Über Twitter-Präsidenten, Krisenchancen und Deutschland 4.0
von Ingo Nöhr
Ingo Nöhr und sein Freund Jupp treffen sich wieder zum monatlichen Gedankenaustausch in ihrer Eckkneipe. Angesichts der rasanten Entwicklungen in den USA und deren weltweiten Auswirkungen müssten diese Treffen eigentlich wöchentlich oder noch öfter stattfinden. Der Schweizer Max Frisch sagte einmal: „Technik ist ein Kniff, die Welt als Widerstand aus der Welt zu schaffen, beispielsweise durch Tempo zu verdünnen, damit wir sie nicht erleben müssen.“ Sind dies schon die Anzeichen des bevorstehenden Zusammenbruchs von verkrusteten Systemen, die wegen der politischen Verfilzung und Korruption nicht mehr reformiert werden können? Steht uns in Europa und Deutschland bald ähnliches bevor? Gibt es noch wirksame Reparaturmechanismen, die den drohenden Kollaps auffangen können?
Mensch, Ingo, hättest du das für möglich gehalten? Wir erleben gerade Weltgeschichte live! In nur zwei Wochen seiner Amtszeit krempelt Donald Trump wie ein rasender Bulldozer die USA um. Grundsätze der Verfassung? Menschenrechte? Internationale Verträge? Gerichtsurteile? Klimaabkommen? UNO und NATO? Die stören nur und verhindern die Umsetzung seiner Wahlversprechen. Durch den sofortigen Einreisestopp gibt es überall Chaos auf den Flughäfen. Ministerien, Presse, Konzerne und Wissenschaftler rebellieren. Fast alle Führungskräfte im Justizministerium wurden gefeuert. Und eine mutige Bundesrichterin setzt per einstweiliger Verfügung wesentliche Teile des Trump-Dekrets mit US-weiter Wirkung außer Kraft.
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Ja, Jupp, so schnell funktioniert Government by Twitter. Keine lästigen Debatten und Diskussionen mehr, Demonstrationen und Proteste in aller Welt werden ignoriert. Nur noch sofortige Aktionen durch Dekrete zählen, solange Trumps Wahlvolk begeistert jubelt. America first! Der Rest der Welt soll sehen wo er bleibt. Internationale Handelsabkommen funktionieren nur, wenn sich die Mitglieder freiwillig daranhalten. Natürlich können Europa, China, Mexiko die Regelverletzungen bei der Welthandelsorganisation anzeigen und dürften dann selber mit Strafzöllen auf amerikanische Importe reagieren.
Aber das schert Trumps Truppe überhaupt nicht. Zunächst einmal sind die Handelspartner eingeschüchtert und halten still, weil sie total überrascht wurden. Wie beim Brexit scheint es keine Strategie für eine angepasste Reaktion zu geben, niemand hat mit dieser Entwicklung gerechnet.
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Aber solange, bis die WHO in den komplizierten Verfahren den Klägern Recht gibt, kann Donald Trump seine kurzfristigen Erfolge auf dem Arbeitsmarkt einfahren. Die Konjunkturbelebung durch „Trumponomics“ wird zur Freude seiner Wähler einige Zeit anhalten, bis letztendlich die negativen Folgen seines Handelskrieges sichtbar werden. Die amerikanischen Konzerne sind existenziell von den globalen Wertschöpfungsketten abhängig und dürften schweren Schaden nehmen. Trump wird dann seine „alternativen Fakten“ verkünden und anschließend genügend Sündenböcke finden, die ihn und das Vaterland verraten haben. Das „postfaktische Zeitalter“ lässt grüßen. Zum Schluss entwickelt er sicherlich eine elegante Ausstiegs-Strategie, um die Probleme bei seinem Nachfolger abzuladen. Dann kann er sich per Twitter im Stundentakt über dessen Versagen auslassen. Bis dahin hat er seine Schäfchen längst ins Trockene gebracht.
Das scheint sein Hauptziel zu sein. Sein ganzer Familienclan ist eingebunden, die saubere Trennung von Regierungsgeschäften und Privatbusiness steht nur auf dem Papier. In der Liste der mit dem Einreiseverbot belegten 19 Länder fehlen genau die vier Länder, aus denen die 9/11-Terroristen kamen: Saudi- Arabien, Vereinte Arabische Emirate, Ägypten und Libanon. Dort laufen umfangreiche Trump-Geschäfte, die wohl nicht gestört werden sollen. Also Ingo, dass muss dich doch auch deprimieren, oder siehst du immer noch positive Ansätze?
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Jupp, du kennst doch den alten Grundsatz: In jeder Krise stecken auch neue Möglichkeiten. Die Chinesen haben für Krise und Chance das gleiche Schriftzeichen. Gehen wir doch mal die letzten Schockwellen länderweit durch. Griechenland – der labile Euro musste gestützt werden. Türkei – die Illusionen über deren demokratische Basis sind begraben. Großbritannien – der Brexit tritt die EU ordentlich in den Hintern. USA – die moralische Reputation und wirtschaftliche Dominanz der Amerikaner auf den Weltmärkten wird erschüttert. China steht als Ersatzpartner für das TPP-Abkommen zur Diskussion. Abwehrkräfte werden mobilisiert. Die EU rückt enger zusammen. Man besinnt sich auf geeignete Gegenmaßnahmen. Und jeder erhält schon mal einen ersten Eindruck über die Auswirkungen, wenn populistische Parteien an die Regierung kommen. Die schweigende Mehrheit wird wachgerüttelt.
Ich erinnere mich noch an eine frühere Aussage von dir, Ingo. Du hältst unser Gesundheitssystem auch für dermaßen unregulierbar und reformunfähig, dass nur ein radikaler Umbau und Neuanfang eine Verbesserung verspricht. Siehst du dort auch schon Anzeichen?
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Durchaus. Die Verfilzungen des Gesundheitsministeriums mit den großen Lobbyverbänden der Pharmaindustrie, der Ärzte und Apotheker und dem medizintechnischen Komplex stoßen mehr und mehr an ihre nationalen Grenzen. Die zunehmende Konzentration durch internationale Aufkäufe und Fusionen von Klinik- und Laborbetreibern, Pharmakonzerne und anderen Unternehmen in der Gesundheitswirtschaft hebelt die staatlichen Machtstrukturen immer mehr aus. Ein Beispiel: Minister Gröhe wollte seinen Apothekern durch ein Verbot der DocMorris-Internetapotheken etwas Gutes tun. Nun hat sich die unabhängige Monopolkommission der Bundesregierung gegen das geplante Verbot des Versandhandels mit rezeptpflichtigen Medikamenten ausgesprochen, weil es gegen Europa- und Verfassungsrecht verstößt.
Na gut, Ingo, das halte ich aber noch nicht für besonders dramatisch. Er hat halt wie Verkehrsminister Dobrindt mit seiner Maut und Landwirtschaftsminister Schmidt mit der Düngeverordnung lernen müssen, dass man nicht mehr so einfach EU-Recht ignorieren kann. Da gibt es halt ein dickes Bußgeld oder Deutschland muss gründlich nachbessern.
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Okay, Jupp. Ein zweites Beispiel: das französische Startup Doctolib bietet eine Plattform für die Vermittlung von Arztterminen. Zurzeit pro Monat gibt es 6 Millionen Besuche von Patienten, die bei 17.000 Ärzten anfragen können. Sein Konkurrent Patientus, einer der führenden Anbieter für Online-Videosprechstunden, wurde letzten Monat von Jameda, einem der größten Portale für Online-Arztempfehlungen und Online-Arzttermine, übernommen und gehört nun dem Burda-Verlag, einer der größten Medienkonzerne Deutschlands. Der Doktor per Telemedizin dürfte künftig den Ärztemangel auf dem Land reduzieren. DocMorris wird dann wohl die rezeptpflichtigen Medikamente liefern, die dann per Amazon-Drohne beim Patienten im Vorgarten oder auf dem Balkon abgegeben werden. Wie groß ist da noch der Schritt zum IBM Dr. Watson, der auf 150 Millionen Terabytes Gesundheitsdaten zugreifen kann? Die Uniklinik Marburg hat schon die künstliche Intelligenz von Dr. Watson zur Verstärkung der Diagnosen von unerkannten und seltenen Erkrankungen engagiert.
Da bin ich gespannt, wie Dr. Watson in den Bewertungsportalen der Patienten eingeschätzt wird. Sanego bietet über 400.000 Arztbewertungen an. Patienten berichten bei klinikbewertungen.de ausführlich über ihre Erfahrungen in 3.000 Kliniken. Knapp 700 kritische Zwischenfälle kann jeder Interessierte aus dem CIRS-NRW abrufen. Das Internet macht unsere Gesundheitsdienste transparent, die geschönten Qualitätsberichte lassen sich kritisch hinterfragen. Das ARD-Magazin Plusminus und die Rechercheplattform Correctiv musste allerdings gerade eine interaktive Karte aus dem Internet entfernen, auf welcher der Hygienestatus aller deutschen Kliniken verzeichnet war, weil die Daten nicht mehr aktuell waren. Ein Viertel der namentlich genannten Häuser hatte angeblich die Hygienevorschriften nicht erfüllt.
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Unser Projekt Gesundheit 4.0 läuft noch nicht ganz rund in Deutschland. Unsere Minister kommen einfach mit dem Geldausgeben für die Infrastruktur nicht nach. Nur für 3 von 26 Maßnahmen des Zukunftsinvestitionsprogramms konnten die Mittel komplett ausgeschöpft werden. Für den Breitbandausbau in 2016 hatte Minister Dobrindt 600 Mio. Euro zur Verfügung, ausgegeben hat er 5 Mio. Euro. Im Nationalen Innovationsprogramm Wasserstoff- und Brennstoffzellentechnologie brachte er von 25 Mio. Euro gerade mal eine halbe Million unter. Mein Autohändler bietet mir gerade eine Probefahrt mit dem Toyota Mirai an, die erste Wasserstoff-Limousine in Großserie.
Tja, Ingo. Wir Deutschen denken manchmal erst gründlich nach, bevor wir Geld ausgeben. Zuviel Gesellschaft 4.0 ist auch nicht gut. Hast du von dem Vier-Sterne-Hotel in Österreich gehört? 180 Gäste konnten mit den Schlüsselkarten ihre Zimmer nicht mehr betreten oder verlassen, weil ein Ransom-Hacker das gesamte IT-System blockiert hatte. Nach einer Zahlung von 1.500 Euro in Bitcoins wurde der Computer wieder entsperrt. Für eine amerikanische Klinik kam die Erpressung etwas teurer: 15.000 Euro. Mittlerweile wurden in Großbritannien bereits 30 Prozent der staatlichen Kliniken des NHS Trusts Opfer eines Ransomware-Angriffs. Wir Deutschen können natürlich auch mitreden: bei uns betrifft es laufend Krankenhäuser, Stadtverwaltungen und Unternehmen. Steigerungsrate in 2016: 80%.
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Kein Wunder: gerade mal 11% unserer Führungskräfte erklären sich hinsichtlich Cybersecurity als „sehr fit“. Viel größeren Schaden als die Erpresser können sogenannte Botnetz-Attacken anrichten. Ein Trojaner namens Mirai, nicht der von Toyota, hatte im Oktober 2016 weltweit Dienste wie Twitter, Reddit, Netflix, Spotify und Paypal für Stunden ausgeschaltet, indem er sie mit Millionen von umprogrammierten Webcams, Drucker, Router, Videorecorder und sogar Baby-Monitore angriff. Die Anzahl dieser im Internet vernetzten Geräte steigt in drei Jahren von 16 Milliarden auf 200 Milliarden, das Internet der Dinge ist aber nur unzureichend geschützt. So kam es, dass Mirai einen Monat später fast eine Million Telekom-Router lahmlegte. Jetzt kann man ein Mirai-Botnetz mit 400.000 Geräten schon im Internet mieten, der Quellcode ist frei zugänglich. Übertrage dieses Horror-Szenario mal auf die vernetzte Medizintechnik im Krankenhaus.
Nicht auszudenken. Lieber Ingo, ist es da nicht sehr beruhigend, dass wir noch in einer Kneipe 1.0 in Ruhe unser analog hergestelltes und gezapftes Bier trinken können? Und das ohne per Twitter zu bestellen?
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Du hast Recht, Jupp. Unser Wirt hat keinen Ransomware-Angriff zu befürchten: „1.000 Euro her oder der Zapfhahn bleibt blockiert!“ klappt bei ihm nicht. Herr Wirt, bitte mal zwei Bier an Tisch vier.
«Das Internet ist so groß, so mächtig und so sinnlos – für manche ist es ein kompletter Ersatz für das Leben.»
(Andrew Brown, Präsident der British Computer Society Young Professionals Group)
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