend falsch. Und nicht nur hier. Erinnere dich an das dilettantische Heizungsgesetz der Ampelkoalition. Oder die riesigen Geldverschwendungen: Stuttgart 21, Berlin-Flughafen, Maskendeals und Impfstoffeinkäufe. Warum schafft unsere Politik bei diesem unglaublich kostspieligen Einsatz von Tausenden von Beratern keine nachhaltigen Lösungen?

Jupp, ich glaube, da spielen gleich mehrere Denk- und Entscheidungsfehler eine Rolle, die seit Jahrzehnten bekannt sind. Zunächst einmal unterliegen viele inkompetente Entscheider und vor allem auch selbsternannte Experten der kognitiven Dissonanz. 1999 beschrieben die Sozialpsychologen Dunning und Kruger folgenden Effekt: weniger kompetente Personen neigen dazu, ihre eigenen Fähigkeiten zu überschätzen, überlegene Fähigkeiten bei anderen nicht zu erkennen. Dabei können sie das Ausmaß ihrer Inkompetenz selbst nicht richtig einschätzen. Diese Leute bevölkern nun als Berater die Umgebung von Entscheidern, welche die Folgen durch das verwendete Fachchinesisch kaum übersehen können.

  • Paul Watzlawik hat es mal treffend formuliert: „Wer als Werkzeug nur einen Hammer hat, sieht in jedem Problem einen Nagel.“ Unsere Fachärzte sind dafür ein exzellentes Beispiel. Ich erinnere mich an den Ministerpräsidentenrat, den Angela Merkel während der Pandemie einberufen hat. Diese Gruppe hat an Parlament und Fachgremien vorbei Maßnahmen beschlossen, die heutzutage nur noch Kopfschütteln auslösen. Es gab aber doch als interdisziplinäres Beraterteam den RKI-Krisenstab, der sich bemühte, wissenschaftlich fundierte Grundlagen für Beschlüsse zu erarbeiten.

Jetzt, wo die RKI-Protokolle komplett und ungeschwärzt vorliegen, ist ersichtlich, dass die angeblich so unabhängigen RKI-Experten immer wieder unter politischen Druck geraten sind, um unangenehme Beschlüsse der Ministerrunde zu begründen. Allerdings waren die RKI-Leute mit ihren abweichenden Meinungen nicht immer auf der Regierungslinie.

  • Stichwort: „Pandemie der Ungeimpften“ – von RKI als Schlagwort abgelehnt, aber von Jens Spahn und Konsorten mit Inbrunst bei allen Gelegenheiten verkündet. Da wurde die wissenschaftliche Meinung einfach ignoriert. Man nennt das wohl Confirmation Bias: man akzeptiert nur die Informationen, welche die bereits bestehende Ansicht bestätigt, und klammert alles andere aus.

Da stimme ich dir zu, Jupp. Dieser Effekt hat noch weiterreichende Auswirkungen: er führt zur Bildung von Blasen. Nimm nur mal die ganzen Verschwörungstheoretiker, die so absurde Vorstellungen von der Realität haben. Religiöse Sekten, Reichsbürger, die US-amerikanischen Republikaner – überall findest du abgeschlossene Gruppen, die in Social Media und Webseiten ihre gefilterten Informationen austauschen und den Zusammenhalt durch das Gruppenerlebnis vertiefen.

  • Glaubst du, Ingo, dass dieser Effekt auch bei dem vermurksten Heizungsgesetz eine Rolle gespielt hat?

Ja, Jupp, nicht nur hier. In vielen Entscheidungsgremien fehlt es an einer entscheidenden Besetzung und Kommunikation. Walt Disney hat dies nach einem unerwarteten Flop des ersten gezeichneten Films selbst erfahren. Daraufhin hat er ein Werkzeug mit drei Personen entwickelt: für ein Projekt startet der „Träumer“ mit seiner Vision, ohne sich Gedanken um die praktische Umsetzung zu machen. Der „Realist“ sucht nun als erfahrener Macher nach pragmatischen Handlungsmöglichkeiten und Ressourcen. Sein Konzept wird anschließend dem „Kritiker“ vorgelegt, der als „Advocatus Diaboli“ gnadenlos alle Schwachstellen der Idee und Umsetzung herauskristallisiert. Sein Bericht geht nun wieder zum Träumer, der seine Visionen entsprechend anpassen muss. Und mit dieser Modifikation geht es erneut in die Runde.  

  • Aha, ich verstehe Ingo. Die Grünen sind die Visionäre, denen mangels Politikerfahrung die geeigneten Macher fehlen. Ihre unbedachten Beschlüsse werden ihnen dann öffentlichkeitswirksam von den Kritikern um die Ohren gehauen. Hätten sie die einfach mal von Anfang an einbezogen, wäre ihnen die Blamage erspart geblieben.

Leider hat dieser Kommunikationsfehler noch eine weitere Konsequenz: den Negativity Bias. Negative Ereignisse und Erfahrungen bleiben immer stärker in Erinnerung als positive. Die Erfolge der Ampelkoalition verblassen dadurch und keiner redet mehr darüber. Und es gibt weitere Beispiele: Die Long-Covid-Fälle und Impfnebenwirkungen stehen zahlenmäßig in keinem Verhältnis zu den millionenfachen Schutzwirkungen der Impfungen, gewinnen aber in den Medien zunehmend an Bedeutung. So ist es auch Joe Biden passiert: die gute Bilanz seiner Regierungszeit wird durch seine mediale Hinfälligkeit und Ausfälle überstrahlt. Nun profitiert Kamala Harris vom Halo Effect: Die Sehnsucht nach der jüngeren Hoffnungsträgerin verdeckt ihre früheren Schwächen als Vizepräsidentin.

  • Ja, und der liebe Donald Trump wurde plötzlich vom Schwarzen Schwan überrascht und muss nun um seine Wiederwahl kämpfen. So passiert es eben, wenn man die gegenwärtige Situation einfach in die Zukunft fortschreibt und keinen Plan B hat.

Nun, Jupp, Trumps-Gegner ist die freie Presse in den USA, welche den Andersmeinenden große Reichweiten verschafft. Dagegen hat Putin durch die Gleichschaltung aller Medien seine Position als Diktator beim Wählervolk abgesichert. Seine Propagandamaschine hat durch die permanente Wiederholung bei den meisten Russen ein schiefes Weltbild aufgebaut, welches kaum durch alternative Meldungen erschüttert werden kann.

  • Ingo, jetzt kommt mir aber doch ein ketzerischer Gedanke. Sind wir in Deutschland und Europa etwa ebenfalls einer unbemerkten Propaganda ausgesetzt? Ich erinnere mich an die Folge 3 der Anstalt im ZDF von 2014, als Claus von Wagner und Max Uthoff anhand ihrer Recherchen die vielfältigen Verbindungen von Journalisten und Politiker zu NATO-Lobby-Organisationen und transatlantischen Bündnissen darstellten. Wie können wir denn sicher sein, dass wir nicht auch einer umfassenden Meinungsmanipulation unterliegen? Hocken wir vielleicht auch in einer amerikanischen Blase und werden nur gefiltert gefüttert?

Nun, mein lieber Jupp, ich denke mal, wir in Deutschland können diese Filterblase noch so lange verlassen, wie wir Zugang zu alternativen Informationen haben, etwa zu unabhängigen Journalisten im Internet oder den „Nestbeschmutzern“ der ZDF-Anstalt. Sehr hilfreich ist es auch, mal auf die Menschen zu hören, die uns ohne Scheuklappen besuchen und beobachten. Ich denke da an die ausländischen Besucher zur Fußball-EM oder zur Olympiade in Paris. Hast du dir schon mal angehört, was unsere europäischen Nachbarn über die so perfekten Deutschen gelernt haben. Oder was die afrikanischen und asiatischen Besucher zur westlichen, sprich abendländischen Kultur sagen? Da entwickelt sich gerade ein ganz neues Selbstverständnis gegenüber „dem dekadenten Westen“ – Stichwort: Globaler Süden. Wir werden nicht mehr so ernst genommen. Unsere Reputation schwindet zusehens, aber wir ignorieren diese Tatsache weitgehend.

  • Kann ich nachvollziehen, Ingo. Schließlich verantwortet der Westen mit seinem Ausstoß an Treibhausgasen bereits die Klimakrisen in über 40 Ländern. Bei diesen betrüblichen Aussichten lass uns jetzt zum Trost zu einem weltweit renommierten Produkt greifen: dem deutschen Bier. Prost auf die Zukunft, die hoffentlich nicht so linear verläuft, wie wir es befürchten müssten.

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Gut und Böse, Kapitalismus und Kommunismus, West und Ost – unsere moderne Welt scheint stets in zwei Lager geteilt zu sein. Die westliche Erzählung der Welt gehört längst der Vergangenheit an. Staaten des Globalen Südens treten mit zunehmendem Selbstbewusstsein auf, stellten individuelle Forderungen an die globale Politik und werden zu immer bedeutenderen Bündnispartnern im Kampf gegen die Herausforderungen der heutigen Zeit, – für den Westen bedeutet das einen Epochenbruch, ein seit Jahren fortschreitender Prozess von einer unipolaren hin zu einer komplexeren multipolaren Welt.

(Johannes Plagemann und Henrik Maihack, Zitate aus ihrem Buch
„Wir sind nicht alle – Der Globale Süden und die Ignoranz des Westens“)

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In komplexen, vernetzten und dynamischen Handlungssituationen macht unser Gehirn Fehler: Wir beschäftigen uns mit dem ärgerlichen Knoten und sehen nicht das Netz. Wir berücksichtigen nicht, dass man in einem System nicht eine Größe allein modifizieren kann, ohne damit gleichzeitig alle anderen zu beeinflussen.

Dietrich Dörner, Zitat aus seinem Buch „Die Logik des Misslingens – Strategisches Denken in komplexen Situationen“

 

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