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Zeitenwende

von Ingo Nöhr

Ingo Nöhr zum 1. März 2022

Unglaubliches ist geschehen. Plötzlich wird in Europa ein Land überfallen. Ein „lupenreiner Demokrat“ hat sich überraschend als machtbesessener Kriegsverbrecher geoutet. Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder hat sich wegen „ukrainischen Säbelrasselns“ endgültig in eine tragische Gestalt gewandelt. Gerade haben sein langjähriger Büroleiter und drei weitere Mitarbeiter gekündigt, Kreisverbände fordern wegen parteischädigendem Verhalten seinen Ausschluss aus der SPD.  Seine bisherigen Rednerhonorare von 50.000 bis 75.000 Euro dürften nun mangels Nachfrage drastisch sinken. Und wie lange der Steuerzahler sein Alt-Kanzlerbüro noch mit jährlich 407.000 Euro finanzieren muss, steht auch in den Sternen. Aber das ist momentan wohl das kleinste Problem.

„Wir erleben eine Zeitenwende. Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor. Im Kern geht es um die Frage, ob Macht das Recht brechen darf.“
Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Rede vor dem Bundestag am 27. Februar 2022

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Mensch Ingo, was für eine Woche! Wir erleben eine Zeitenwende! Live! Und wir sind mittendrin! Weltgeschichte. Wie damals am 11. September 2001, als die USA angegriffen wurde. Diesmal wird die bestehende Weltordnung mit ihrer „Friedensdividende“ angegriffen.

  • Ja, Jupp. Es macht mich sprachlos. So drastisch hatte ich mir disruptive Politik nie vorgestellt. Nur erleben wir diesmal keinen Sprung vorwärts, sondern einen Rückfall in den Kalten Krieg, nein, sogar bis in die steinzeitliche Welt: „Gib mir dein Essen und deine Frauen, denn ich habe die größere Keule!“.

Angeblich ist Putin ja ein gläubiger Mensch, aber da hat er wohl das Alte Testament nicht sorgfältig gelesen und gelernt, wie damals der Kampf zwischen David und Goliath ausgegangen ist.

  • Der Vergleich passt gut. So wie die Bibel den damaligen Krieg weltweit berühmt gemacht hat, so verfolgt nun auch der größte Teil der Menschheit mit großer Anteilnahme den verzweifelten Überlebenskampf der Ukrainer. Diesmal aber in Echtzeit und nicht nur als Zuschauer. Und in oft ohnmächtiger Wut und schlechtem Gewissen werden nun alle verfügbaren Mittel eingesetzt, um den rasenden Despoten zu isolieren.

Ja, Ingo, hat es schon jemals so eine Solidaritätswelle auf der Erde gegeben? Putin ist bis auf ein paar andere getreue Despoten weltweit von allen modernen Medien abgeschnitten: Flugverkehr, Facebook, Handel und Banken, Kulturveranstaltungen, sogar alle Sportereignisse – alles macht nun einen großen Bogen um Russland.

  • Wobei die Leidtragenden bei den Diktatoren immer die Bevölkerung ist, die bei Widerspruch mit ihrem Protest von den Schergen der Regierung brutal niedergeknüppelt und weggesperrt wird. Kasachstan, Belarus, Türkei, China, Myanmar, - die Liste ist noch lange fortzusetzen. Langfristig, das zeigt durch unsere eigene Geschichte mit der DDR, lässt sich ein Volk nicht ruhigstellen. Es brodelt unter der Oberfläche als schwelende Zeitbombe und letztendlich zersetzt Unterdrückung und Korruption einen Staat unwiderruflich von innen. Nichts ist ausdauernder als der Wunsch nach Freiheit. Gegen diesen Drang kann keine Regierung langfristig bestehen, ebenso wenig ein Tyrann mit seiner Armee.

Nelson Mandela hat es mal so ausgedrückt: „Nicht die Gewehrkugeln und Generäle machen Geschichte, sondern die Massen.“ Die Masse, also das regierte Volk ist nicht mehr so leicht ruhigzustellen. Es begehrt auf, trotz brutaler Unterdrückung wie in Kasachstan, in der Türkei, in Moskau und in Weißrussland. Was man mit Gewalt gewinnt, kann man nur mit Gewalt behalten. Und Abraham Lincoln hat schon damals festgestellt: „Kein Mensch ist gut genug, einen anderen Menschen ohne dessen Zustimmung zu regieren.“

  • Ja, Jupp, das sieht aber ein psychotischer Despot etwas anders. Interessant, dass du gerade Abraham Lincoln zitierst. Leider hatte diese Mahnung auf Donald Trump keinen Eindruck gemacht. Solche Herrscher haben doch längst die Bodenhaftung verloren und sich mit einem Heer von Hofschranzen umgeben, nachdem sie alle Störer und Kritiker eliminiert haben, inklusive der Opposition im Parlament und im Volk. Putin sitzt isoliert von allen Korrektiven im Machtzentrum, bisher getragen von den milliardenschweren Oligarchen, die mit ihm das Land ausgeplündert haben.

Bei den Oligarchen wäre ich mir aktuell nicht mehr sicher. In den letzten Tagen wurde eine Massenflucht von Privatjets und Luxusjachten aus dem Einflussbereich der EU beobachtet. Die Sperrung ihrer Konten und Abschaltung des SWIFT hat sie schwer verunsichert. Vielleicht verstehen sie jetzt die Warnung von Thomas Jefferson besser, dass nämlich Banken gefährlicher sind als stehende Armeen.

  • Eigentlich fing es nach Putins Darstellung doch ganz harmlos an: eine begrenzte Spezialoperation in der nunmehr unabhängigen Donezk- und Luhansk-Region, die ihn zu Hilfe gerufen hatte, um den angeblichen Genozid an der russischen Bevölkerung zu beenden. Kurz danach musste zur Entmilitarisierung das unterdrückte Ukraine-Volk von den Neonazis und Drogenbanden in ihrer Regierung befreit werden. Der kleine russische Bruder hätte die Befreier jubelnd begrüßen sollen und der eventuelle Widerstand der vom Westen verblendeten Nationalisten wäre schnell beendet worden.

Ja, dann passierte aber leider eine unverzeihliche Panne bei den russischen Staatsmedien. Die längst vorbereitete Siegesrede von Putin wurde schon am Samstag vorschnell veröffentlicht. Titel: „Der Aufbruch Russlands und der neuen Welt.“ Die Militäroperation habe nun eine neue Ära eingeleitet. Die drei Nachfolgestaaten der historischen Kiewer Rus, nämlich Russland, Belarus und die Ukraine, sind nun wiedervereint. Wladimir Putin habe eine historische Verantwortung auf sich genommen, indem er beschlossen habe, die Lösung der ukrainischen Frage nicht künftigen Generationen zu überlassen. Und jetzt kommt die wahre Mission ans Tageslicht: nicht nur die Einheit Russlands wieder herzustellen, sondern die Tragödie von 1991, den Zerfall der Sowjetunion, rückgängig zu machen. Das war für ihn „die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“.

  • Es sollte ja ein schneller Enthauptungsschlag werden, ein Blitzkrieg, der in 48 Stunden vorbei sein müsste. Kurz mit einem gezielten Angriff die Luftverteidigung ausschalten, ins wehrlose Kiew einmarschieren, eine russlandfreundliche Regierung einsetzen, so, wie es oft schon geklappt hat, und fertig wäre die erste Stufe seines Plans. Wenn der Westen mit Einmischung stören sollte, genügt ein Wink mit der erhöhten Einsatzbereitschaft der Atomstreitkräfte.

Wenn solche Machthaber auch noch einen Finger auf dem Startknopf für Atomraketen legen können, dann wird es für die Welt höchstgefährlich. Und gerade die ukrainische Bevölkerung ist durch den katastrophalen Reaktorunfall in Tschernobyl alarmiert. Aber mit Nuklearschlägen haben sich bereits Donald Trump und Kim Jong-un bedroht. Solche Geisteskranke sollten bereits lange vor ihrer politischen Karriere bei einem Psychologietest durchfallen und aus dem öffentlichen Verkehr gezogen werden können.

  • Es ist ja nicht nur „Putin der Große“, der von seiner historischen Aufgabe der Neugeburt des alten russischen Reiches besessen ist. Erdogan träumt vom osmanischen Reich und China will sich Taiwan wieder einverleiben. Trump wollte sein Amerika der Weißen Männer wieder groß machen. Stell dir mal vor, ein Bernd Höcke von der AfD mit einer Regierung aus Rechtsradikalen übernimmt die Macht und will mit starker Hand das Dritte Reich in den alten Grenzen wieder herstellen. Das ist ja gerade das Gefährliche, was Konfuzius schon vor 2500 Jahren erkannt hat: „Der Anführer eines großen Heeres kann besiegt werden. Aber den festen Entschluss eines Einzigen kannst du nicht wankend machen.“ Putins Entschluss reifte schon vor 20 Jahren: erst die Donbass-Region, dann ganz Ukraine und schließlich alle Russen vereinen. Die neue Welt Russlands bricht an. Und letztendlich die glorreiche Sowjetunion in ihren alten Grenzen.

Konfuzius trifft auch auf den neuen Nationalhelden Präsident Selenskyj zu, den wohl die stärkste denkbare Motivation eines einzelnen Menschen antreibt, nämlich das Überleben seiner Person und seiner Heimat. In Krisen zeigt sich die echte Größe und der wahre Charakter eines Menschen, im Guten wie im Schlechten. Selenskyjs Präsenz in den Internetmedien hat eine weltweite Lawine an Solidarität losgetreten, dem kaum eine Regierung etwas entgegensetzen kann.

  • Sein Gegenspieler Putin wurde kürzlich von der Sprecherin des Weißen Hauses, Jen Psaki, als „einer der größten Einiger der NATO in der modernen Geschichte“ bezeichnet. „Was Sie hier sehen, ist ein geeinigtes Europa, ein geeinter Westen, eine geeinte NATO, die sich gegen die von Präsident Putin angeführte Aggression und Invasion wehren.“ Und so gesehen, hat er auch in Deutschland Unglaubliches bewegt: Seit letztem Monat hat unsere Regierung und die CDU/CSU jahrzehntelang einzementierte Grundsätze umgestoßen.

Nun ja, wir hatten solche Überraschungen schon öfter. Die SPD hat den Sozialstaat zerschlagen, die CDU hat die Atomkraftwerke abgeschaltet, die Grünen wollen sie womöglich wieder anschalten.  Die SPD und Grüne beschließen ein gewaltiges Rüstungsprogramm und freunden sich mit dem Einsatz von Fracking-Gas an.

  • Auch auf Druck von der Basis. Wir haben schließlich wieder ein starkes Wahljahr. Hunderttausende gehen in Solidarität mit der Ukraine auf die Straße oder widmen den traditionellen Rosenmontagsumzug in eine gigantische Friedenskundgebung um. Gegen diese Bilder hat Putin nicht viel gegenüberzustellen, seine Propagandalügen verfangen in der aufgeklärten Welt nicht mehr. 

Dabei wollte er von Anfang an mit seinen berüchtigten Hackerteams auch den Informationskrieg gewinnen und die Kommunikation über die Pressemedien und das Internet steuern. Der Cyberkrieg war anfangs wirkungsvoll und nebenbei waren 6.000 Windräder nicht mehr per Satellitenfunk zu steuern. Der große Cyberwar blieb allerdings noch aus.

  • Allerdings hatte Putin nicht mit der globalen Hackergruppe Anonymus gerechnet. In den Staatsmedien wie Russia Today erschienen plötzlich Solidaritätsmeldungen zur Ukraine, Webseiten des Kremls, der Duma und des Verteidigungsministeriums wurden durch Botnetz-Attacken lahmgelegt, die ukrainische Nationalhymne ertönt wider Erwarten zu russischen Sendungen, unterlegt mit verstörenden Bildern von der Situation im Kriegsgebiet. Der mutmaßliche Anführer der russischen Ransomware-Gruppe Conti fand plötzlich seine gesamten internen Chats des vergangenen Jahres öffentlich im Internet wieder, sehr zur Freude der internationalen Strafbehörden.

Aber Ingo, wie konnte es denn passieren, dass sich ein Profi wie Putin so mit seiner Strategie verschätzen konnte. Mag er sein militärisches Ziel der Eroberung der Ukraine auch militärisch erreichen, so ist er doch in politischer und finanzieller Hinsicht grandios gescheitert, und zwar für die nächsten Jahrzehnte.

  • Da ist die vorherige Risikoabschätzung gründlich in vielerlei Hinsicht schiefgelaufen. Zunächst einmal ist er kein erfahrener Krieger, denn er hat immer nur „special operations“ gegen kleinere und schwächere Gegner wie in Tschetschenien, Georgien und der Krim geführt. Die Reaktion der Weltgemeinde war abschätzbar und erträglich, der militärische Widerstand vernachlässigbar. Die Ukrainer haben 2014 gelernt, dass sie sich auf den nächsten Krieg vorbereiten müssen und sich mit modernen Waffen versorgt. Hunderttausende Soldaten erhielten durch Rotation in Kämpfen mit den Donbass-Russen wertvolle echte Kriegserfahrung. Nach der widerstandslosen Einnahme der Krim hat Putin die Leistungsfähigkeit und Kampfmoral der ukrainischen Armee entscheidend unterschätzt. Besonders überraschend für ihn ist wohl, dass Präsident Selenskyj als Kriegsheld an vorderster Front aushält, anstatt dass er schnell gefangen genommen oder vorher mit einem dicken Geldkoffer in die USA ausgeflogen worden wäre.

Gut Ingo, die Soldaten der russischen Armee scheinen bei weitem nicht so gut ausgebildet und motiviert zu sein. Einige Gefangene wähnten sich immer noch in einem Manöver. Aber glaubst du wirklich, dass die Ukrainer in ihren großen Städten angesichts der gewaltigen Übermacht noch lange den Widerstand aufrechterhalten können?

  • Nein Jupp, da haben sie militärisch wohl keine Chance. Aber politisch könnte sich plötzlich etwas bewegen, wenn die entscheidenden Kreise im Kreml mal endlich eine realistische Kosten-Nutzen-Rechnung aufmachen würden. Sie haben die Entschlossenheit des Westens komplett falsch eingeschätzt. Die EU war durch das Ende der Merkel-Ära geschwächt, die neue Bundesregierung musste sich erst finden und in Frankreich kämpft Macron im April um seine Wiederwahl. Biden hat innenpolitisch mit der gespaltenen US-Gesellschaft schwer zu kämpfen und will sicherlich keine amerikanischen Soldaten einsetzen. Ansonsten ist die Welt mit dem Klimawandel und der Corona-Pandemie weiterhin abgelenkt und sollte wohl nicht weiter die Kreise Putins stören.

Ich verstehe, Ingo. Wer hätte bei uns gedacht, dass sich der Westen angesichts der Invasion schlagartig zusammenschließt und beispiellose Sanktionen beschließt? Mit Maßnahmen, die unserer Wirtschaft auch sehr wehtun. Und zu einer SWIFT-Blockade führt, die schlagartig die Hälfte der 640 Milliarden Dollar Zentralbankdevisen einfriert. Für seine Kriegskasse kann Putin nur noch auf zusätzliche 90 in China gebunkerte Devisen-Milliarden zugreifen. Der wirtschaftliche Schaden durch die Kriegs- und Folgekosten ist noch unabsehbar, die geopolitischen Auswirkungen für Russland kaum vorstellbar.

  • Eigentlich ist es eine klassische Erfahrung, die sich einstellt, wenn man in einem komplex-dynamischen System an einem Punkt gezielt eingreift, um einen geplanten Effekt zu erzielen, ohne dass man die vielfältigen Vernetzungen und Reaktionen mit einem Risikomanagementsystem überschauen kann. Und in der Chaostheorie kennen wir den Katastrophenpunkt, der mit dem Schlag eines Schmetterlingsflügels anderswo einen Orkan auslösen kann. Putin hat kontinuierlich auf fast folgenlose Reizungen der westlichen Welt gesetzt, bis unerwartet ein Umkehrpunkt erreicht wurde, der einen kompletten Trendabbruch einleitete. In einem Lawineneffekt kollabierte das bislang tragende Gerüst der Bräsigkeit und schuf eine völlig neuartige Lage, für die kein Plan B existierte.

Ingo, bei mir schleicht sich gerade eine tiefe Besorgnis ein, wenn ich den neuen Bericht des Weltklimarats lese. Die Hälfte der Weltbevölkerung ist bedroht, wenn wir die globale Erwärmung nicht bei 1,5 Grad stoppen. Das Zeitfenster schließt sich immer schneller. Und wir verplempern unsere wertvollste Ressource mit durchgeknallten Despoten.

„Noch sind wir zwar keine gefährdete Art, aber es ist nicht so, dass wir nicht oft genug versucht hätten, eine zu werden.“ Das hat Douglas Adams mal geschrieben. 

Ingo, jetzt benötige ich mehr denn je deinen Optimismus.

  • Ich auch, mein lieber Jupp.

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Jede Kanone, die gebaut wird, jedes Kriegsschiff, das vom Stapel gelassen wird, jede abgefeuerte Rakete bedeutet letztlich einen Diebstahl an denen, die hungern und nichts zu essen bekommen, denen, die frieren und keine Kleidung haben.

Eine Welt unter Waffen verpulvert nicht nur Geld allein. Sie verpulvert auch den Schweiß ihrer Arbeiter, den Geist ihrer Wissenschaftler und die Hoffnung ihrer Kinder.

(Dwight D. Eisenhower, 1890 - 1969)

 

Ich bin nicht sicher, mit welchen Waffen der dritte Weltkrieg ausgetragen wird, aber im vierten Weltkrieg werden sie mit Stöcken und Steinen kämpfen.

(Albert Einstein, 1879 - 1955)

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