Simplify your life – oder die Verführung der einfachen Lösungen
von Ingo Nöhr
Wir leben in aufregenden, in hohem Maße beunruhigenden Zeiten. Das belegen zumindest die Schlagzeilen der letzten Wochen. Grund genug für unsere beiden Diskutanten Ingo Nöhr und Jupp, sich beim monatlichen Stammtisch mit dieser Problematik zu beschäftigen. Ein Blick in ein uraltes Prinzip des Qualitätsmanagements könnte vielleicht den Blick auf Lösungen verbessern.
Lieber Ingo. Es gibt kaum noch einen Tag in den Nachrichten ohne Horrormeldungen von Terroristen, Amokläufern, ratlosen Politikern oder durchgedrehten Staatsoberhäuptern bzw. Präsidentschaftskandidaten. Was sagt denn dein optimistischer Philosoph jetzt dazu?
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Jupp, du hast recht. Auf Optimisten scheinen schwere Zeiten zuzukommen. Anscheinend ist die Ära der einfachen Lösungen gekommen. Überall tauchen jetzt die Problemlöser mit ihren simplen Patentrezepten auf. Radikale Maßnahmen sind gefragt. Die AfD- und Pegida-Fans fordern: Weg mit allen obskuren Ausländern. Donald Trump will eine Mauer an der Grenze nach Mexiko bauen. Die amerikanische Waffenliga schreit nach noch stärkerer Bewaffnung der Bevölkerung. In Italien droht ein Zusammenbruch der Banken, in Griechenland, Spanien, Portugal und Frankreich ächzen die Menschen unter den erdrückenden Schulden. Die Eurozone fliegt bald auseinander, Regeln werden kaum noch eingehalten.
Ja, Ingo, wer hätte das gedacht. Und die Briten haben sich einfach aus der EU herausgewählt, um nicht mehr von den Flüchtlingen belästigt zu werden und um mehr Geld für ihr staatliches Gesundheitssystem übrig zu haben. Das stolze Commonwealth-Reich fällt zusammen. Unser Europa ist plötzlich kleiner geworden. Dabei waren wir schon drauf und dran, einen langjährigen Kandidaten die Tür ins europäische Haus zu öffnen. Aber sein beleidigter Präsident, dessen Namen ich hier aus prozessrechtlichen Gründen nicht nennen möchte, schnitzt sich gerade sein passendes Volk zurecht und bedroht alle Kritiker mit der Todesstrafe.
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Ja, Jupp. Dabei hat die Todesstrafe noch nirgendwo eine nachweisbare Abschreckung erzeugt. Überall hysterische Aufregung und hektischer Alibiaktionismus. Schon der alte weise Goethe hat festgestellt, dass jede Lösung eines Problems ein neues Problem schafft. Unser lieber Gesundheitsminister erfährt es gerade. Nachdem die Losung: ‚Rauchen gefährdet Ihre Gesundheit‘ nicht besonders wirksam war, sollen nun Horrorbilder die Süchtigen abschrecken. Das Gegenmittel ist einfach, billig und wirksam: eine kleine Schachtel als Umverpackung, schon sind die grauslichen Warnungen nicht mehr zu sehen. Jetzt müsste er auch diese Hüllen mit Warnungen versehen - eine Kette ohne Ende. Die staatliche Hektik löst ja das Grundproblem in keiner Weise. Sie verführt die Raucher letztendlich zum Selbstdrehen ihrer Zigaretten. Albert Einstein hat den Goethe weitergedacht: Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.
Und wie reagiert die politische Elite? Sie macht das, was sie am besten kann. Sie ist entsetzt, kondoliert, tröstet, beschwört, konferiert und erweckt angestrengt den Anschein, dass sie handelt. Schnellschüsse zur besten Sendezeit. Vorgefertigte Sprechblasen. Denn sie handelt ja nicht wirklich. Nur unsere liebe Angela Merkel bleibt merkwürdig gelassen. Hat sie sich ganz von dieser Welt verabschiedet, seitdem sie letztes Jahr von TIMES zur Person des Jahres erklärt worden ist? Leider gefolgt vom selbsternannten Kalifen der Terrororganisation Islamischer Staat Abu Bakr al-Bagdadi und Donald Trump – nicht gerade eine angenehme Gesellschaft. Der SPIEGEL hat sie gerade zur Polit-Ingenieurin geadelt. Jetzt bildet sie einen ruhenden Pol in der hektischen Brandung. Ihr ewiges Mantra „Wir schaffen das schon – irgendwie ...“ erinnert mich an den unerschütterlichen Norbert Blüm mit seinem penetranten „Die Rente ist sicher“. Ist sie mittlerweile regierungsunfähig geworden? Will sie die Krisen in Kohl’scher Manier alle aussitzen?
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Nein Jupp, das glaube ich nicht. Die Angela ist eben keine typische Politikerin. Als gestandene Physikerin kennt sie sich mit Komplexität aus und hat gelernt: „Für jedes komplexe Problem gibt es eine Antwort: sie ist klar, sie ist einfach, … und sie ist falsch“. Mit ihrem Neun-Punkte-Programm kratzt sie leider erneut an der Oberfläche des Problems. Wie unser Innenminister will sie noch mehr Überwachung, noch längere Vorratsdatenspeicherung, noch mehr Polizeikompetenzen, noch schnellere Abschiebung, jetzt sogar Bundeswehreinsätze. Leider sei es unvermeidbar, den Datenschutz weiter einzuschränken – zu unserem Wohle. Es gelte, Freiheit zugunsten von mehr Sicherheit zu opfern. Dabei hat schon vor 250 Jahren Benjamin Franklin erkannt: „Wer die Freiheit aufgibt, um Sicherheit zu gewinnen, der wird am Ende beides verlieren“. Wir sehen doch in anderen Ländern, in denen diese Maßnahmen schon seit langem eingeführt sind, dass sie keine endgültige Lösung bieten. Die Amokläufer in den USA, die Attentate in Frankreich. Und in Deutschland: Würzburg, München, Reutlingen, Ansbach. Hätte man sie damit verhindern können? Dabei nehmen wir die entlegeneren Gräueltaten kaum noch zu Kenntnis: 56 Tote in Kamischli, 80 in Kabul, 19 ermordete Behinderte in Japan. Gerade hat die italienische Küstenwache 675 Leichen aus einem gekenterten Flüchtlingsboot geborgen.
Entsetzlich. Aber regt uns das noch wirklich auf? Führt es zu nachhaltigen Konsequenzen? Das liegt an der verführerischen Rolle unserer quotensüchtigen Massenmedien. Die Erfüllung des Andy Warhol-Wunschdenkens – einmal für 15 Minuten die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit genießen. Der im digitalen Marketing professionell organisierte IS bietet allen gedemütigten und destabilisierten Verlierern dieser Erde eine verlockende Entschuldigung für beliebige Mordtaten. Man muss nur vorher ein Video aufnehmen, ins Internet stellen und bei der Tat „Allah ist groß“ schreien, um sich der riesigen medialen Resonanz, der Aufnahme in der „Hall of Fame der IS-Märtyrer“ und den Lobeshymnen gewisser Kreise sicher zu sein. Das Internet öffnet das Tor zu allen anderen Verrückten. Unzensiert – weltumfassend – sofort und für jedermann verfügbar. Der Münchener Täter hatte seine Waffe über das Darknet gekauft. Aber Ingo, was soll man noch dagegen unternehmen?
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Einfacher Lösungsvorschlag von Politikern: einfach das Darknet oder gleich das ganze Internet verbieten! Dazu die Killerspiele, die verführen ja regelrecht zu Amokläufen! Natürlich haben die löchrigen EU-Grenzen mordwilligen IS-Schergen das Tor nach Mitteleuropa geöffnet. Verbesserte Kontrollen sind daher auf jeden Fall angebracht. Aber lösen sie das Grundproblem? Die Kaizen-Weisheit: „Frage fünfmal Warum!“ als fester Bestandteil eines jeden Qualitätsmanagements sollte uns auch hier in der Ursachenanalyse weiterbringen. Wir müssen uns doch endlich um die wirklichen Quellen der Gewalt kümmern. Der War On Terror von George W. Bush hat den weltweiten Terrorismus erst richtig angestachelt und neue, riesige Rekrutierungszonen erschaffen. Martin Luther King hat mal gesagt: „Gewalt bringt niemals andauernden Frieden. Sie löst keinen sozialen Konflikt: Sie schafft nur neue und kompliziertere.“
Aber mein lieber Ingo. Der Schmusekurs mit den ach so armen Tätern bringt uns doch nicht weiter, wenn diese die Sprache der staatlichen Gewalt nicht mehr ernstnehmen. Dummerweise
halten sich Terroristen in der Regel ja gerade eben nicht an Gesetze und auch potentielle Amokläufer lassen sich durch derlei Symbolpolitik kaum beeindrucken. Leider hapert es immer an der effektiven Umsetzung des Rechts und unsere Staatsorgane werden als reine Papiertiger vorgeführt. Die Geheimdienste, die Polizei, die Justizbehörden, die Sicherheitspolitiker - sie blamieren sich doch am laufenden Band. Wie willst du denn gegen die islamistischen Fanatiker noch vorgehen? Vor allem, wenn sie als unerkannte Schläfer nur auf ihren Einsatzbefehl warten.
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Gibt es wirklich die IS-Schläfer und deren Einsatzbefehle? Merkst du was, Jupp? Immer soll die Religion schuld sein. Ich halte das für eine Nebelkerze der Politik, damit sie bei der Ursachenforschung die unbequemen Wahrheiten nicht bei sich selbst suchen müssen. Nimm mal den LKW-Amokfahrer von Nizza. Der Vater von drei Kindern soll sich innerhalb von zwei Wochen in einen Dschihadisten verwandelt haben. Vorher hat er Schweinefleisch gegessen und Drogen konsumiert. Als verurteilter Kleinkrimineller wollte sich seine Frau gerade von ihm scheiden lassen. Er gilt jetzt als Loser. Die Kränkung führt zu Rachegelüsten, sein Leben ist nicht mehr zu ertragen. Da bietet ihm der radikale Islamismus die Möglichkeit, im koran-sanktionierten Genuss der Machtausübung „guten Gewissens“ zu morden. Früher wäre er vielleicht christlicher Kreuzfahrer oder Hexenverbrenner geworden. „Nicht die Radikalisierung des Islam sei in diesen Tagen das größte Problem, sondern dass sich Radikalität immer öfter islamistisch kostümiere“, meint der französische Politologe Olivier Roy. Der Islam liefert uns simple Erklärungen und verwandelt Unbekannt-Bedrohliches in leidlich Bekanntes, gegen das wir vorgehen können oder es zumindest glauben.
Du meinst, der Täter erliegt der Lockung und Faszination der Gewalt, weil er endlich mal Macht über andere Menschen hat? Er erlebt erstmalig, dass andere Angst vor ihm haben, weil er jetzt Herr über Leben und Tod ist? Klar, durch seine Waffen verliert er seine eigenen Ängste. Und was hat er noch zu verlieren? Die Rückkehr in sein armseliges Leben oder ins Gefängnis ist nicht mehr lukrativ, dafür warten alternativ auf ewig die 72 Jungfrauen im Paradies. Vielleicht sollte man eine globale Aufklärungskampagne starten und erklären, dass es sich bei den Jungfrauen im Koran um einen Übersetzungsfehler handelt und leckere Weintrauben damit gemeint sind.
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Jupp, jetzt kommen wir dem eigentlichen Problem schon näher. Ich glaube, dass es nicht im radikalen Islam allein begründet ist. Er liefert nur eine vielfach akzeptierte Entschuldigung. Selbst wenn wir alle Dschihadisten unschädlich gemacht hätten, werden immer noch wütende junge Männer übrigbleiben. Denn schau mal, alle Attentäter der letzten 18 Monate sind männlich, keiner ist älter als 30 Jahre. Jeder hat früher Gewalt in seinem Umfeld erfahren, sei es durch die zivilen „Kollateralschäden“ in Afghanistan und Syrien oder die mörderischen Drohnenangriffe des Friedensnobelpreisträgers Barack Obama in Pakistan, Afghanistan, dem Jemen oder Somalia, wo Tausende von Menschen durch diese Art von westlichem Terrorismus getötet wurden. Wieviel Leid in Millionen Familien haben allein die völkerrechtswidrigen Golfkriege angerichtet? Der Axt-Mörder von Würzburg hatte vor Kurzem einen Freund in Afghanistan gewaltsam durch die „Ungläubigen“ verloren. Peter Ustinov schrieb einst „Terrorismus ist der Krieg der Armen und der Krieg ist der Terrorismus der Reichen“.
Ingo, du kennst doch die uralte Medizinerregel: Wer eine Krankheit bekämpfen will, muss deren Ursache und nicht die Symptome bekämpfen. Eine Binsenweisheit. Aber dann muss ich von den Flüchtlingsorganisationen, Psychiatrie-Gesellschaften und Psychotherapeutenkammern hören, dass 70.000 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, meistens durch ihre Erlebnisse vor oder während der Flucht schwer traumatisiert, 7 bis 20 Monate auf den Bescheid ihres Asylverfahrens warten müssen. Aufgrund fehlender Kapazitäten in der Sozialbetreuung bilden sie in dieser Zeit ein leichtes Opfer für kriminelle oder radikalislamische Organisationen. Ich stelle also fest, dass sich diese Erkenntnis der Medizin immer noch nicht durchgesetzt hat. Die Krisendienste für Menschen in psychischer Not müssen schnellstmöglich flächendeckend ausgebaut werden. Eine intensive und schnell erreichbare psychische Betreuung von Schülern und jungen Flüchtlingen zur Krisenprävention ist dringend erforderlich. Hier wären die Milliarden der Sicherheitspolitiker sicherlich intelligenter und effizienter investiert.
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Ja Jupp, wir werfen einerseits unser Steuergeld mit vollen Kübeln nutzlos zum Fenster raus, während es dort nie ankommt, wo es dringend benötigt wird, um Probleme gar nicht entstehen zu lassen. Lass uns unser Geld, solange es unsere Bank noch nicht mit Negativzinsen belegt, bei unserem Migranten in flüssiges Brot investieren.
Eine gute Idee. Also, Herr Wirt. Bitte noch zwei Bier. Es lebe die Freundschaft der Völker.
Der Bundesinnenminister verweist aus aktuellem Anlass auf Star Wars Jedi-Meister Yoda:
„Furcht führt zu Wut – Wut führt zu Hass – Hass führt zu unsäglichem Leid.“ (https://twitter.com/BMI_Bund/status/758578293864103938)
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