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Quo vadis, Gesundheitswesen?

von Ingo Nöhr

Wir danken dem Verlag MEDI-LEARN.net GbR für die freundliche Erlaubnis, Cartoons von Rippenspreizer verwenden zu dürfen. Mehr Cartoons sind unter http://www.medi-learn.de/cartoons/ zu finden.
Vielen Dank MEDI-LEARN.de!

„Hallo, Jupp, hast du schon gehört? Mein Discounter bietet jetzt ambulante Schönheits-Operationen an. In der kleinen Kammer, wo bisher wohl der Ladendetektiv hinter dem halbdurchsichtigen Spiegel die Ladendiebe aufgespürt hat, sitzt jetzt ein Chirurg. Für einen Discountpreis kannst du dir jetzt Falten mit Botox wegspritzen und nebenbei die Warzen und Muttermale entfernen lassen. Die Damen an der Kasse erkennen ihre betagten Stammkunden beim Herausgehen nicht mehr wieder.“

Jupp konnte sich letzten Monat selbst ein Bild von unserer Gesundheitsversorgung machen, nachdem er sich beim Pommes-Essen die Gabel aus Versehen ins Nasenloch gestoßen hatte. Er brummte zustimmend und warf einen wachsamen Blick in die Runde, ob etwa wieder irgend­welche Hunde in seinem Umfeld zu finden waren.

„Ja, Ingo, so ist es halt. Das Gesundheitswesen gehört eben zum größten Businessmarkt in Deutschland, da wollen die Geschäftsleute nicht außen vor bleiben. In meinem Supermarkt gehen gerade die Angestellten auf die Straße, weil man ihnen den Aufenthaltsraum wegge­nommen hat. Dort will ein Arzt in Kürze kostengünstig Brustimplantate einsetzen. Für junge Mädchen ab 18 Jahren gibt es als Einstieg Sonderkonditionen. Papa kann sich dafür einen Gutschein ausstellen lassen. Und Krampfadern will der Doc gleich mit veröden. Neben den Registrierkassen bieten zwei hübsche Asiatinnen im Minirock Thai-Massagen an. Die massieren dich mit den Füßen. Ein Augenschmaus, sage ich dir. Dafür stehst du gerne länger an der Kasse an.“

„Wahrscheinlich ist das die Rache für die Krankenhäuser, die mit dem Warenangebot in ihren Kiosken und Cafeterien mittlerweile dem Einzelhandel Konkurrenz machen. Du kannst ja schon neben jedem Großmarkt billigen Sprit tanken, weil die Tankstellen mittlerweile selbst zu Supermärkten mit 24 Stunden Öffnungszeiten geworden sind.“

„Also Ingo, stell dir doch nur mal vor, was sich bei dieser Entwicklung für neue Märkte öffnen. Ich habe meinen Nachfolger in der Medizintechnik angerufen und ihm ein paar Tipps gegeben, wie er seinen Umsatz aufbessern kann. Die Wartezimmer in den einzelnen Kliniken sind doch voll und die Patienten mittlerweile an IGEL-Leistungen gewöhnt. Da ist doch jetzt die Zeit reif, dort mal während der Wartezeit die alternativen Technologien anzubieten: Tachyonen-Quantenstrahler, Bioresonanztherapie, Elektroakupunktur, Kirlianfotografie.“

„Jupp, das funktioniert doch nicht. Weißt du denn, was diese Geräte kosten? Das sind Phantasiepreise, wegen der fünfdimensionalen Auslegung. Und dann darfst du ja nicht die Kosten für die kosmischen Energien vergessen. Die Investitionen für die Abschirmung gegen die Erdstrahlen und Wasseradern lasse ich mal unter den Tisch fallen.“

„Ach, Quatsch, Ingo. Die Geräte kannst du ganz einfach aus dem ständig hereinkommenden Elektroschrott selbst bauen. Sie müssen ja gar nicht funktionieren, sondern nur geheimnis­voll summen und blinken. Dazu die richtige Show mit einem passenden Guru. Und nach der Diagnose verabreichst du dann die Homöopathiekügelchen als Therapiemaßnahme.“

„Oh, oh. Da kommst du aber den Medizinern ganz schön in die Quere. Das werden die sich nicht gefallen lassen. Außerdem klingt das für mich sehr unethisch, wenn du Patienten wissentlich mit unwirk­samen Methoden behandeln willst.“

„Kein Problem, Ingo, das machen doch unsere Mediziner sowieso tagtäglich. Es gibt doch bei meinem Vorschlag nur Gewinner, denn die Ärzte und Kliniken bekommen mehr Zulauf von zufriedenen Kunden: Erstens weil die Patienten gleich eine doppelte Leistung erhalten, zweitens kommen dann auch die Leute, die der Schulmedizin feindlich gegenüber stehen. Drittens haben die Menschen viel mehr Vertrauen, wenn nun auch noch höhere Mächte in die Heilung eingebunden werden. Viertens: unterschätze nicht den Placebo-Effekt. Oft erscheint der Patient schon „vorgeheilt“ beim Arzt, weil seine Beschwerden sowieso nur psychosomatisch bedingt waren.“

„Du hast eigentlich recht. Es unterbleibt ja keine schulmedizinische Diagnostik und Therapie, wie es sonst bei den Heilpraktikern zu befürchten ist. Somit entsteht dem Patienten kein Schaden, ausgenommen in seinem Geldbeutel. Mein Zahnarzt ist da schon ein bisschen professioneller, Jupp. Er hat sich gesagt, dass er zur Behandlung nur den Zugang ins Gesicht benötigt. Daher hat er zwei Maniküren und eine Pediküre eingestellt, die gleichzeitig auch eine Fußzonenreflexmassage durchführen kann. Drei ausgesprochen hübsche Damen aus Moldavien für einen Appel und ein Ei. So wird der Patient gleich mehrfach abgelenkt und denkt nicht ständig an seine Schmerzen. Und in seinem Wartezimmer sitzt bereits eine Ernährungsberaterin und klärt dich über die Ayurveda-Lebensweise auf.“

„Na, ja, die Ernährungsberatung finde ich ja aus der Sicht des Zahnarztes kontraproduktiv. Und die Erweiterung des Services auf Haareschneiden und Rasieren wird aus Platzgründen auf Schwierigkeiten stoßen. Aber dennoch interessant: die nichttechnischen Dienstleistun­gen in der Medizin erhalten Aufwind.“

„Es geht noch weiter mit meinen Vorteilen, Ingo. Wie du richtig anmerkst, fünftens: Die Schulmedizin verliert ihren anrüchigen Ruf der reinen Apparatemedizin und ist endlich auf dem Weg zur ganzheitlichen Medizin. Und sechstens werden die Kostenträger entlastet, weil die Globuli und der ganze übrige Hokuspokus ausschließlich vom Patienten bezahlt werden. Und siebtens wird meine alte Medizintechnikabteilung aufgewertet, weil sie nicht immer nur Geld kostet, sondern jetzt endlich mal selbst für Einnahmen sorgt.“

Aber, Jupp, wenn du die Geräte selber baust, dann musst du doch ein Konformitätsbewer­tungs­­­verfahren nach der neuen EU-Verordnung durchführen und daran wirst du dann verzweifeln. Wie willst du in einer klinischen Bewertung die Wirksamkeit nachweisen? Und die Benannten Stellen sind jetzt äußerst vorsichtig bei der Vergabe von CE-Zeichen geworden.“

„Irrtum, Ingo. Ich bewege mich doch garnicht im medizinischen Bereich und baue auch keine Medizin­produkte. Meine Apparate haben gar keine Funktion, sie sind nur Fakes. Meine Diagnose und Therapie ist keine medizinische Handlung, sondern nur Hokus-Pokus, also Theater. Ich werde sie wahrscheinlich als eine neue Kunstform eintragen lassen, da herrscht gesetzlich noch viel Narrenfreiheit.“

„Ja, Jupp, ich sehe schon. Die Dienstleister müssen sich bei der schleichenden Vergreisung ihrer Kundschaft was Neues einfallen lassen: Diversifizierung nennt man das. Vorletzte Woche fuhr ich in einem Schnellzug. Du kennst doch die fahrbaren Kioskwagen, wo du im Abteil Kaffee und heiße Würstchen zu Wucherpreisen kaufen kannst. Das Geschäft scheint nicht mehr so gut zu laufen. Jetzt kommt eine mobile Apotheke zu deinem Sitz: rezeptfreie Schmerz-und Schlafmittel, etwas zur Beruhigung oder Anregung, gegen Fußpilz, Prostatabeschwerden, Völlegefühl, Reisekrankheit, alles sofort erhältlich, inklusive einem Becher Wasser zum Einnehmen. Und die Preise sind nicht schlecht.“ – „Wie, da hat jemand seine Kunden entdeckt? Was ist denn da passiert?“

„Na, das Schärfste kommt erst noch, warte mal ab, Jupp. Als ich mir das Pillenangebot genauer anschaue, sehe ich plötzlich ein Sortiment an Kondomen in allen möglichen Stärken und Geschmacksrichtungen. Und wie ich da so hinstarre, beugt sich mein mobiler Apotheker plötzlich nach vorne und raunt mir ins Ohr: „Wir haben gerade eine frische Lieferung Viagra hereinbekommen. Top-Qualität. Garantiert wirksam. Ich mache Ihnen einen guten Preis für die Zehnerpackung!“ Kannst du dir das vorstellen, Jupp?“

„Was, dort gibt es Viagra? Und ohne Rezept? Das will ich mir ansehen. Ich muss sowieso gerade los. Also mach’s gut und bis zum nächsten Mal, Ingo.

Etwas überstürzt bricht Jupp auf, leider ohne meinen letzten Hinweis abzuwarten. Dabei ist weit und breit kein vierbeiniges Lebewesen zu sehen. Vielleicht sollte er erstmal in den Kalender schauen, welchen Tag wir heute haben.

 

„Kommt im April die Sommerzeit, bleibt's länger hell für Schwarzarbeit.“
(Anonymes Graffito)

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