Vom Sterben der Dinosaurier
von Ingo Nöhr
Nachdem Jupps PC in den letzten Jahren durch nicht-löschbare Windows 7-Update-Daten (Stichwort WinSxS) von Microsoft zugemüllt und dadurch immer langsamer wurde, ist er schweren Herzens auf Windows 10 umgestiegen. Was ihn aber begeistert, ist die neue Mini- PC-Generation. Dieser sichtbare Fortschritt löst beim aktuellen Stammtisch der beiden ein tiefsinniges Grübeln über den weiteren Lauf der Welt aus.
Ingo, du lächelst ja immer über meine veraltete EDV. Jetzt bin ich auf dem neuesten Stand der Technik. MSI-Cubi und Windows 10, sagt dir das etwas? Mein Tisch-PC ist unsichtbar geworden. Der große Rechnerklotz kommt jetzt samt Monitor ins Altmetall.
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Gratuliere Jupp. Ich nehme mal an, du hast den Mini-PC einfach hinter dem Flachbildschirm angeschraubt. Hättest du bei mir schon vor einem halben Jahr besichtigen können. Du solltest aber heutzutage den Begriff IT benutzen, EDV ist schon längst out. Und entferne vorher besser deine Festplatte, bevor sie in neugierige Hände gerät.
Alles ist jetzt winziger und gleichzeitig leistungsfähiger geworden. Bildschirm, Zentraleinheit, Festplatte ... Und wenn du dir erst die Leistungen eines modernen Handys anschaust - alle Achtung. Wo wird das in den nächsten Jahren noch hinführen?
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Ja Jupp. Der digitale Fortschritt wird brutal mit unserer vertrauten Welt aufräumen. Beim Internet der Dinge werden die Geräte und Apparate in unserer Umgebung vernetzt, "smart" sozusagen. Sie reden dann miteinander. Du trägst dann eine Smartwatch, die dich zu sportlichen Aktivitäten animiert. Eine Kontaktlinse, die ständig deinen Insulinwert überwacht. Deine Brille blendet dir auf Wunsch Informationen über die Umgebung ein. Nebenbei identifiziert ein Programm die Gesichter von nahenden Bekannten, sodass du sie sofort mit Namen ansprechen kannst. Dein Kühlschrank bestellt automatisch Nachschub an Lebensmitteln und dein Herd schlägt dir kalorienarme Rezepte vor. Deine Einkäufe, vorwiegend per Internet, werden kurze Zeit später durch eine Flugdrohne angeliefert. Roboter putzen deine Fenster und Fußböden, draußen mäht ein solcher Blechheini deinen Rasen im Vorgarten. Du fährst ein autonomes Elektro-Auto von Google, welches auch automatisch einparkt.
Science-Fiction-Autoren werden es in Zukunft schwer haben. Was sollen sie sich noch an technischen Neuerungen ausdenken? Sie werden sich mehr auf die negativen Seiten wie Gesellschaftsverfall, Klimakatastrophen, Cyberkriege und globale Machtkämpfe konzentrieren. Deine Zukunftsvisionen erinnern mich an eine frühere Zeit, als wir alle noch von der Atomkraft geschwärmt haben: saubere, unerschöpfliche und fast kostenlose Energie. Atomautos, Atomflugzeuge, ja sogar ein eigenes Mini-Atomkraftwerk im Keller.
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Jupp, der hauseigene Atommeiler ist gerade aktuell von den Briten ins Gespräch gebracht worden. Rolls-Royce will mit EU-Unterstützung Hunderte von Kleinst-AKWs bauen. Sie haben ja schon jahrzehntelange Erfahrung mit entsprechenden U-Boot-Antrieben. Einen ersten Baby-Reaktor konnte man gerade in Peking besichtigen. Aber in Deutschland werden sie damit kein Geschäft machen können. Wir haben durch Solarzellen und Windkraftwerke schon Energie im Überfluss. Daran zerbrechen ja gerade unsere Energiekonzerne.
Die haben sich wahrscheinlich immer auf ihre Lobbyisten in der Politik verlassen und waren dadurch nicht gezwungen, sich zu modernisieren. Fukushima war halt nicht eingeplant. Die erinnern mich an die anderen Dinosaurier wie die Bundespost, die Bundesbahn und unser Staatsfernsehen. Als sie unerwartet privater Konkurrenz mit moderner Technologie und konsequenter Kundenorientierung ausgesetzt waren, sahen sie alle ganz alt aus.
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Richtig ausgedrückt, Jupp. Die glorreichen Zeiten der Dinosaurier scheinen endgültig vorbei zu sein. Du findest das Phänomen überall in unserer Gesellschaft. Das deutsche Taxigewerbe hat plötzlich mit einem 50 Milliarden Dollar schweren Konkurrenten namens Uber zu tun. Die Hotels leiden spürbar unter dem Anbieter Airbnb, der mittlerweile 2 Millionen Privatzimmer in 26.000 Städten und 192 Ländern anbietet. Die großen Kaufhäuser verschwinden wegen Amazon und dem bequemen Online-Shopping. Die Zeitungen verlieren immer mehr Leser, weil kostenlose und minutenaktuelle Informationen über IT-Portale, Newsletter, Blogs, Twitter und Facebook verfügbar sind. Kinder lernen mittlerweile mehr von der Welt durch Youtubes und Chats als in den Schulen. Weiterqualifizierung erfolgt zunehmend durch spezielle Wikis, E-Learning und digitale Hörsäle als durch physische Anwesenheit in langweiligen Lehrveranstaltungen der Universitäten.
Ich wollte meine 25-bändige Enzyklopädie bei Ebay verkaufen. Keiner will die mehr haben. Unsere Stadtbücherei mochte sie nicht mal als Geschenk annehmen. Zu Zeiten von Wikipedia und Google-Suchmaschinen kann man sie nur noch zu Dekorationszwecken nutzen.
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Und muss man überhaupt noch Mitglied in einem Verein werden, um in seinem Fachgebiet kostenlosen Sachverstand von Experten zu erhalten, wenn soziale Netzwerke wie XING mit seinen 55.000 Interessengruppen dies schon 10 Millionen Mitglieder in der DACH-Region ermöglichen?
Zehn Millionen? Das sind ja gewaltige Zahlen. Macht dir das nicht Angst, Ingo, wenn du mal die gegenwärtige Lage unserer großen Volksparteien betrachtest? Alle sechs in Landtagen etablierten Parteien bringen es zusammen auf gerade mal 1,2 Millionen Mitglieder. Das Wahlvolk wendet sich enttäuscht ab und applaudiert aus Protest den neuen Randgruppenparteien. Blick mal rüber über den großen Teich – dieser Irrsinn der US-Wahlen. Hat das noch etwas mit Demokratie zu tun? Und sieh nur unser schönes Europa, auf das wir immer so stolz waren. Euro-Währung, EZB, Grexit, Brexit, Flüchtlingshilfe, TTIP! Wo bleibt die kollegiale Abstimmung, Kooperation, Solidarität, die europäische Idee? Alles auseinandergebrochen. Stirbt hier auch ein Dinosaurier?
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Jupp, du wirst schon wieder von deinem Pessimismus überrannt. Wenn dir mal ein Stein vom Herzen fallen sollte, landet er bestimmt schmerzhaft auf deinem Fuß. Betrachte das Dinosaurier-Sterben doch als eine Chance, einen Neuanfang. Was wird aus unserem verkrusteten Gesundheitswesen? Nimm nur mal an, Google würde mit seiner Marktmacht in die Finanzierung der Krankenversicherung einsteigen und bietet eine maßgeschneiderte „Volks-Versicherung“ an. Sie wäre extrem leistungsfähig und kostengünstig, weil Google nicht den monströsen Wasserkopf des deutschen Gesundheitswesens finanzieren müsste. Nicht behindert durch politische Zwänge, Lobbyverfilzungen und Machtkämpfe von Berufsverbänden könnten die Google-Manager ein modernes Versorgungssystem mit wirksamen Qualitätsrankings über Patientenportale, einem flächendeckenden Einsatz von Big-Data-Analysen, Telemedizin und eHealth-Anwendungen einrichten. Entwicklungen der Nano- und Gentechnologien kämen wesentlich schneller zum Einsatz. Die medizinischen Großlabore würden wegen intensiver Nutzung von Lab-on-a chip Anwendungen fast aussterben. Alte und demente Menschen würden von kuscheligen Robotern versorgt und ständig von Sensoren auf ihren Gesundheitszustand hin überwacht.
Also, mal langsam, Ingo! Du willst mich also verdrahten, mir die kuschelige Altenpflegerin wegnehmen und sie durch eine Blechkiste ersetzen? Da scheinst du mir aber jetzt der Pessimist geworden zu sein. Nee, vielen Dank, ich verzichte auf solche Zukunftsaussichten. Bevor deine grässliche Vision irgendwann Realität wird, lass uns lieber noch die humanoide Gesellschaft unseres Gastgebers genießen. Verehrter Herr Wirtsmensch! Bring uns bitte noch zwei liebevoll gezapfte Pilsner.
Die sieben Todsünden der modernen Gesellschaft: Reichtum ohne Arbeit. Genuss ohne Gewissen. Wissen ohne Charakter. Geschäft ohne Moral. Wissenschaft ohne Menschlichkeit. Religion ohne Opfer. Politik ohne Prinzipien. (Mahatma Gandhi, 1925)
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