Alle anzeigen

Unser Gesundheitssystem startet durch!?

von Ingo Nöhr

Wir danken dem Verlag MEDI-LEARN.net GbR für die freundliche Erlaubnis, Cartoons von Rippenspreizer verwenden zu dürfen. Mehr Cartoons sind unter http://www.medi-learn.de/cartoons/ zu finden.
Vielen Dank MEDI-LEARN.de!

Die Weltpolitik schlägt immer irrwitzigere Kapriolen: Donald Trump tobt wild um sich, seit ein CIA-Beamter eine Meldung korrekt auf den Dienstweg geschickt hat. Boris Johnson hat die Queen verärgert und sein Parlament gegen sich aufgebracht. Peking schickt Tausende von Soldaten nach Hongkong. Ein junges Mädchen beschimpft in New York die versammelten Staatsoberhäupter der Welt. Angela Merkel verschlägt mit ihrem Klimapaket den Grünen gerade die Sprache, während ihr Verkehrsminister noch mit seiner teuren Mautaffäre beschäftigt ist. Und VW muss sich vor Gericht mit fast einer halben Million klagewütiger Kunden herumstreiten. Eigentlich genügend Gesprächsstoff für die beiden Pensionäre Ingo und Jupp. Aber es kommt bei ihrem monatlichen Treff in der Eckkneipe ganz anders als erwartet.

Hallo Ingo. Tu mir bitte einen Gefallen: lass uns heute nicht über Politik und den Brexit reden. Ich habe so die Nase voll von diesem irren Theater und kann das alles nicht mehr hören. Die Welt ist so laut, aggressiv und sensationslüstern geworden. Wir bekommen bei diesem Lärm gar nicht mehr mit, was sich in unserem Gesundheitswesen alles tut.

  • Aber gern, Jupp. Du hast recht. Wir brauchen mal wieder andere Nachrichten, die unser Fach betreffen. Denk nur mal an unsere Zukunft im Alter. Der Betrug von Pflegefirmen an hilflosen Pati­enten ist eine Massenerscheinung geworden. In Bayern ermitteln die Staatsanwälte gegen 35 der 120 Intensivpflegedienste. Betrüger ergaunern bei den ambulanten Pflegediensten zwei Milliarden Euro jedes Jahr. Minister Spahn will daher Intensivpflegepatienten nicht mehr zu Hause, sondern lieber stationär oder in WGs unterbringen, weil sich die Qualität dort besser kontrollieren lässt.

Aber damit hat er ja seinen Pflegenotstand noch nicht gelöst. 2030 fehlen rund 130.000 Fachkräfte, davon 30.000 für die häuslichen Pflege für die heute 2,6 Millionen Menschen. Die Zahl der Pflegedienste ist zwar auf 14.000 explodiert und die Branche beschäftigt 390.000 Mitarbeiter. Aber das ist immer noch viel zu wenig. Dabei sind die Zulassungskriterien geringer als bei einem Wurststand und öffnen den Betrügern ungeahnte Perspektiven. Im Prinzip kann jeder einen Intensivpflegedienst anbieten, eine angestellte Pflegeleitung reicht dafür. Aufgeflogene Gauner machen mit neuem Namen oder nach einem Umzug in ein anderes Bundesland einfach weiter, da es keine bundesweite Datenbank mit einer schwarzen Liste gibt.

  • Was sollen die verzweifelten Angehörigen auch machen? Sie müssen nehmen, was sich gerade anbietet. Aber man kann nicht sagen, dass nichts getan wird, denn im Gesundheitswesen bewegt sich zurzeit dramatisch viel. Jens Spahn hat in den letzten 16 Monaten 16 Gesetze auf den Weg gebracht. Damit bricht er alle Rekorde. Und nebenbei leider auch die Aufnahmefähigkeit des Parlaments, der Gesundheitsfunktionäre und der Gesundheitswirtschaft. Wer soll das noch alles lesen? Und mal über die Folgewirkungen nachdenken?

Ich finde das sehr gut, Ingo, dass er unseren verkrusteten Strukturen mal ordentlich Beine macht. Schließlich sitzen ihm Google, Amazon und Apple mit ihren digitalen Geschäftsmodellen im Nacken. Wenn die drei Giganten im deutschen Gesundheitsbereich eine kritische Masse an Nutzern erreichen, wird es für die gesetzliche Krankenversicherung umso schwerer, bei der datengetriebenen Medizin noch mitzuhalten. Die jungen e-Patienten machen den Kassen, Ärzten und Kliniken immer stärker Druck, endlich mehr und schneller digitale Dienste anzubieten. Die wollen nicht wochenlang auf einen Termin warten und dann stundenlang in Wartezimmern hocken, um in einem Fünfminuten-Gespräch mit ein paar Pillen abgespeist zu werden.

  • Leichte Fortschritte sind ja schon zu sehen, Jupp: fachärztliche Beratung mit Televisite bei TeleClinic, AU-Bescheinigung online ohne Arztbesuch, die gematik kommt mit ihrer Gesundheitskarte auch langsam zu Potte. Wenn nur nicht immer die Datenskandale die Patienten verunsichern würden. Der IT-Experte Dirk Schrader hat kürzlich in 50 Ländern 2.300 ungeschützte Server mit 16 Millionen Datensätzen von Patientenbefunden entdeckt. Bei deutschen Patienten waren 13.000 Röntgen-, CT- und MRT-Befunde frei einsehbar. Niemand fühlte sich verantwortlich: das Management der Gesundheitseinrichtungen, die Gerätehersteller, die Softwarehersteller, die Radiologen, die MTAs, die Datenschützer - immer waren wohl die jeweils anderen zuständig.

Na ja, Ingo. Wen juckte es? Unsere Patienten geben ja schon freiwillig ihre Gesundheitsdaten per eHealth-Apps, Wearables, Smartphones und WhatsApp zur Kommerzialisierung frei. Das Digitale-Versorgung-Gesetz soll ja die Verschreibung von Gesundheits-Apps auf Rezept ermöglichen. Der Hersteller stellt elektronisch einen Antrag auf Registrierung beim BfArM, wenn er bestimmte Grundanforderungen erfüllt. „Wir wollen Digitalisierung gestalten – nicht erleiden“, so das Motto unseres Gesundheitsministers. Natürlich freuen sich die Krankenkassen, so haben sie doch einen direkten Zugriff auf die Gesundheitsdaten ihrer Versicherten.

  • Ja, wen juckt das? Jupp, wie sagte jüngst Jens Spahn: „Der Datenschutz ist doch nur für Gesunde da.“ Die Dänen machen es mit den neuen Superkliniken vor: deren Personal, Patienten und Gerätschaften werden digital permanent überwacht. Und die Esten? Alles gläserne Bürger, bis hin zum Staatspräsidenten. Das erinnert mich gerade an letztes Jahr, als die kompletten Daten von 1,5 Millionen Patienten von Singapur Health nach einem Hackerangriff im Internet einsehbar waren, darunter auch die von Premierminister Lee Hsien Loong und einigen seiner Minister.

Eigentlich sollte uns die DSGVO vor dem Datenmissbrauch schützen. Aber leider kann sie mit dem digitalen Fortschritt nicht mithalten. Die neuronalen Netzwerke der Künstlichen Intelligenz mit ihren unglaublichen Lernfähigkeiten kollidieren gerade mit dem Anspruch von §12 Abs.1 DSGVO, dass der Betroffene in „präziser, transparenter, verständlicher und leicht zugänglicher Form in einer klaren und einfachen Sprache“ über die Ergebnisfindung informiert werden soll. Dabei weiß der Arzt oft selbst nicht, wie sein KI-Doc zu der Diagnose gekommen ist. Wie validiert man die KI-Software?

  • Das ist aber schlecht, Jupp. Minister Spahn hat doch gerade sein Health Innovation Hub in Berlin mit den Worten gestartet: „Wir wollen bahnbrechende Technologien schneller erkennen und besser bewerten können“. Zwölf Experten mit einem Budget von 1,8 Millionen Euro sollen die Chancen der Digitalisierung für eine bessere Versorgung von Patienten nutzen.

Besser bewerten, soso. Die Experten dürfen sich dann wohl auch mit der neuen EU-Verordnung für Medizinprodukte herumschlagen, die nächstes Jahr im Mai in Kraft tritt. Gemäß Klassifizierungsregel Nr. 11 benötigt die KI-Software ein CE-Konformitätsbewertungsverfahren durch eine Benannte Stelle, welche die klinische Wirksamkeit der Software und die Abwesenheit unerwünschter Seiteneffekte sorgfältig prüft und dokumentiert. Nun verändert sich aber die Leistungsfähigkeit des Systems nach der Zulassung durch das ständige Lernen. Die amerikanische FDA hat das Problem ganz einfach umschifft. Die hat die KI-Algorithmen nach der Zulassung einfach gesperrt – sie dürfen nicht mehr lernen.

  • Ja ja, Jupp - die Medizinprodukteverordnung der EU. Da droht nächstes Jahr ein großes Chaos, besonders bei den kleineren Unternehmen. Viele werden die Umsetzung nicht überleben, da sie die Zulassungsanforderungen finanziell und zeitlich kaum bewältigen können. Es gibt zudem noch nicht ausreichend Benannte Stellen, noch keine funktionsfähige EUDAMED-Datenbank und keine strapazierfähige Umsetzungsstrategie. Das BMG bastelt mit Hochdruck am Medizinprodukte-Anpassungsgesetz EU, welches im Mai 2020 das MPG außer Kraft setzen soll. Dann gilt die EU-Verordnung für Medizinprodukte direkt und in Deutschland zusätzlich das Medizinprodukte-Durchführungsgesetz (MDG). Allerdings wird das eigentlich abgelöste MPG noch drei Jahre länger für die In-vitro-Diagnostika gebraucht. Rechtsanwalt Dr. Volker Lücker hat eine explosionsartige Zunahme von „Interpretationshilfen, Guidance-Dokumenten, Medizinprodukte-Leitfäden und Ähnlichem“ konstatiert, „die eine Rechtssicherheit suggerieren, die sie gerade nicht besitzen“.

Da wird ja die gerade von der Bundesregierung gegründete Agentur zur Förderung von Sprunginnovationen in Leipzig als „Agentur der Denker und Macher“ für disruptive Innovationen noch harte Nüsse zu knacken haben. 35 bis 50 Personen, ausgestattet mit 151 Millionen Euro für drei Jahre sollen Deutschland besonders in der KI-Medizintechnik wieder an die Weltspitze führen.

  • Die vergleichbare amerikanische Innovationsagentur Darpa verfügt über einen Jahreshaushalt von 2,5 Milliarden Dollar. Leider hat unsere Regierung schon öfter von der Weltspitze geträumt: Breitbandnetze, digitale Verwaltung, Gesundheitskarte, und so fort – und sich dabei jedes Mal blamiert. Da bleibt nur zu hoffen, dass diese Agentur unter der Leitung von Professor Dietmar Harhoff vom Max-Planck-Institut für Innovation und Wettbewerb diesmal die geistige Freiheit genießen darf, sich riskanten Ideen und spekulativen Ansätzen außerhalb des Mainstreams der Forschung zu widmen. Sie sollte auch mal Projekte angehen dürfen, die zu 90 Prozent scheitern können. Google hat gerade nach mehreren gescheiterten Versuchen die Quantum Supremacy erreicht. Der Quantencomputer Sycamore hat mit 53 Qubits eine spezielle Rechenaufgabe in 200 Sekunden gelöst, für die der weltschnellste Superrechner 10.000 Jahre gebraucht hätte. Jetzt kombiniere mal solche eine Rechnerleistung mit einer KI.

Regierungsagenturen genießen ja nicht gerade einen guten Ruf. Die Kollegen in Westen haben vorsichtshalber ein eigenes Institut für Künstliche Intelligenz in der Medizin auf den Weg gebracht. Gemeinsam mit der Uniklinik Essen und die Universität Duisburg-Essen soll mit vier Professuren „der KI-Leuchtturm für Medizin in ganz Nordrhein-Westfalen“ entstehen.

  • Überall entstehen Leuchttürme. Sie sollten uns aber den Weg weisen und sind kein Liegeplatz, an dem man festmacht. Ich bin schon ganz geblendet von den ganzen Lichtern. Dabei herrscht am Fuße des Leuchtturms Dunkelheit, so sagen die Japaner. Es wäre schön, wenn die sich alle einmal bundesweit vernetzen würden.
    Da lobe ich mir doch unseren Leuchtturm der Kommunikation heute, der noch ohne künstliche Intelligenz funktioniert.

Gut gesprochen, Ingo. Also auf ein Neues. Herr Wirt, bitte zwei Bier!
Und ein Prost auf den Fortschritt, am besten getrieben von einer Kombination aus menschlichen und maschinellen Fähigkeiten, einer humanistischen KI.

 „KI ist sehr gut darin, die Welt zu beschreiben, so wie sie heute ist, mit all ihren Vorurteilen.
Aber KI weiß nicht, wie die Welt sein sollte.“
(Autor unbekannt)

Zurück

Einen Kommentar schreiben