Wo bleibt der Ruck? – Retten uns die Roboter?
von Ingo Nöhr
Unser Freund Ingo Nöhr glaubt nun schon im dritten Monat an das Gute im Schlechten. Angesichts weiterer Horrormeldungen in den täglichen Nachrichten ist sein Kumpel Jupp gespannt, wie Ingo seine positive Lebenseinstellung noch durchhalten will. So kommt es beim monatlichen Stammtisch in der Eckkneipe wieder unvermeidlich zum Lieblingsthema der Deutschen: die Untergangsvision.
Mensch Ingo, ich hoffe, du bist noch nicht komplett in deiner rosa Traumwelt versunken und bekommst die aktuellen Nachrichten mit. Die nächsten Landtagswahlen lassen schlimme Ergebnisse befürchten. Und im Ausland? China, Russland, USA, Syrien, Libyen, Türkei, Griechenland, Österreich, Ungarn, Polen, ... von Nordkorea will ich gar nicht reden. Wo man hinschaut: Probleme über Probleme.
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Lieber Jupp. Die Krise kommt, die Krise geht, die Welt ganz einfach fortbesteht. In jeder Krise steckt doch auch eine Chance.
Ingo, versteh doch: es betrifft uns auch persönlich. Unser Gesundheitssystem bricht bald zusammen. In 15 Jahren fehlen dort eine Million Fachkräfte. Am meisten Altenpfleger. Die Ärzte sterben aus, keiner will mehr aufs Land, die Menschen werden immer älter und pflegebedürftiger. Und Altenpflege ist nicht gerade ein Traumberuf.
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Das will unser Gesundheitsminister gerade mit seinem Pflegeberufegesetz ändern. Da packt er die Krankenpfleger, Kinderkrankenpfleger, Gesundheitspfleger und Altenpfleger alle in einen Topf, genauer gesagt in eine gemeinsame Ausbildungsschiene mit einem neuen Berufsbild, sozusagen den All-round-Pfleger.
Aber passt das denn zusammen? Die Gewerkschaft warnt schon vor einer Schmalspurausbildung und 30 Verbände der Altenpflege stehen Kopf. Außerdem kommt doch bald der Pflegeroboter aus Japan. Der kann alles, meckert nicht, arbeitet 24 Stunden und 7 Tage, und das ohne Streikgefahr. Er ist kräftig genug, um drei Zentner schwere Körper aus dem Bett zu hieven, kann aber auch sehr schmusig sein und stundenlang mit geheuchelter Begeisterung den Lebensgeschichten der Alten zuhören. Da liegt doch die Zukunft der Pflege, oder?
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Interessanter Ansatz, lieber Jupp. Der würde auch gleich unser Hygieneproblem lösen. Nachdem er die Bettpfanne eines Patienten weggebracht hat, wird er sich programmgemäß exakt 30 Sekunden die Hände desinfizieren und kann dann notfallmäßig im OP die Instrumente reichen. Nebenbei singt er Opernarien, spielt meditative Musik ab oder erzählt deftige Witze, um das OP-Personal bei der Arbeit zu unterhalten. Anschließend räumt er klaglos den ganzen Dreck weg. Und das, ohne die knackige OP-Schwester sexuell anzumachen.
Na, Ingo, jetzt wirst du aber anzüglich. Vielleicht gibt es in der Zukunft bei den Routine-OPs außer dem Patienten ja gar keine Menschen mehr im Saal. Der operierende Robot-Doc arbeitet nach einem Standardprogramm, telemetrisch überwacht von Chirurgen und Anästhesisten, die fernab in einer gemütlichen Lounge sitzen. Nano-Roboter im Blut fräsen die verkalkten Arterien frei, radioaktive Tumormarker zerstören die Krebszellen vor Ort, Stammzellen bauen neue Organstrukturen auf. Der Chefarzt kommt später dann nur noch zum Händeschütteln vorbei, um der Krankenkasse sein Honorar in Rechnung stellen zu können.
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Mensch Jupp, du entwickelst ja richtige Visionen. Der Engländer würde sagen: "When nothing goes right – go left!"
Na klar, unsere Diskussionen der letzten Monate sind bei mir auf fruchtbaren Boden gefallen.
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Apropos Boden: auf den Böden der Krisen wachsen oft regelrechte Riesen. Unser damaliger Bundespräsident Roland Herzog sagte schon 1997: „Durch Deutschland muss ein Ruck gehen. Wir müssen Abschied nehmen von liebgewordenen Besitzständen.“ Sieben Jahre später stellte sein Nachfolger Horst Köhler fest: „Warum bekommen wir den Ruck noch immer nicht hin? Weil wir alle noch immer darauf warten, dass er passiert!“. Die letzten zwanzig Jahre nach diesem Aufruf hat es nur manchmal zart geruckelt. Trotz der permanenten Reformen und wohlgemeinten Gesetzesflut sind die Riesen ausgeblieben.
Ich kapiere das nicht. Seit 2005 hatten wir zwei große Koalitionen, wo die CDU und SPD mit absoluter Mehrheit ohne störende Opposition diesen Ruck hätten auslösen können. Was haben sie gemacht? Die Mehrwertsteuer auf 19% angehoben. Mindestlohn eingeführt, Asylrecht geändert, Kriegseinsätze gestartet, … aber echte Reformen im Steuerrecht, in der Bildungspolitik, in der Justiz, im Gesundheitswesen? Fehlanzeige!
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Du erwartest zu viel von der Politik, Jupp. Das Problem sind die Wähler. Jeder Politiker muss seine Wählerstimmen maximieren, indem er sie bei Laune hält. Sonst ist er weg vom Fenster. Also was macht er? Er schaut nach den wichtigsten Multiplikatoren. Im Gesundheitswesen findest du da drei Zielgruppen: die Ärzte, die Krankenhäuser und die Apotheker. Die darf man auf keinem Fall verärgern. Die 350.000 niedergelassenen Ärzte haben eine Milliarde Patientenkontakte im Jahr. Die 2000 Krankenhäuser versorgen jährlich 19 Millionen stationäre Fälle. Und die 20.000 Apotheken bedienen 3,6 Millionen Kunden. Pro Tag!
Aha, ich verstehe Ingo. Überall warten also gelangweilte Wähler und lesen die Aushänge an den Wänden, die den baldigen Zusammenbruch der medizinischen Versorgung verkünden, wenn der böse Gesundheitsminister nicht mehr Geld herausrückt und dadurch die guten Leistungsträger finanziell ruiniert. Das sind ja gewaltige Multiplikatoren. Also kann die Politik hier nicht den Rotstift ansetzen.
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Dafür teilt sie aber kräftig Wohltaten aus, meistens vor den Wahlen. Nimm mal als Beispiel das Rentenpaket 2014. Wer 45 Jahre in die gesetzliche Rentenverssicherung eingezahlt hat, kann mit 63 Jahren ohne Abzüge in Rente gehen. Toll. Was aber elegant untergeht: die Zeche zahlen die anderen Rentner, die starke Abzüge hinnehmen müssen. Und dem Arbeitsmarkt werden nötige Fachkräfte entzogen, was zu einem beträchtlichen volkswirtschaftlichen Schaden führt. Die zeitgleiche Ausweitung der Mütterrente führte ebenfalls zu einer hohen Belastung der Beitragszahler, ohne dass ein volkswirtschaftlicher Nutzen erkennbar ist.
Na klar. Aber es geht auch andersrum. Umgekehrt hat Bundeskanzler Schröder mit seiner Agenda 2010 der Volkswirtschaft wieder auf die Beine geholfen. Dafür hat er leider seine Wähler verärgert und die Wahlen anschließend verloren.
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Was lernt ein Gesundheitspolitiker daraus? Für den Machterhalt muss er an wichtige Wählerschichten kurzfristig kostenträchtige Wahlgeschenke verteilen, für die dann die nächste Generation bezahlen muss. Andererseits darf er langfristig die ökonomische Basis nicht gefährden. Seine Strategie: schmerzhafte Veränderungen nur in kleiner Dosis durchführen, bestehende Besitzstände mächtiger Multiplikatoren möglichst nicht antasten, keinen Widerstand durch große Sprünge provozieren, die Zusatzkosten unbemerkt auf weniger stark lobbyvertretende Volksgruppen verteilen oder in die fernere Zukunft verschieben.
Also können wir letztendlich von der Politik keine nachhaltigen Reformen erwarten, weil die Lobby einfach zu stark ist. Das ist doch deprimierend! Wir brauchen endlich Polit-Roboter in der Regierung! Unbestechlich, objektiv, vernetzt, nur dem Gemeinwohl verpflichtet. Kein Fraktionszwang, keine Abgeordneten-Diäten, kein Lobbyismus mehr. Was würden wir an Geld einsparen! Aber wollen wir wirklich unsere Demokratie gegen eine Technokratie eintauschen? Wo führt das noch hin? Übrigens, - was sagt dein optimistischer Prof. Pangloss dazu?
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Der denkt bestimmt wie Oscar Wilde: „Am Ende wird alles gut. Wenn es nicht gut wird, ist es noch nicht das Ende.“ Da die Politik als Problemlöser ausfällt, müssen wir uns selber darum kümmern. Wir haben doch aktuelle Beispiele: Wikipedia, Google, Facebook, Twitter, Skype, WhatsApp … alles sprunghafte Innovationen, welche die verkrusteten Strukturen aufbrechen. Ausgelöst durch einzelne Personen, getragen von einer überwältigen Mehrheit der Nutzer. Wo bleibt die Macht der Patienten, die letztendlich den riesigen Moloch des Gesundheitswesens bezahlen müssen? Wo bleibt der Einfluss der Manager, welche durch eine vernünftige Vernetzung der Leistungen die regionale Über- und Unterversorgung ausgleichen wollen? Und wo bleibt der Wille der Kostenträger, welche durch patientengerechte Verträge und neuartige Angebote den wirklichen Nachfragemarkt bedienen?
Wenn ich dich richtig verstehe, Ingo, willst du die fällige Reform durch eine Graswurzel-Bewegung auslösen. Irgendwo bietet ein Pionier eine innovative Lösung an, die augenscheinlich einen hohen Nutzen verspricht. Millionen Bürger sagen plötzlich: „wir haben die Nase voll vom bestehenden System“ und wenden sich, beflügelt durch soziale Netzwerke, in Scharen dieser Neuerung zu. Quasi ein arabischer Frühling in der Gesundheitslandschaft.
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Jupp, du hast es soeben erkannt. Das ist das Gute vom Schlechten. Der Leidensdruck steigt, der Wunsch nach Veränderung nimmt zu und ein kleiner Impuls kann plötzlich die Wende herbeiführen. Wie Erich Kästner schon feststellte: "Auch aus Steinen, die Dir in den Weg gelegt werden, kannst Du etwas Schönes bauen."Oder mal ganz simpel gedacht: "Wenn das Leben dir Zitronen gibt, mach Limonade draus."
Und wenn dir das Leben Hopfen und Gerste gibt, mach ein Bier daraus. Handgebraut. Also, lass uns auf die Krise anstoßen. Auf dass die Graswurzeln sich endlich bewegen. Herr Wirt, zwei krisenfeste Biere bitte! Prost.
Nächste Woche kann keine Krise stattfinden. Mein Terminkalender ist voll!
(Henry Kissinger, ehemaliger US-Außenminister)
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