Nehmt den EU-Bürokraten die Computer weg!
von Ingo Nöhr
Jupp hat wieder einen Notruf abgesetzt. Ich solle unbedingt bei ihm vorbeikommen. Der verzweifelte Unterton in seinem Anruf verhieß nichts Gutes. Ich machte mich also auf den Weg. Sollte eine neue Runde Familienmanagement anstehen? Ich war auf alles gefaßt.
Jupp war hinter seinen auf dem Schreibtisch aufgebauten Ordnern kaum zu sehen. Ich las gut bekannte Titel: Sicherheitsvorschriften für Medizinprodukte, Medizinproduktegesetz – MPG, Handbuch Medizintechnik, usw. nebst etlichen Fachbüchern zum selben Thema. Allein anderthalb Meter an einschlägigen Loseblattwerken.
„Jupp, lass mich raten: In deiner Küche hast du etliche Medizinprodukte entdeckt und du stellst nun die dazugehörigen Sicherheitstechnischen und Meßtechnischen Kontrollen zusammen. Stimmt’s?“ stichelte ich eingedenk früherer Erfahrungen.
„Unsinn, da liegst du total daneben.“ knurrte er unwirsch und haute mit der flachen Hand auf einen dicken Papierstapel. Eine leere Cola-Dose rollte erschrocken davon und fiel auf den Boden. Direkt neben dem Papierkorb, aus dem schon eine leere Pizza-Verpackung herausragte. Aha, die Konsequenzen aus seinem mißlungenen ISO 9001-Experiment mit dem Mittagessen. Jupp mußte wirklich unter Stress stehen, wenn er so brutal von seiner Qualitätspolitik abwich.
„Das ist mein Problem: die neue EU-Verordnung für Medizinprodukte. 211 Seiten plus nochmal 158 Seiten für In-vitro Diagnostika. 97 Artikel und 16 Anhänge allein für die Medizinprodukte. Dazu haufenweise Ermächtigungen für weitere Regulierungen. Das ist politischer Alibi-Aktionismus, um nicht zu sagen Politik-Terrorismus! Und alles nur wegen eines einzigen kriminellen Falles, den Maschinenölbrüsten.“
„Na na, Jupp“ erwiderte ich beschwichtigend und wandte schnell meinen Blick von der Demonstration seines Scheiterns ab. „Erstens war eine Revision der 20 Jahre alten EU-Richtlinien schon lange geplant. Zweitens gibt es seit Jahren eine Kette von dramatischen Fällen des Versagens beim Medizinprodukte-CE-Kennzeichen. Und drittens sind bei den PIP-Brustimplantaten eine Reihe von verantwortlichen Organisationen zu finden, die ihre Aufgaben nicht ordentlich erledigt haben sollen.“
„Revision gut und schön. Aber doch nicht so. Wir haben rund 25.000 Hersteller von MP- und IVD-Produkten in den 32 Ländern des EU-Geltungsbereiches. 80% davon sind kleine und mittlere Unternehmen. Wer soll das denn alles lesen, geschweige denn umsetzen? Zähle mal die 15 kleinsten EU-Mitglieder zusammen, da kommst du gerade mal auf die Hälfte der deutschen Bevölkerung. Dagegen verkörpern die sechs Großen 350 Millionen Einwohner. Es ist doch immer das Gleiche: die mächtige Industrielobby der finanzstarken Mitglieder schreibt die EU-Gesetze und die Kleinen müssen mit ihren kümmerlichen Ressourcen das dann umsetzen.“ Jupp hatte anscheinend intensiv die Statistiken studiert. Erneut knallte seine Faust auf das Papierpaket.
„Man muss den EU-Bürokraten sofort die Computer wegnehmen. Die sollen ihre Gesetze wie früher mit Schreibmaschine tippen müssen! Und dann mit einem langsamen Fotokopierer vervielfältigen und mit der guten alten Post verschicken. Mann, was wäre das für eine Verbesserung der Lebensqualität.“
„Aber, Jupp, die Zeiten haben sich geändert. Wir leben jetzt in einem globalen Markt, haben Internet und Mobilfunk und reduzieren den Arbeitsaufwand von einem Monat auf einen Tag. Willst du das alles aufgeben?“ Anscheinend schon, wie ich seinem Augenrollen entnehmen konnte.
„Zu meiner Zeit haben wir doch gut mit der Medizingeräteverordnung, der MedGV gelebt. Die war 17 Seiten lang! Hatte 30 Paragraphen! Und eine schöne Liste mit 25 gefährlichen Geräten! Da gab es dafür eine Bauartzulassung! Und eine SUV-Bescheinigung für das Zubehör! Mehr brauchten wir damals nicht!“
Jedes Ausrufezeichen wurde klanglich durch einen Fausthieb auf die verhaßte EU-Verordnung untermalt. Ich unterdrückte daher eine naheliegende Bemerkung über einen Suffbescheid (Anmerkung für die jüngeren Leser: SUV heißt Sicherheitstechnisch Unbedenkliche Verwendungsfähigkeit) und liess dem Zornesausbruch von Jupp freien Lauf. Seine Frau öffnete aufgrund des Lärms kurz die Zimmertür, fand Jupp in Rage, nickte verständnisvoll und zog sich schnell wieder vom Kampfesgeschehen zurück. Hatte Jupp vielleicht wieder mal ein ungünstiges Horoskop heute?
„Und jetzt kommt diese 400 Seiten-Verordnung. Die EU will schon wieder die Krümmung der Gurken regeln. Weniger ist mehr! Wir müssen zurück zu einer radikalen Lösung! Alles Brimborium wird weggelassen, nur die reinen Ergebnisse zählen. Von den 80 benannten Stellen werden alle bis auf die absoluten Profis abgeschafft. Allein die Hersteller sind für den Nachweis von Wirksamkeit, Sicherheit und Qualität verantwortlich. Wie sie das machen, ist ihre Sache.“
- „Aber Jupp, mal langsam. Viele benannte Stellen sind auf wenige Produkttypen spezialisiert. Dort ist doch eine hohe medizintechnische Kompetenz konzentriert. Und willst du wirklich den Herstellern zutrauen, dass sie gegenüber der fernöstlichen Billigkonkurrenz immer die Fahne der Sicherheit und Qualität hochhalten? Wie war das denn mit den Spielzeugen?“ Jupp hatte da wohl ein paar Aspekte außer Acht gelassen.
„Sie können ja die TÜVs für Bauartprüfungen einschalten. Die sollen dann auch gleich für vernünftige Gebrauchsanweisungen sorgen.“ Da sprach Jupp wirklich einen wunden Punkt an. Ich wollte garnicht von den automatischen Übersetzungen der chinesischen Instruktionen sprechen. Schon viele deutsche Benutzerinstruktionen strotzen nur so von juristischen Absicherungen. Meine Idee ist schon lange, die Hersteller zur Abfassung von zwei Benutzermanuals zu verpflichten: eins von deren Juristen für die Verwalter und eins von den Medizinern für die Anwender. Dann hätte man jede Zielgruppe kundengerecht zufriedengestellt.
„Bei der Interpretation der schwammigen Formulierungen in der EU-Verordnung kommt man selbst mit einem Dutzend Juristen zu keinem brauchbaren Ergebnis. Meine Verordnung dagegen hätte nur 30 Seiten Umfang. Allein schon deswegen, weil ich die ganzen komplizierten Definitionen weglassen würde. Wir haben doch den gesunden Menschenverstand. Damit hat die Menschheit seit unzähligen Generationen überlebt.“
Mir wird bei dem Gedanken an einen gesunden Menschenverstand immer etwas mulmig zumute. Insbesondere, wenn kommerzielle Aspekte die Priorität übernehmen. „Jupp, haben unsere Banker noch gesunden Menschenverstand? Unsere Politiker? Die Mafia?“
„Hör’ mir noch bis zu Ende zu. Zuckerbrot und Peitsche – altes Erfolgsrezept. Hat schon der olle Bismarck festgestellt. Die Position der Aufsichtsbehörden wird massiv gestärkt. Strikte Kooperation über alle Ländergrenzen ist ein Muss. Schwarze Schafe bei den Herstellern und Importeuren werden sofort und gnadenlos stillgelegt. Natürlich europaweit. Ein System von fünf Stufen würde ausreichen: Verwarnung, befristetem Vermarktungsverbot, Vermarktungsstop bis hin zu absolutem Tätigkeitsverbot, erst befristet, dann unbefristet.“
Fünf mal schlug die Faust wieder zu. Mittlerweile macht sich ein Bleistift auf den Weg zum energetisch niedrigeren Potential auf dem Fußboden. Wieder öffnete sich die Zimmertür einen Spalt, eine weibliche Hand erschien und winkte mir zu. Ich interpretierte das Zeichen als eine Aufforderung zur Unterbrechung und bat Jupp um eine Pinkelpause.
Jupps Ehefrau zog mich leise am Ärmel: „Ingo, bitte, was macht Ihr da? Denk an Jupp’s Blutdruck. Ich mache mir ernstlich Sorgen. Seit Tagen nimmt er nur dieses ungesunde Fastfood zu sich und vergräbt sich in diese Papierberge. Er muß mal eine Ruhepause machen und an was anderes denken.“ Ihre verzweifelten Blicke liessen in mir ein schlechtes Gewissen aufkommen und ich versprach Besserung.
„Jupp, komm, raff dich auf! Wir müssen mal raus an die frische Luft. Das durchpustet das Gehirn und klärt die Gedanken. Schon Goethe sagte: Ein Genie lernt auf einem Spaziergang mehr als ein Tor auf einer Reise um die Welt.“ Womit ich auch mal mit meiner klassisch-humanistischen Bildung protzen konnte.
Allerdings fiel mir erst später auf, dass ich mich als Lernender hierdurch dem Kreis der Genies zugeordnet hatte.
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