Über die erwachende Macht der Verlierer
von Ingo Nöhr
Da haben ein paar unbeugsame Wallonen der Wirtschaftswelt kürzlich gezeigt, dass sie sich nicht ungestraft dem Diktat der Mächtigen unterwerfen wollen. Wie weiland Asterix und Obelix im gallischen Dorf bestanden sie auf ihre Interessen, weil sie sich partout nicht von der Politik vertreten gefühlt haben. Ingo Nöhr und sein Kumpel Jupp analysieren diese Erscheinung bei ihrem monatlichen Stammtischabend und entdecken erstaunliche Parallelen.
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Ingo, hast du das auch verfolgt, wie der wallonische Regierungspräsident die gesamte EU-Regierung mit ihren CETA-Geheimverhandlungen vorgeführt hat. Jetzt reden alle davon, dass sich die EU weltweit blamiert hat, weil sie nicht mit einer gemeinsamen Stimme sprechen kann. Wie schon Henry Kissinger damals als US-Außenminister nach einer verbindlichen Telefonnummer von Europa fragte, um seine Politik abzustimmen.
Jupp, ich glaube, dass der Wallone Paul Magnette einen großen Orden verdient hat. Er ist ja nicht ein starrsinniger Landwirt, der egoistisch nur seine eigenen Interessen durchsetzen wollte. Als Cambridge-Absolvent und Universitätsprofessor für Europäisches Verfassungsrecht hat er wohl als einer der wenigen den CETA-Text ganz gelesen und verstanden, was dieser Vertrag für gravierende Nachteile für den Mittelstand und die europäischen Bürger auslösen würde. Wahrscheinlich wird man erst Jahre später verstehen, wovor er uns eigentlich bewahrt hat.
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Eins ist aber jetzt schon deutlich geworden, dass sich der einfache Bürger nicht mehr alles gefallen lässt, was Politiker fernab von seinen Interessen und eigentlichen Bedürfnissen beschließen. Der Respekt vor der Regierung ist verschwunden, weil in der Vergangenheit das Vertrauen in die Volksvertreter zerstört worden ist. Der Brexit war doch ein ohrenbetäubender Warnschuss. Ungarn und andere EU-Länder verweigern die Gefolgschaft bei der Flüchtlingspolitik der EU. In Deutschland haben wir die Pegida-Bewegung und AFD-Wähler, die beileibe nicht nur aus dummen Wutbürgern bestehen.
Jupp, ich glaube in den USA kann man am erstaunlichen Donald Trump Erfolg schon erkennen, was uns künftig bevorstehen könnte. Blinde Destruktionspolitik, Zerstörung der verhassten Machtstrukturen, Misstrauen bei den demokratischen Institutionen, kurz gesagt: die Verlierer bekommen zunehmend die Meinungshoheit und die Gefolgschaft einer schweigenden Mehrheit, die sich im Verteilungskampf um einen schrumpfenden Arbeitsmarkt befindet und bislang ohnmächtig zusehen musste, wie sich die Reichen auf ihre Kosten die Taschen vollstopfen und.
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Auch wir haben in den letzten Jahren die Bankenkrise, die Eurokrise, die Staatsschuldenkrise und die Flüchtlingskrise durchlitten und dabei jedes Mal die Ohnmacht der Politik miterleben müssen. Keine dieser Krisen ist bis heute nachhaltig bekämpft worden. Vielmehr hat Angela Merkel durch ihr Wir-schaffen-das ihre Reputation EU-weit zerstört und Verkehrsminister Dobrindt hat sich mit seiner PKW-Maut blamiert. Und nun will Gesundheitsminister nach dem EUGH-Urteil per Gesetz bei verschreibungspflichtigen Medikamenten die deutschen Apotheken vor den Rabatten der DocMorris-Konkurrenz im Internet schützen. Dabei haben wir schon sowieso einen europäischen Spitzenplatz in der Apothekendichte. Eine deutsche Apotheke versorgt im Schnitt 4.000 Einwohner, während in Dänemark 17.700 Menschen auf eine Apotheke kommen.
Ich denke auch, Jupp, Gröhe wird mit seinem Gesetz in Brüssel wieder abblitzen. Er sollte sich lieber um wichtigere Baustellen in seinem Gesundheitswesen kümmern. In den letzten fünf Jahren hat die Anzahl der stationären Behandlungen um sechs Prozent zugelegt, weil die Ärzte die Krankenhausbetten zunehmend selbst mit Patienten füllen, indem sie Besucher der Notaufnahmen stationär aufnehmen, obwohl dies gar nicht notwendig wäre. Kostet schätzungsweise 8 Milliarden Euro pro Jahr mehr, denn aus dem 20 Euro Notfall wird dadurch schnell ein 1000 Euro Patient.
Der zweite Skandal wurde gerade vom Chef der Techniker Krankenkasse ausgeplaudert. Um mehr Geld aus dem Risikostrukturausgleich zu erhalten, schummeln die gesetzlichen Krankenkassen im großen Stil bei der Abrechnung von Leistungen. Dazu zahlen sie den Ärzten Prämien von zehn Euro je Fall, wenn diese den Patienten auf dem Papier kränker machen. Dieser Betrug kostet uns dieses Jahr eine Milliarde Euro zusätzlich. Die Aufsichtsgremien der Selbstkontrolle und die Gesundheitsminister schauen weg, es ist ja nicht ihr Geld.
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Ja, die Krankenkassen. Aus einer an sich guten Idee haben sie gerade ein bürokratisches Monster geschaffen. Nachdem sie sich mit den Krankenhäusern nicht einigen konnten, haben sie und die Kassenärzte mit ihrer absoluten Mehrheit im Bundesschiedsamt durchgesetzt, dass nunmehr jeder Patient in ein formales Entlassmanagement einbezogen werden muss, ob er es braucht oder nicht. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft veranschlagt für die totale Umsetzung dieser Maßnahme etwa 100.000 Arbeitstage zusätzlich.
Jupp, für mich ist ja eigentlich erstaunlich, was aus unseren ehrwürdigen Ärzten geworden ist. Ich kann mich noch gut an die Zeiten erinnern, wo mein Arzt ausreichend Zeit für ein Gespräch hatte und mein vollstes Vertrauen besaß, dass er unbeeinflusst von kommerziellen Zwängen für mich die beste Therapie ermitteln wird. Und heute? Lassen wir mal die IGEL-Leistungen und die Budgetdeckelung beiseite, die ihn zu fachfremden Entscheidungen verführen. Um Rechtsstreitigkeiten mit hohen Schadenersatzansprüchen zu vermeiden, ist er zum verängstigten Defensivmediziner mutiert.
In der Klinik verlangen Manager und Verwalter von den Ärzten, dass sie aus Kostengründen immer weniger Zeit mit den einzelnen Patienten verbringen, sie so schnell wie möglich aus den Krankenhäusern entlassen und so viele Eingriffe wie machbar in möglichst kurzer Zeit durchführen. Sinn und Zweck des medizinischen Handelns werden juristischen und ökonomischen Zwängen untergeordnet, die hohe ärztliche und pflegerische Kunst ist aus Gründen der Kostendeckung zur Fließbandarbeit degradiert worden. Ärzte und Pflegekräfte werden nun als profane Leistungsbringer angesehen, die möglichst schnell schwarze Zahlen erwirtschaften sollen. Über die straffen Vorgaben bestimmen kaufmännische Vorgesetzte, die die ehemals sozial engagierten Krankenhäuser nach Industriekonzepten zu Massenabfertigungsfabriken umgewandelt haben.
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Ja, mein lieber Ingo, was meinst du denn als unverbesserlicher Optimist zu diesen ganzen Entwicklungen? Die klassischen Strukturen fahren doch alle an die Wand.
Du hast recht, Jupp, ich sehe das genauso. Wir haben keine visionären und mutigen Politiker mehr, sondern überwiegend durch ihr Alter geistig unbeweglich gewordene Volksvertreter, die längst den Kontakt zur Realität verloren haben. Die Jugend hat sich mit Grausen von den Volksparteien abgewendet. Sie hat die politische Macht längst an die Mehrheit der Alten abgeben müssen. Diese besitzen die Wählerstimmen, die Entscheidungszentren, das Geld, die Firmen, machen die Gesetze. Deutschland hat nach Japan die zweitälteste Bevölkerung der Welt. Ein Drittel der Wähler und die Hälfte aller SPD- und CDU/CSU-Mitglieder sind über 60 Jahre alt. Alle Wähler unter 21 erreichen nicht mal die Fünf-Prozent-Hürde. Die Alten bestimmen, was hinten rauskommt – in Parteien, Parlamenten und Volksentscheiden. Man sieht das am Internetausbau, am Umweltschutz, in der Renten-, Familien- und Bildungspolitik. Überall dort spielen die Erwartungen und Bedürfnisse der Jugend keine entscheidende Rolle mehr, denn sie sind nirgends relevant vertreten.
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Das sind ja grauenhafte Aussichten. Was soll aus unseren Kindern und Enkeln werden? Also hast du deinen Optimismus doch gänzlich verloren, wie ich sehe.
Nein, Jupp, da täuscht du dich. Richtig, unser Gesellschaftssystem ist in eine gefährliche Schieflage geraten, aber es handelt sich ja um ein komplexes und dynamisches System. Und dort gelten lineare Zusammenhänge und Extrapolationen nicht. Das Gesamtsystem wird korrigierend reagieren, wenn ein bestimmter Spannungszustand überschritten wird. Wir sehen das an den Völkerwanderungen der Armuts- und Kriegsflüchtlinge, an den lautstarken Wutbürgern, an den britischen Brexit-Anhängern, und nicht zuletzt unseren EU-Rebellen in Wallonien. Früher haben die Grünen die verkrustete Politiklandschaft in neuen Schwung versetzt, jetzt hat möglicherweise die AFD deren Rolle übernommen. Die digitale Revolution wird unsere verkrusteten Strukturen hinwegfegen wie das Smartphone das ehrwürdige Wählscheibentelefon der Deutschen Bundespost. Allein die drei Unternehmen Apple, Alphabet und Microsoft sind bereits mehr wert als alle 30 Konzerne im deutschen Dax. Und da zähle ich die Jugend zu den Gewinnern.
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Ingo, da ist es doch gut, dass das Alter bei unserem Wirt und seinen Produkten keine Rolle spielen wird. Ich bin sicher, dass unsere digitale Jugend auch ein kühles Bier zu schätzen weiß. Also auf die Zukunft – zwei Bier, Herr Wirt, für die alten Säcke hier.
Eine kleine Rebellion ab und zu ist eine gute Sache und ebenso notwendig in der politischen Welt wie Stürme in der psychischen.
Every generation needs a new revolution.
(Thomas Jefferson, 1743 – 1826, Gründervater und dritter Präsident der USA)
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