Über die Ohnmacht der Politiker, die neuen Grenzen und Krisen-Angela
von Ingo Nöhr
Ingo Nöhr und sein Kumpel sitzen in nachdenklicher Stimmung bei ihrem obligatorischen Bier in ihrer traditionellen Eckkneipe, die bereits weihnachtlich ausgeschmückt ist. Gerade wurde Helmut Schmidt zu Grabe getragen. Eine deutsche Legende und weltweit geachteter Staatsmann. Als im Februar 1962 bei einer Sturmflut in Hamburg die Deiche brachen, setzte er als Innensenator alles, was nur irgendwie eine Uniform trug, zur Rettung seiner ertrinkenden Bürger ein. Bundeswehr, Nato-Truppen, Bundesgrenzschutz, Luftschutz – alles nicht in seiner Zuständigkeit und entgegen dem Grundgesetz. Als selbstdeklarierter Krisenmanager ignorierte er sämtliche zuständigen Senatoren und Beamten („Die hätten uns ja nur gestört!“) und erteilte als ehemaliger Bundeswehrhauptmann knallharte Befehle, die keine Widerrede duldeten. Alle hörten auf sein Kommando.Und wer im Krisenstab durch lange Redereien „den Laden aufhielt, dem habe ich einfach das Wort entzogen“. Dies brachte ihm den Spitznamen „Schmidt-Schnauze“ ein, aber damit rettete er Tausenden von Hamburgern das Leben.
Tja, Ingo, da geht er hin: der letzte gestandene Politiker. Der war noch ein Krisenmanager, der diesen Namen wirklich verdient hat. Und uns lässt er zurück mit unseren Dauerkrisen. Weit und breit kein Ersatz zu sehen, noch nicht einmal annähernd. Um die Flüchtlingsströme müssen sich seit Monaten Zehntausende von Freiwilligen im kostenlosen Dauereinsatz kümmern, weil sämtliche Behörden und Politiker versagt haben. Dabei wurde dieser Massenandrang seit vielen Jahren erwartet, aber alle Warnungen wurden regelmäßig ignoriert. Und unsere europäische Idee kannst du gleich ganz vergessen. Jeder Staatsmann denkt nur noch an sich selbst und seine Wiederwahl.
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Ich weiß, Jupp. Das sind alles Schönwetter-Einrichtungen. Beim ersten Sturm fallen sie um. Sämtliche Notfallpläne bestehen doch nur aus Papier. Stell dir doch nur mal vor, ein Kernkraftwerk in unserer Umgebung wäre hochgegangen. Da müssten die Behörden in kürzester Zeit Hunderttausende Bewohner evakuieren. Wie das ablaufen würde, kannst du heutzutage selbst beobachten. Und was die Europäische Union angeht, hast du auch recht: ebenfalls eine Schönwetter-Veranstaltung. Sobald es Geld zu verteilen gibt, sind sie alle da. Aber wenn es darum geht, mal bei einer Krise anzupacken, dann gehen sie sofort auf Tauchstation. Und machen gleich die Grenzen wieder dicht.
Ingo, das ist nicht nur in Europa so. Da fuhr vor einigen Wochen in Hessen ein Bus mit Flüchtlingen ab, damit sie in Nordrhein-Westfalen in bereits vorbereitete Unterkünfte einziehen konnten. Die Polizei stoppte diesen Bus an der NRW-Grenze und schickte alle wieder zurück nach Hessen. Warum? Weil sie nicht die in NRW vorgeschriebene Gesundheitsuntersuchung vorweisen konnten.
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Es ist ja noch schlimmer. Täglich gibt es Brandanschläge auf Flüchtlingsheime, sogar wenn sie bereits bewohnt sind. Würde man diese Taten dem Terrorismus zurechnen und entsprechend verurteilen, wäre der Spuk wohl schnell vorbei. Zumindest die angeblich braven Bürger würden endlich merken, in welch gefährliches Fahrwasser sie da geraten sind.
Ingo, der Behörden-Irrsinn treibt auch immer wildere Blüten: eine Gemeinde besteht auf einer ausreichenden Anzahl von Parkplätzen bei einer Flüchtlingswohnung, eine Bauaufsichtsbehörde gibt eine große Wohneinrichtung nicht frei, weil das Geländer wenige Zentimeter zu niedrig ist. Ein halbseitig gelähmter Armenier wurde im fünften Stockwerk eines Hauses ohne Aufzug untergebracht. Ein schönes Stempelkissen ersetzt das halbe Amtsgewissen!
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Die Wirtschaft eines Landes wäre doppelt so stark, wenn die Bürokratie der Behörden nur halb so stark wäre. Da kommt noch einiges auf uns zu. Die UN-Flüchtlingshilfeorganisation meldet gerade, dass bedingt durch Kriege und Folgen des Klimawandels in diesem Jahr weltweit 60 Millionen Menschen auf der Flucht sind. Weil sie kein Geld für Fluchthelfer haben, hungern allein in der Sahelzone 25 Millionen. Und bis zum Jahresende werden dort 700.000 Kinder verhungert sein. Und wir bauen unsere Festung Europa wieder aus, nachdem wir durch unsere hochsubventionierte Agrarpolitik nicht ganz unschuldig an dieser Entwicklung sind.
Sieh nur den Paris-Anschlag. Jetzt werden von interessierten Kreisen die syrischen Flüchtlinge in einen Topf mit den islamischen Terroristen geworfen. Und wo waren die Warnungen der Geheimdienste? Sie hätten nur die Zeitung lesen müssen. Der Planer der Anschläge von Paris hat Monate vorher bei einem Interview im Hochglanzmagazin DABIQ damit angegeben, wie leicht es ist, den Überwachungsapparat auszutricksen und vor Ort Anschläge zu planen. Er hat seinen Wohnsitz Belgien bestätigt und angedeutet, dass ein neuer Anschlag geplant ist. In einem für jeden zugänglichen Medium des IS.
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Ja, komisch nicht? Frankreich hat schon länger die Vorratsdatenspeicherung eingeführt, öffentliche Plätze werden videoüberwacht, die Geheimdienste arbeiten mit Programmen zur Massenüberwachung und kürzlich wurden erst noch drakonischere Sicherheitsgesetze verabschiedet. Sieben von acht Terroristen wurden in Frankreich geboren, waren behördlich bekannte und verdächtige Islamisten und haben offenbar unverschlüsselt kommuniziert. Hat alles nichts genutzt.
Staatschef Hollande hat darum den IS-Terroristen den Krieg erklärt und sucht sich gerade seine eigene Koalition der Willigen zusammen. ‚Wir sind im Krieg‘ – das ist doch seit dem 11. September 2001 eine traurige Endlosschleife. Dabei sind die saudiarabischen „Freunde“ weiterhin die größten Finanzierer des weltweiten IS-Terrorismus.
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Jetzt ziehen wir Deutschen auch schon wieder in den Krieg. Und was hat er in den letzten vierzehn Jahren gebracht? Er hat unzählige Massen an neuen terroranfälligen Menschen hervorgebracht, die nichts mehr zu verlieren haben und nur noch als Märtyrer ins selige Paradies eingehen möchten.
Ingo, das stimmt nicht mehr so ganz. Zu den IS-Kriegern strömen auch Hunderte von europäischen Staatsbürgern, die keinen Fuß in unserer Gesellschaft fassen konnten oder von ihr quasi ausgesondert wurden. Hier rächt sich das Versagen der Politik in der Integration ganzer Bevölkerungsschichten. Das Verhängnis fängt schon bei der Geburt an, setzt sich im Kindergarten und in der Schule fort und endet schließlich in der Arbeitslosigkeit. Nebenbei müssen die Outlaws zusehen, wie ihr Staat mit Milliardensummen die Bankster vor der Pleite rettet. Retten muss – weil sie sind ja „too big too fail“. Die Ohnmacht der Politik ist nur zu offenkundig.
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Jupp. Ich muss dir widersprechen. Nicht die Politik ist ohnmächtig. Sie hat ja die Gesetzgebungsgewalt und eine funktionierende Exekutive. Sie bekommt durch ihren wissenschaftlichen Apparat frühzeitig alle wichtigen Informationen. Sämtliche Instrumente zur Durchsetzung des Rechts sind vorhanden, das beweisen doch die politikkorrigierenden Urteile unserer obersten Gerichte. Es ist die Ohnmacht der Politiker, die nicht mehr in der Lage sind, durch Mut, Besonnenheit und Weitsinn eine gerechte Ordnung zu schaffen. Sie reagieren nur noch panisch mit Alibiaktionen auf eine sich empörende und zunehmend frustrierte Öffentlichkeit.
Stimmt, Ingo. Unsere Politiker in Bund, Länder und Kommunen sind total verfilzt und abhängig von wirtschaftlichen Interessen, die man in den meisten Fällen als Korruption bezeichnen muss. Daher haben wir als weltweit letztes Land immer noch kein wirksames Antikorruptionsgesetz für Abgeordnete geschaffen. Diese kassieren in dieser Legislaturperiode nach einer Schätzung mindestens 20 Millionen Euro nebenbei. Die bayrischen Landtagsabgeordneten liegen bei über 13 Millionen Euro. Trotz eines Gerichtsbeschlusses wollte der Bundestag die Liste der über eintausend Lobbyisten mit einem Hausausweis nicht herausrücken. Jetzt hat endlich das Oberverwaltungsgericht einen Schlussstrich unter diese Geheimhaltung gezogen.
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Ja, Jupp. Es ist der elende Lobbyismus, der zusammen mit dem föderalen System in den letzten Jahrzehnten wirksame Reformen verhindert hat. Steuerrecht, Justizreform, Schulwesen, Klimaschutz, Geheimdienstkontrolle, Neuordnung der Bundesländer – überall unfertige Baustellen, deren Zustand Jahr für Jahr maroder wird.
Du hast die Gesundheitsreformen vergessen, die wir seit Generationen über uns ergehen lassen, ohne dass die Effizienz sich jemals verbessert hätte. Aber ich denke, dass sich die Patienten jetzt selber zu helfen wissen. Dank Google und Wikipedia diagnostizieren die ihre Krankheiten selber, hinterfragen in den weborganisierten Selbsthilfegruppen die Erfahrungen mit Kliniken und Therapien und holen sich die Medikamente kostengünstiger aus der Internetapotheke.
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Die Bundesärztekammer und die Kassenärztliche Bundesvereinigung haben bereits darauf reagiert und ein gemeinsames Kompetenzzentrum geschaffen: das Ärztliche Zentrum für Qualität in der Medizin in Berlin. Interessant auf jeden Fall ist der dortige Link zu einer CIRS-Datenbank mit über 4600 kommentierten Fallbeschreibungen von kritischen Vorfällen. Schau mal rein, Jupp. Danach willst du am besten einen großen Bogen um ein Krankenhaus machen.
Da bin ich ja nicht alleine. Damit die Leute gar nicht erst krank werden, holen sie sich medizinische Apps und tragen Wearables. Und schon sind wir wieder beim Datenschutz angelangt. Der ist doch durch die amerikanischen AGBs längst obsolet, wie wir kürzlich durch das Scheitern der Safety Harbour Regelung mit den USA erfahren mussten. Dabei schauen unsere Arbeitgeber und Versicherer ganz begehrlich auf einen Zugriff zu dieser Sammlung intimer Daten, so wie die Personalchefs schon längst bei den relevanten Bewerbern deren öffentliche Facebook-Profile durchforsten.
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Apropos Profil: schau dir mal unsere Kanzlerin Angela Merkel an. Als gelernte Physikerin betrachtet sie das politische Geschehen mit anderen Augen. Sorgfältig beobachtet sie das komplexe System unserer Gesellschaft, vermeidet punktuelle Eingriffe und unbedachte Reaktionen. Aber sie greift wie im Fall der Eurokrise oder nach dem Reaktor-GAU in Fukushima sehr schnell ein, wenn die Situation zu entgleisen droht. Bei der Flüchtlingskrise lässt sie sich nicht aus der Ruhe bringen, bleibt stabil bei ihrer Meinung, dass wir alles im Griff haben. Erinnerst du dich, als sie bei der Bankenkrise standfest verkündete, dass die Ersparnisse aller Deutschen sicher seien. Völliger Unsinn, aber glaubwürdig vorgebracht und damit erfolgreich. Der Professor und Manager-Coach Michael Marie Jung hat mal gesagt: „Auf den Böden der Krisen wachsen oft regelrechte Riesen.“ Vielleicht verkörpert unsere Angela ja den neuen Typus der Krisenmanagerin?
Ingo, du weißt ja, die Russen haben seit jeher ein erprobtes Mittel gegen jede Art von Krisen: Wodka. Gut, dass wir über unser eigenes bewährtes Krisengetränk verfügen – das gute alte Bier.
Herr Wirt, zwei neue Bier bitte, wir müssen jetzt krisenfester werden.
In Krisenzeiten hat guter Rat meist nur einen einzigen Effekt:
der Beratende kommt sich klug vor. (Unbekannt)
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