Vom Fußball siegen lernen
von Ingo Nöhr
Die Fußballweltmeisterschaft ist vorüber, die Welt hat angesichts der Ergebnisse Kopf gestanden. Ganze Länder sahen sich unvermittelt in nationale Identitätskrisen versetzt, die Schonzeit für viele Regierungen ist angesichts der im jeweiligen Lande ungelösten Probleme vorbei. Die Aufbereitung des sensationellen Halbfinales und Endspiels läuft publizistisch auf Hochtouren. Der SPIEGEL fragt sich im Titel „Wir sind wieder … wer?“ und stellt philosophische Betrachtungen über die Rolle Deutschlands in der Welt an. Die amerikanische Huffington Post titelt: "Champions of the World. Wir! Sind! Weltmeister!" (sogar auf deutsch zitiert – eindeutig eine Steigerung der damaligen BILD-Schlagzeile „Wir sind Papst!“)
Bei Jupp ist die Stimmung zweispältig. Sein 3D LED-Fernseher mit der stolzen 140 cm Bildschirmdiagonale hat an der linken Ecke einen häßlichen Sprung bekommen, die Mattscheibe ist mit Ketchup und Senf bekleckert. In der Membran des Subwoofers seiner 500 Watt Surround Sound Anlage gähnt ein Loch, der Verstärker hauchte nach dem Guß von einem halben Liter Bier funkensprühend sein elektronisches Dasein aus. Zwei Ledersessel haben Brandflecken und der Teppich ist dringend der Entsorgung zuzuführen. Das gesamte Heimkino von Jupp hat die Siegesfeier nur mit schweren Blessuren überstanden.
„Andererseits: darauf haben wir 24 Jahre gewartet. Und wir hatten einen mega-furiosen Spaß, oder? Bis zur Europameisterschaft in zwei Jahren kriege ich das wieder hin.“ versucht Jupp dem desaströsen Ausgang einen positiven Dreh zu geben.
„Halten wir dieses Leistungsniveau solange durch? Wie konnte unser Team jetzt eine solche Leistung erbringen? Was sind eigentlich die Erfolgsrezepte?“ Schließlich haben wir uns die Spiele auch unter Gesichtspunkten des Teammanagements angeschaut: „Was können wir also von Jogi Löw lernen, Jupp?“
„Also Ingo, klar erkennbar war natürlich der ungeheure Teamgeist. Wir hatten eine eingespielte Mannschaft, es gab keine zickigen Primadonnen. Jeder wußte, was er zu tun hat und sprang notfalls für den anderen ein. Niemand verfolgte egoistische Interessen, sondern jeder Spieler ordnete sich selbstlos dem gemeinsamen Ziel unter.“
Eine Eigenschaft, die in unserem Gesundheitswesen nicht immer ausgeprägt ist. Vor meinem geistigen Auge sehe ich plötzlich ein Krankenzimmer, in dem sich vor dem verblüfften Patienten eine Menge von Experten aufgebaut hat: “Wir sind Ihr persönliches Gesundheitsteam und wir alle sorgen gemeinsam dafür, dass Sie bald wieder geheilt und zufrieden nach Hause entlassen werden können. Dürfen wir uns kurz vorstellen: unser Chefarzt, sein Oberarzt, die Assistenzärzte, das Pflegeteam, unser Technik-Ingenieur mit seinen Handwerkern, hier unser Hygienebeauftragter und sein Reinigungsteam, der Chefkoch mit seinen Diätexperten, die Truppe vom Hol- und Bringedienst, die Rezeptionsdamen, der Wachdienst, die Leute von der Verwaltung ...“
Vielleicht bekommt der Patient nun ein anschauliches Bild davon, wie komplex sein Krankenhaus aufgebaut ist und welcher Aufwand für seine Genesung getrieben wird. Das alles muss er von seinem Krankenkassenbeitrag finanzieren. Er wird dadurch einen gehörigen Respekt vor den Kosten des Gesundheitswesens bekommen. Was ihm leider verborgen bleibt, ist die Tatsache, dass er mit seinem Steuergeld und den Lohnnebenkosten zusätzlich einen gewaltigen Moloch der Gesundheitswirtschaft durchfüttern muss: die Ärzte- und Zahnärztekammern, 17 Kassenärztliche Vereinigungen, 16 Landeskrankenhausgesellschaften, 12 Spitzenverbände der Krankenhausträger, 134 gesetzliche Krankenkassen und deren Spitzenverbände, Bundes- und Landesausschüsse sowie eine Reihe von Instituten und medizinische Dienste. Sie alle unterhalten eine teure Verwaltung, produzieren ständig wachsende Bürokratien und zahlen beachtliche Vorstandsgehälter- und pensionen.
„Neben den alten preussischen Tugenden wie Disziplin, Gehorsam, Pflichtbewußtsein, Kampfgeist und Mut musste bei unserer Nationalmannschaft aber ein gehöriges Maß an Flexibilität dazukommen. Jupp, wir haben es ja immer wieder gesehen: die Mannschaft musste auf ständig wechselnde Situationen während des Spiels ohne Verzögerung reagieren.“
„Nicht nur das. Wenig später hatten sie sich mit einer neuen Strategie auf die nächste Mannschaft mit einer anderen Kultur und Trainerpersönlichkeit einzustellen. Hinzu kommt die Zufallskomponente bei den Torschüssen. Wie oft fehlten nur wenige Zentimeter oder Winkelsekunden am erfolgreichen Führungstor oder standen Pfosten oder Latte im Weg?“
„Richtig, Jupp. Flexibilität! Hätten wir im Fußball ein solches verkrustetes und erstarrtes System wie das deutsche Gesundheitswesen, einem ebenso unüberschaubar gewordenen Wust an Gesetzen und Regelungen, mit Tausenden von mitsprachewilligen Funktionären und Lobbyisten mit unterschiedlichen, eifersüchtig gehüteteten Interessen, wir würden nicht mal die erste Qualifikation schaffen können. Eine flexible Reaktion auf den Gegner und schnelle Änderung der Strategie wäre dann unmöglich.“
„Ingo, kannst du dich noch erinnern, wie im Halbfinale am Ende der Verlängerung vor dem Elfmeterschießen der holländische Trainer einfach den Torwart ausgewechselt hat? Die Argentinier waren total verunsichert. Ein genialer Schachzug, finde ich. Oder denk nur an den Freistoßtrick von Thomas Müller im Spiel gegen Algerien?“
„Ja Jupp, endlich haben die Deutschen mal wieder Ideen erfolgreich in die Praxis umsetzen können. Sonst werden wir doch immer nur kopiert und schauen selbst in die Röhre.“
„Wie meinst du das? Wir haben schließlich das Auto samt Motor, den Buchdruck, die Kernspaltung, die Antibabypille und die Zahnpasta erfunden. Alles erfolgreiche Produkte auf dem Weltmarkt. Wie kommst du darauf, dass wir Deutschen keinen Erfolg mit unseren Ideen haben?“
„Also, Jupp – wir sind zwar Ideen-Weltmeister, aber Amateure in der Umsetzung. Willst du ein paar Beispiele hören? Die Fraunhofer haben das MP3-Musikformat entwickelt, aber Apple macht mit dem Musicplayer 1,3 Mrd. Dollar Umsatz im Jahr. Die TH Aachen hat schon 1973 einen VW Bully mit wechselweisem Elektro- und Benzinmotor ausgestattet, aber seit Jahren macht Toyota weltweit das Rennen mit seinen Hybridcars und unsere Autohersteller hecheln hinterher. 1956 hat Rudolf Hell das erste Faxgerät vorgestellt, die Japaner brachten es auf den Weltmarkt. Igor Sikorski hat in den USA den Helikopter von Henrich Focke kopiert, der ihn bereits 1936 vorgestellt hatte.
Nimm die LCD-Technik, das Fernsehen, den Walkman, den Transrapid, den Scanner, ja sogar, die Jeans-Hosen. Alles deutsche Erfindungen, den Reibach machen aber die Ausländer.“
„Na klar, Ingo. Um aus einer Idee ein erfolgreiches Produkt zu machen, braucht es Fleiß, Mut, starken Willen und oft ein wenig Glück. Aber oft sind unsere Ideen noch nicht reif für den Markt. Wir sind halt Perfektionisten und wollen unsere Produkte erst zu Ende entwickeln. Außerdem brauchen wir bei den Medizinprodukten ein CE-Zeichen, den Aufwand kennst du ja zur Genüge.“
„Da siehst du es. Wir ersticken an der Bürokratie, an den gesetzlichen Regelungen. Bei uns sind eben Garagenfirmen wie anfangs Ford Motors, Walt Disney, Hewlett Packard, Apple oder Google nicht möglich. Daher verlieren wir unsere besten Entwickler an die USA.
Bei uns kriegen sie nur zu hören: Tolle Idee, mein liebes Genie, aber wo ist das Risikokapital, der Businessplan? Was ist mit dem Datenschutz, Arbeitsschutz, Umweltschutz? Wann kommt die 20% Rendite? Mach mich zum Millionär! Bei Visionen gehen Sie besser zum Arzt, meinte schon vor 40 Jahren Helmut Schmidt.“
„Ingo, deshalb brauchen wir zum Ideenmanagement auch ein Innovationsmanagement. Etliche Kliniken haben das schon kapiert. Sie belohnen ihre Mitarbeiter für gute Ideen und nehmen professionelle Hilfe für die Umsetzung in Anspruch. Es gibt ja auch an jeder Ecke mittlerweile Förderprogramme hierfür.“
„Jupp, das nannte sich früher mal: Betriebliches Vorschlagswesen. Und wo es das nicht gab, konnte ein gewiefter Berater schnell und einfach viel Geld verdienen, indem er einfach die Leute vor Ort interviewte und deren Vorschläge in einen schwülstig formulierten Hochglanzbericht für den Firmenchef verpackte. Heutzutage wird eine an sich sinnvolle Aktion grundsätzlich mit dem Anhängsel –management versehen, damit gleich deutlich wird, dass sich damit nur studierte Leute befassen dürfen.“
„Stimmt, Ingo. Wir hatten noch nie soviel Management im Krankenhaus: Aufnahme- und Entlassungsmanagement, Betten- und Belegungsmanagement, Op-Management, Pflegemanagement, Patientendurchlaufmanagement, Abrechnungsmanagement, Beschwerdemanagement, Fehler- und Risikomanagement, Notfallmanagement. Und alles bedarf einer schnell veralteten Computerarchitektur mit ständig angepaßter Software und immer größerer Datenspeicherung und –auswertung.
„Ja, unglaublich nicht wahr? Wie konnten wir früher überhaupt ein Krankenhaus führen? Wir hatten noch nicht mal die speziellen Berufe, da genügte notfalls ein Klinikingenieur. Heute brauchen wir Einkaufs- und Logistikmanager, Gesundheitswirtschaftsmanager, Op-Manager, Pflegemanager, IT-Manager, Technikmanager, Medizinphysiker, Qualitäts-/Risiko-/ Krisenmanager, Finanz-Controller plus neuerdings die Medizinischen Controller, … - vermutlich demnächst auch einen Controller für das verzweigte Managementsystem. Dazu kommen noch die notwendigen Fakultäten, Akademien und Zertifizierer.“
„Super, Ingo. Zurück zu unserem Fußball. Die Funktionäre könnten doch auch von uns im Gesundheitswesen lernen. Neben den schon vorhandenen Vereinsmanagern hätten wir dann akademische Schiris und Linienrichter als Entscheidungsmanager; Stürmer, Verteidiger, Torwarte als Spielemanager und nicht zu vergessen für die ganze Logistik: Publikumsverpflegungs-, Ballaufpumpen-, Rasenpflege- und Torausrichte-Manager.
„Wir könnten flächendeckend Fußballakademien, Zertifizierungsdienstleister und Promotionsstellen aufbauen. Im Bachelor-Studium würden neben den physikalischen und medizinischen Grundlagen auch Theaterwissenschaften und manipulative Psychologie angeboten. Du könntest dann dein Heimkino der örtlichen Fußballuni als Hörsaal anbieten. Natürlich erst, wenn du es wieder aufgebaut hast.“
Meine letzte Bemerkung rief Jupp wieder in die rauhe Wirklichkeit zurück und er brach unvermittelt unser Gespräch ab. Dabei hatten wir noch garnicht über die konkreten Konsequenzen unseres Lernprozesses für den profanen Klinikalltag gesprochen.
Was für Innovationen sollte denn mein fiktives Gesundheitsteam dem erwartungsvollen Patienten vorstellen können? Würden sie alle den harten Test auf dem Innovationsprüfstand des Krankenhaus-Kommunikations-Centrums in Halle 15 auf der MEDICA bestehen können?
Du siehst Dinge und fragst “Warum?”,
doch ich träume von Dingen und sage “Warum nicht?”
George Bernard Shaw
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