Unsere schöne digitale Welt
von Ingo Nöhr
Mein Kumpel Jupp erschien zu unserem monatlichen Stammtisch in der Eckkneipe mit denkbar schlechter Laune. Auf Befragen erfuhr ich, dass er mit seinem neuen Auto beim Rückwärtsparken einen Blumenkübel übersehen hatte und seitdem eine hässliche Beule in der rechten Seitentür spazierenfährt.
- Jupp, gräm dich nicht. Dein nächster Wagen sollte ein digitales Selbstfahrer-Auto sein, da kannst Du beim Fahren lesen, Filme schauen oder schlafen. Ideal beim Einparken, bei langen Fahrten und Staus, die es dann eigentlich nicht mehr geben dürfte, weil die Verkehrsströme alle elektronisch gelenkt werden.
"Ach, Ingo. Hör doch auf mit deinen Visionen. Ich will Spaß haben beim Autofahren, da lobe ich mir doch einen deutschen BMW, Porsche oder Mercedes. Wir sind das einzige Land weltweit, was noch keine generelle Geschwindigkeitsbegrenzung eingeführt hat. Es lebe die automobile Freiheit."
- BMW, Mercedes? Die müssen doch erstmal die digitale Revolution überleben. BMW's dilettantisch geschütztes Connected Drive System wurde gerade mit simplen Hackermitteln geknackt. Und Daimler-Chef Dieter Zetsche kommentierte die Nachricht, dass Apple nun ins Automobilgeschäft einsteigen will, mit dem klassischen Dinosaurier-Statement: "Wir haben das Auto erfunden. Und in diesem Geschäft zählt die Erfahrung." Unsere Autobauer verschlafen doch die Digitalisierung der Welt. So wie damals unsere Kamera-Industrie und die Uhrenhersteller. Sie planen weiterhin mit ihren linearen Extrapolationen. Sie sehen in der Reduktion des Benzinverbrauchs von 3,4 auf 3,2 Liter pro 100 km schon eine Innovation. Mensch, Jupp: Googles Auto dagegen fährt mit einem Datentransfer von 1 Gigabyte pro Sekunde schon selbständig durch den amerikanischen Großstadtverkehr.
"Also, Ingo. Wo soll das alles noch hinführen? Das Google-Auto wird in ständigem Kontakt mit einer Cloud stehen und dort meine persönlichen Daten übermitteln. Wir leben doch jetzt schon in einer total verwalteten und vorbestimmten Welt. Selbst im Privatleben: alles wird überwacht. Jegliche Kommunikation per Telefon und Internet. Im Straßenverkehr und auf öffentlichen Plätzen durch unzählige Fernsehkameras. Satelliten und Google-Cars filmen mein Haus und meinen Garten. Der Nachbar kann mit seiner Drohne in meine Zimmer schauen. Selbst der Fernseher hört neuerdings in meinem Wohnzimmer mit. Und jeder halbwegs pfiffige Hacker kann heimlich die Webcam an meinem Tischrechner oder Smartphone einschalten und mich unbemerkt ausspionieren. Ist das die Big-Brother-Welt, in der du leben möchtest?"
- Jupp, daran haben wir uns doch schon längst gewöhnt. Wir haben die Flugtickets, Kredit- und Rabattkarten, Vorratsdatenspeicherung, die elektronische Gesundheitskarte, überall hinterlassen wir unsere Spuren. Apropos Gesundheit: Es herrscht nur noch reine Planwirtschaft in unserem Gesundheitssystem. Welche innovativen Freiräume haben denn noch die Ärzte, Pflegekräfte, Manager, Techniker im Krankenhaus? Sie verheizen sich unter dem Kostendruck, ersticken in Bürokratie, verheddern sich in Vorschriften und stehen dabei ständig mit einem Bein im Gefängnis. Lobbyhörige Politiker aller Ebenen und Couleur überbieten sich, zu unserem Schutz Tausende von Gesetzen und Verordnungen zu erlassen, die kein Mensch mehr lesen, geschweige denn befolgen kann. Gleichzeitig träumen sie von innovativen Kampagnen und leistungssteigernden Fortschritten. Dabei dient fast alles ausschließlich dem Mammon Geld.
"Ja, Ingo, das ist das Problem: Krankenhäuser sollen jetzt alle schwarze Zahlen schreiben, aber zu welchem Preis eigentlich? Indem man die Personalkosten im Pflegebereich auf ein kaum erträgliches Minimum drückt? Warum setzt man nicht zuerst bei der Pharma-Industrie und bei unserem Verwaltungsmoloch mit Hunderten Behörden in 16 Bundesländern und 138 Krankenkassen an? Muss bald unsere Feuerwehr auch schwarze Zahlen schreiben? Nur dort, wo ich eigentlich vor der physischen und geistigen Umweltverschmutzung beschützt werden sollte, da traut sich die Politik nicht ran, weil es gegen die Interessen des Mammons Geld geschehen würde. Und daher darf der gierige Mensch weiterhin die Atmosphäre aufheizen, die Flüsse vergiften, Tierarten ausrotten, ungesunde Lebensmittel verkaufen, gefilterte Nachrichten und verdummende Filme aussenden. Unsere Kinder werden mit zehntausenden von Filmmorden und grausigen Nachrichten aus aller Welt groß, umgeben von Kriegshandlungen in der europäischen Nachbarschaft, angesichts tausender Ertrinkender im Mittelmeer und brennender Flüchtlingsheime."
- Jupp, du hast mal wieder recht. Wir Deutschen haben uns auf der Insel des Wohlstands gemütlich eingerichtet und dürfen noch ein paar Jahre die angenehmen Auswirkungen unserer Raubzüge in die ärmeren Länder geniessen. Kein angesehener Intellektueller weckt uns mehr auf, keine kritischen Journalisten halten uns mehr den Spiegel vor. Die einen haben anscheinend resigniert, die anderen sind durch Abhängigkeiten von Pressekonzernen mundtot gemacht worden. Der Rest hat sich in kleine Nischen im Internet zurückgezogen. Aber sag mal, du bist ja wirklich schlecht drauf heute! Lass uns mal über das digitale Krankenhaus reden. Da finden sich ja auch wirklich gute Innovationen.
"Ja, ja, Ingo. Die Diskussion kenne ich zur Genüge: demografischer Wandel, Ambient Assisted Living, Smart Homes, Big Data, Telematik. Wir werden alles mit allem vernetzen, mit RFID-Chips versehen, jeden Miniprozess elektronisch überwachen. Mir ist schon lange klar: das Internet der Dinge wird kommen, jedes Produkt quatscht mit seinem Nachbarn. Kürzlich wurde mir ein Smart-Kleiderschrank für das Krankenhaus vorgestellt: "Ingo Nöhr hat gerade um 10.32 Uhr einen Op-Kittel entnommen, jetzt sind nur noch 4 von dieser Größe im Fach." Der Schrank bestellt dann Nachschub im Lager, wartet auf die Rückgabe im Wäschekorb, meldet der Wäscherei den aktuellen Bestand an schmutziger Wäsche und merkt sich wiederum Namen und Uhrzeit. Wenn der Ingo sich dann im Op die Hände desinfiziert, registriert der Spender Name und Zeit und verpetzt dich beim Hygienemanager, wenn du deine Hände zu kurz geschrubbt oder deinen Kittel zu lange getragen hast ."
- Klar, Jupp, zur Prozessoptimierung mußt du alle Einzelschritte überwachen. Das macht die Industrie seit Jahrzehnten, sonst könntest du dir heute kein Auto leisten, weil sonst die Herstellung mehrere Wochen benötigen würde. Heute arbeiten Hunderte von Robotern in einer Fabrik, höchstpräzise, fehlerfrei und genügsam. Und die Robotertechnik entwickelt sich gerade rasant weiter. Der schnellste Laufroboter hat schon den menschlichen Weltrekord über 100 Meter Sprint übertroffen.
"Ach, die Roboter. Schau nach Japan, die längst ein vergleichbares Vergreisungsproblem haben. Sie sind mittlerweile führend in der Herstellung von Pflegerobotern. Der elektronische Butler bedient dich mit Essen und Unterhaltung; nebenbei kontrolliert er permanent deinen Gesundheits¬zustand und meldet die kritischen Daten an die nächste Arztstation. Und mit dir schmusen kann er bestimmt auch schon. Du kannst ihn beschimpfen und verprügeln, er wird immer gute Laune haben."
- Das ist doch eine schöne Vorstellung: die Roboter machen für dich die Arbeit, du sitzt in deinem Virtual Reality-Sessel und erlebst mit deinem per Video zugeschalteten Kumpel fiktive Abenteuer. Den Pflegeroboter schickst du mit dem Google-Auto zum Bierholen in den nächsten Supermarkt. Würde dir das nicht gefallen, Jupp?
"Ingo, es ist doch das Endszenario eines Science-Fiction Romans, was wir erleben. Leben wir dann eigentlich noch richtig oder vegetieren wir nur noch stumpfsinnig und blöde vor uns hin, als grinsende Konsumenten von Junk Food, Soap Operas, Sex Stories und gesellschaftlichen Klatsch? Kleine Fluchten bleiben uns erlaubt wie Karneval, Halloween, jederzeit Alkohol, Beruhigungsmittel und andere Drogen, damit wir nicht ganz durchdrehen."
- Jupp, du siehst die Sache zu einseitig. Du kannst jederzeit aus dieser Welt aussteigen, und deinem Leben einen Sinn deiner Wahl geben. Die elektronischen Medien bieten dir eine unbegrenzte Auswahl an Möglichkeiten. Die Welt ist ein Dorf geworden, welches dir aber mit wenigen Mouseclicks die gesamte universelle Vielfalt an Kultur anbietet.
"Der Sinn eines Lebens besteht doch für viele Menschen nur noch aus dem Motto "Geiz ist Geil". Das Christentum hat anscheinend durch den jahrtausendealten Mißbrauch der Gründeridee seine Sinnstiftung verloren. Religion im achso christlichen Abendland ist out, die Botschaft der Bibel wird nun ersetzt durch die täglichen Börsennachrichten. Und der Erfolg: eine gigantische Umverteilung des Geldes zu den Reichen. Jeder zehnte Erwachsene in Deutschland ist überschuldet, 1 % besitzen ein Drittel des Volksvermögens. Ein Großteil unserer Bevölkerung kann sich garnicht mehr aufraffen, weil er sich kaputt arbeitet. Und anschließend in unserem maroden Gesundheitssystem landet."
- Aber dann kann er sich wenigstens im Alter mit seinem weiblichen Pflegeroboter vergnügen. Wie gut das unser Wirt nicht schon durch einen Blechonkel ersetzt wurde. Herr Wirt, bitte zwei neue Bier, aber mit analoger Technik gezapft!
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