Was hat der BREXIT mit einem römischen Pferdehintern zu tun?
von Ingo Nöhr
Die Europa-Meisterschaft im Fußball und die zukünftige Gestaltung der Europäischen Union sind naturgemäß die Hauptthemen beim monatlichen Treffen der alten Klinikhaudegen Ingo Nöhr und sein Kumpel Jupp. Beim Bier in der Eckkneipe dreht es sich wieder um die unterschiedlichen Sichtweisen der Beiden hinsichtlich des aktuellen Weltgeschehens. Welches sind denn die eigentlichen Hintergründe und was kann man daraus für das Gesundheitswesen lernen?
Mein lieber Ingo. Unsere britischen Freunde hat es ja gleich doppelt hart erwischt: Aus dem EM-Pokalwettbewerb schmählich herausgefallen und aus der Europäischen Familie unbedacht ausgestiegen. „Europa ist tot“ schreibt der SPIEGEL auf seiner Titelseite. Du wirst mir doch jetzt als unverbesserlicher Optimist nicht erzählen wollen, dass das alles sein Gutes hat, oder?
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Also Jupp, ich muss dich wieder enttäuschen. Fangen wir mit dem Fußball an. Die Japaner sagen: „Es ist schädlich, nur Siege und keine Niederlage zu kennen. Denn ein Mensch lernt wenig von seinem Siege, aber viel von seiner Niederlage“. Wie bei der Fußball-WM 2014 ist der Gastgeber und absolute Favorit mit fünf Weltmeistertiteln Brasilien genauso blamabel herausgeflogen und hat ein nationales Erdbeben ausgelöst. Die Folge ist doch ein kompletter Neuaufbau und die Hoffnung auf eine erfolgreiche Olympiateilnahme in 2018.
Na ja, wie es zurzeit aussieht, ist bei den Brasilieros noch viel aufzubauen. Und die Engländer sind jetzt in der gleichen Verfassung. Wir werden sehen, ob beide Mannschaften künftig wie Phönix aus der Asche neu entstehen werden. Aber das unerwartete Abstimmungsergebnis über den Brexit muss doch deinen Glauben an die Vernunft schwer erschüttert haben. Schon jetzt rudern die Befürworter mächtig zurück und viele möchten diese Dummheit schnell wieder ungeschehen machen. Das vormals große United Kingdom könnte auf England und Wales zusammenschrumpfen, wenn Schottland und Nordirland aussteigen. Wo siehst du da etwas Positives?
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Zunächst einmal ist durch Brüssel und die EU-Mitgliedstaaten eine heilsame Schockwelle gelaufen. Den desolaten Zustand der EU-Systems kann man jetzt nicht mehr mit Mogelpackungen und kosmetischen Aktionen verstecken. Eurokrise, Staatsverschuldungen, gescheiterte Flüchtlingspolitik, unzureichende Terrormaßnahmen – alles das macht die Europäer nachdenklich und, wie wir sehen, zunehmend europakritischer. Jetzt muss das moderne Europa grundlegend neu konzipiert werden, sonst fällt es in absehbarer Zeit komplett auseinander. Also ist das Gute daran, dass durch diese existentiellen Brüche ein ernsthaftes Nachdenken über das Verlassen eingefahrener Traditionen und die Durchführung nachhaltiger Reformen ausgelöst wird. Der polnische Schriftsteller Stanislaw Brzozowski sagte einmal: „Begreifen wir endlich, dass der emotionale Kult der Tradition nur eine Form unserer geistigen Faulheit ist.“
Also Ingo, wie ich unsere Politiker so einschätze, versuchen sie sich da erstmal weiter durchzuwursteln. Schließlich kann man eine solche gigantische Bürokratie wie die EU nicht einfach reformieren. Das siehst du doch schon an der deutschen Steuergesetzgebung. „Steuererklärung auf einem Bierdeckel“, welch eine Lachnummer. Was soll denn aus dem gewaltigen Heer von Finanzbeamten, Steuerberatern und Beschäftigten in den Steueroasen werden? Diese Systeme sind doch seit Jahrzehnten gewachsen und haben sich in der Gesellschaft unzerstörbar einzementiert.
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Ja, in diesem Punkt hast du recht, Jupp. Dabei hat Estland durch eine digitalen Vernetzung fast aller Bewohner die Steuererklärung in 15 Minuten ermöglicht. Die Verkrustung von herrschenden Systemen nennt man eine Pfadabhängigkeit. Douglass North hat 1993 für seine Arbeiten auf diesem Gebiet den Wirtschaftsnobelpreis bekommen. Ein schönes Beispiel ist die QWERTZ-Tastatur auf unserem Computer. Sie ist völlig unsinnig und unergonomisch. Sie wurde im 19. Jahrhundert vom Erfinder der Schreibmaschine geschaffen, weil sich sonst seine Tastenhebel mechanisch verklemmt hätten. Hat man sich einmal für einen Weg entscheiden, folgt man ihm aus Bequemlichkeit für Generationen. MS-Windows ist weltbeherrschend, weil Milliarden Menschen nicht umsteigen wollen oder können. Die unausrottbare Netzsteckervielfalt in der Welt, die mörderische Bewaffnung der amerikanischen Zivilbevölkerung, die gescheiterte Drogenpolitik, der Kalte Krieg – alles Erscheinungen, die einmal in Gang gesetzt wurden, als es noch viele Alternativen gab. Kennst du die Erklärung, was die Breite der Spaceshuttle-Raketen mit dem Ausmaß des Hinterteils eines römischen Pferdes zu tun hat?
Was, du meinst, die Amerikaner haben sich an die alten Römer orientiert? Das kann ich nicht glauben. Die kennen sich doch mit der antiken Geschichte überhaupt nicht aus.
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Also, brauchten sie auch nicht. Es war eigentlich ganz einfach. Die Römer haben für ihre Kriegswagen viele Fernstraßen in Europa und England angelegt. Die Spurweite war so bemessen, dass zwei Armeepferde mit ihren Hinterteilen nebeneinander laufen konnten. Im Laufe der Jahrhunderte wurden die römischen Fernstraßen gerne genutzt und die Spurrillen dadurch immer tiefer. Die englischen Kutschenbauer übernahmen die Maße, dann kamen die Pferdeomnibusse, die ersten Autos, die Straßenbahnen, die Eisenbahnen. Alle nutzten also dieselben Spuren der Römerstraßen. Bei den Amerikanern übernahmen die englischen Auswanderer beim Bau des neuen Schienennetzes die krummen Maße von 4 Fuß und 8½ Zoll. Dadurch orientieren sich auch alle Eisenbahntunnels an der Schienenbreite. Als die Spaceshuttle-Ingenieure die seitlichen Boosterraketen konzipierten, wollten sie diese gerne dicker auslegen. Aber die Raketen mussten mit der Eisenbahn durch einen Tunnel zum Abschussgelände transportiert werden. Deswegen haben sie nur die Breite von zwei römischen Pferdehintern.
Ist ja ein Ding, Ingo. Unser ICE fährt auf alten Römerspuren. Das nenne ich wirklich Pfadabhängigkeit über Jahrtausende. Aber es gibt genügend Gegenbeispiele für deine Theorie. Nehmen wir den Kalten Krieg. Willy Brandt begann mit der neuen Ostpolitik, der Zerfall des kommunistischen Weltreiches schuf eine neue Weltordnung. Die rasante IT-Entwicklung machte durch die Vernetzung die Welt zu einem Dorf. Das 9/11-Attentat änderte radikal die globale Sicherheitspolitik. Fukushima beendete die jahrzehntelange Ära der Atomenergie. Ausgelöst durch die Abgasbetrügereien denkt die Autoindustrie über das Ende des Dieselmotors nach. Die Flüchtlingsbewegung löst eine Debatte über das Einwanderungsland Deutschland aus. Da endete wohl die Pfadabhängigkeit, denn man ging plötzlich neue Wege. Und ist der Brexit nicht auch ein Gegenbeispiel dazu?
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Jupp, jetzt wechseln wir von der Evolution zur Revolution. Die Pfadabhängigkeit mit ihren gewachsenen Institutionen behindert generell eine Anpassung und Optimierung an eine gewandelte Umwelt. Revolutionäre Sprunginnovationen wie die digitale Technologie bieten plötzlich unübersehbare Vorteile und Annehmlichkeiten für eine große Masse der Menschen und schaffen neue Freiheiten und Möglichkeiten. Ehrwürdige Einrichtungen wie Bundespost und Bundesbahn haben dies durch die private Konkurrenz schmerzlich zu spüren bekommen. Diese Dienstleister müssen sich schnell umstellen, sonst verhungern sie regelrecht, wenn ihnen in kurzer Zeit die Kunden zu einem moderneren Anbieter weglaufen.
Es gibt ja weitere Angriffe auf traditionelle Einrichtungen. Die Banken mit ihrer kundenunfreundlichen Zinspolitik müssen sich mit privaten Kreditgebern wie Smava und Auxmoney auseinandersetzen, das Taxigewerbe gerät durch Uber unter Druck, die Hotels verlieren viele Gäste an AirBnb, der Buchhandel leidet unter Amazon. Und die zentnerschweren Enzyklopädien landen wegen Wikipedia im Altpapier. Wo man hinschaut, wird ausgemistet. Also es gibt doch einen Schluss mit der Pfadabhängigkeit, oder?
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Wir haben jetzt nur die positiven Entwicklungen betrachtet, die einen Mehrwert gegenüber dem bestehenden System erzeugen können. Es gibt aber auch eine weitere negative Seite der Pfadabhängigkeit. Die nunmehr durch ihre Größe stabil etablierten und gut vernetzten Institutionen schotten sich aus Machtgier und Gewinnsucht der Führungselite zunehmend von der normalen Bevölkerung ab. Sie produzieren dadurch immer mehr Unzufriedenheit, zum Beispiel durch eine überbordende Bürokratie, steigende Kundenferne und sinkende Leistungsbereitschaft. Dann genügt ein Skandal wie bei der FIFA oder der Schock über einen Atom-GAU mit drastischen Auswirkungen für die großen Energiekonzerne, um durch einen Wutausbruch die Pfadabhängigkeit plötzlich zu beenden.
Aber das passt doch nicht für die Erklärung des Brexits. Die Ursache ist doch keine Katastrophe oder einschneidende Maßnahme für Großbritannien gewesen.
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Hier spielen die Verlierer der Pfadabhängigkeit die entscheidende Rolle. Die bislang kaum organisierten Frustrierten finden plötzlich ein gemeinsames Sprachrohr: Donald Trump in den USA, Marie Le Pen in Frankreich, Boris Johnson in Großbritannien, die AFD in Deutschland. Ein Auslöser für die PEGIDA-Bewegung war die unterschwellige Fremdenangst vieler Bürger, die sich durch die Sozialleistungen für Migranten übervorteilt sahen. Es sind die Ergebnisse von erfolgreichen Attacken der Verlierer gegen die Pfadabhängigkeit der Politik. Die großen Banken, Industrie- und Medienkonzerne sind durch Vernetzungen und Globalisierungen so mächtig geworden, dass gegen sie nicht mehr regiert werden kann. Die ehemaligen Volksparteien haben die Bodenhaftung verloren und damit Vertrauen in die Volksvertretung zerstört. Es wächst das Heer der bislang nichtaktiven Unzufriedenen und Wahlverweigerer, bis es plötzlich eine kritische Masse erreicht und sich durch einen charismatischen Sprecher koordiniert zu einer Opposition zusammenfindet. Dann wird nur noch emotional und nicht mehr rational entschieden, wie der Brexit deutlich gezeigt hat.
Ingo, ich sehe gerade eine Parallele zu unserem Gesundheitswesen. Alle Reformen bislang haben die Kosten nicht reduzieren können. Das monströse System der Gesundheitswirtschaft basiert auf Tausenden von lebenszeitlich agierenden Statthaltern, die gut versorgt, kein Interesse an einer Veränderung haben. Die Unzufriedenen werden lauter: Ärzte, Pflegekräfte, aber vor allem auch Patienten und Steuerzahler. Nur die Medizintechnik-Industrie und die Pharmakonzerne erfreuen sich an diesem System. Droht uns da auch eine Revolution oder bekommen wir endlich mal eine Reformierung hin?
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Ich glaube nicht, dass unser Gesundheitssystem grundlegend reformierbar ist, es befindet sich immer noch in der evolutionären Phase. Eine Revolution könnte durch private Investoren ausgelöst werden, wie dies punktuell schon im Reha- und Altenpflegebereich zu sehen ist. Was würde denn passieren, wenn Google im Verein mit Apple und Facebook ins Versicherungswesen einsteigt. Schließlich verfügen sie über einen weltweit einmaligen Datenschatz. Basierend auf den sensiblen Informationen durch die medizinischen Apps könnten sie maßgeschneiderte Krankenversicherungen anbieten, deren Preis-Leistungs-Verhältnis unschlagbar ist.
Na ja, dann richtet sich dort aber letztendlich auch nur ein weiteres Kartell ein. Aber die Kliniken werden ja wohl nicht verschwinden, sie werden dann nur als Krankenhaus 4.0 digitalisiert.
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Aber gerade diese Digitalisierung bietet ja auch eine Angriffsfläche für die Pfadabhängigkeit. Wenn endlich mal die Telemedizin in Deutschland flächendeckend aufgebaut würde, könnte man sich viele Arztbesuche vor Ort sparen. Man schildert seine Symptome einem Internetdoktor, der irgendwo am Bildschirm sitzen kann und gegen eine Internetwährung medizinische Beratung anbietet. Die 3D-Drucker könnten das Einkaufs- und Logistiksystem der Krankenhäuser revolutionieren, indem man viele Ersatzteile oder Prothesen selbst herstellt. Ein spezialisierter Operateur könnte von irgendwo in der Welt einen Op-Roboter fernsteuern. Und was die Gen- und Nanotechnologien noch alles an Überraschungen bringen werden, liegt oft jenseits unserer Vorstellungswelt.
Spannende Zeit für uns. Neue Pfade werden in den Dschungel des Lebens geschlagen. Wo sie hinführen, weiß man erst hinterher. Und ob man sie dann noch verlassen kann, ist die große Frage. Ich freue mich jedenfalls auf eine jahrtausendealte Pfadabhängigkeit in der Lebensmittelbranche. Herr Wirt, bitte zwei Bier nach alter Brautradition.
Theodor Fontane (1819-1898)
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