Man gewöhnt sich an alles!
von Ingo Nöhr
Man gewöhnt sich an alles!
Die digitale Reizüberflutung zeigt auch bei unseren Kollegen Ingo Nöhr und Jupp ihre Wirkung. Was vor wenigen Jahren noch zu einer langanhaltenden Aufregung und Diskussionen geführt hätte, wird heutzutage schon am nächsten Tag von neuen Sensationen abgelöst. Eine gewisse Abgeklärtheit und wachsende Abstumpfung gegenüber den Herausforderungen ist die allgemeine Abwehrreaktion. Kapriolen der Natur wie Überschwemmungen, Orkane und Tornados in Deutschland nimmt man schon achselzuckend als Konsequenz des Klimawandels hin. Betrügereien und Abzockereien im großen Stil regen uns nicht mehr wie früher auf. Eine Weltsensation ist keine, wenn sie keiner zur Kenntnis nimmt. Kleine Meldungen können allerdings eine unabsehbare Wirkung erzielen, die auch den normalen Bürger genauer hinschauen lassen.
Hallo, Jupp, was macht denn dein neuer VW-Diesel? Genießt du noch die letzten Tage mit ihm? Bald darfst du ja mit deiner Dreckschleuder nicht mehr fahren, zumindest ab 2018 in Stuttgart. Auch der ADAC rät schon vom Kauf von neuen Dieselautos ab. Jetzt kannst du deine Karre nur noch verschenken, der Gebrauchtwagenmarkt bricht bestimmt demnächst zusammen.
- Also, mein lieber Ingo, jetzt höre mal zu. Spar dir deine Schadenfreude. Ich stelle meine Karre dann einfach auf Erdgas um, da wirst du über meine Abgaswerte aber staunen. Und danach wechsle ich den Antrieb auf Wasserstoff-Brennstoffzellen, da kommt dann nur noch Wasserdampf aus meinem Auspuff. VW und Audi haben die Technologie schon seit Jahren erprobt und vor drei Jahren einen Wasserstoff-Golf mit 100 kW vorgestellt. Während die Kohlekraftwerke, die deinen ach-so-sauberen Elektrokarren mit Strom versorgen, weiterhin die Umwelt verpesten. Gar nicht zu sprechen von der Produktion dieser Kisten, bei der 60% mehr CO2 freigesetzt wird als bei den Dieselautos. Also wenn schon Ökobilanz, dann aber richtig, mein lieber Ingo.
Jupp, du kannst aber leider nicht abstreiten: Toyota und Hyundai waren mit dem Brennstoffzellenantrieb schneller auf dem Markt. Wirklich ökologisch wärst du erst, wenn du dein Auto abschaffen und dich mit dem Fahrrad bewegen würdest. Jetzt fährst du täglich für einen kriminellen Laden Reklame. Dem USA-Chef von VW drohen 169 Jahre Haft wegen Umweltbetrug, fünf weitere VW-Manager sind weltweit zur Fahndung ausgeschrieben. Die dürfen sich nicht mehr außerhalb Deutschlands blicken lassen. Wer hätte das bei unserem deutschen Vorzeigeunternehmen gedacht?
- Ingo, warum hackst du eigentlich andauernd auf meinem VW herum? Bei vielen anderen Automarken wurde doch auch gemogelt: Daimler, Fiat-Chrysler, Seat, Audi, Porsche. Und nicht nur bei den Abgaswerten. Seit vielen Jahren wird der Autokäufer mit falschen Verbrauchsdaten gelockt, quer durch die weltweite Automobilbranche. Daran hatten wir uns schon längst gewöhnt. Dummerweise ist die Abschaltsoftware bei Volkswagen zuerst aufgedeckt worden und hat dann alle Schlagzeilen beherrscht.
Jupp, hast du schon gelesen: eine Anwaltskanzlei will jetzt in einem Pilotprozess nachweisen, dass die manipulierten VW-Autos ohne gültige Zulassung verkauft worden sind. Im Erfolgsfall dürftest du mit deinem Wagen gar nicht mehr fahren. Die VW-Anwälte behaupten dagegen frech, dass der Schuldige beim Kraftfahrtbundesamt zu suchen ist. Schließlich habe das KBA nach eingehender Prüfung des Fahrzeugtyps die Genehmigung für ein Auto mit Abschalteinrichtung ausgestellt. VW hat dann dieses Muster dann unverändert in Serie produziert. VW sei daher eigentlich unschuldig an diesem Desaster.
- Dafür haben die „unschuldigen“ Wolfsburger aber schon heftig geblecht: 25 Milliarden Euro haben sie bereits an die USA und Kanada bezahlt. Bosch kam billiger davon: die haben sich mit 300 Millionen Euro verglichen. Unser schönes Geld versickert jetzt ausgerechnet in den USA, wo Donald Trump uns den Wirtschaftskrieg angedroht hat.
Keine Bange, Jupp, das holen wir uns doch gerade wieder zurück. Google soll wegen Missbrauch der Marktmacht 2,4 Milliarden Euro Strafe zahlen. Und wenn die Facebook-Leute es nicht hinkriegen, die Hass-Mails schnell aus der Welt zu schaffen, werden sie auch mit Bußgeldern bis zu 50 Mio. Euro zur Kasse gebeten. Du siehst, im internationalen Business wird unglaublich viel Geld hin- und hergeschaufelt. Vor allem die Kryptowährungen erleben einen steilen Aufschwung. Der chinesische Online-Marktplatz Alibaba will demnächst die digitale Währung Bitcoin akzeptieren. Da dauert es nicht lange, bis Amazon und Google auch auf diesen Zug aufsteigen werden. Die Erpressersoftware WannaCry und seine Nachfolger haben da richtig Schwung in diese Bankenkiller gebracht.
- Ingo, da muss ich dir ausnahmsweise widersprechen. Du bist diesmal nicht auf dem Laufenden. Die letzte Ransomware-Attacke hat es gar nicht auf Gelderpressung abgesehen. Der neue Trojaner Petya hat nur die Tür für den viel raffinierteren NotPetya-Schädling geöffnet, der alle befallenen Datenbestände unwiederbringlich zerstört. Es sollen wohl möglichst viele Firmen lahmgelegt werden. Da steckt doch eher die politische Absicht eines Schurkenstaates dahinter, - Cyberwar - die neue Form des Terrorismus.
Ja, Jupp, ich fürchte, wir haben uns an die ständige Bedrohung durch den Cyberterrorismus längst gewöhnt, wenn man unseren sorglosen Umgang mit den Daten betrachtet. Jetzt haben unsere Politiker sogar noch zusätzliche Risiken geschaffen. Sie haben zwar mit der Abschaffung der Störerhaftung im neuen WLAN-Gesetz endlich die Türen zum freien Internet geöffnet. Aber blind angetrieben durch immer neue Terrorangriffe, haben sie weiterhin den Datenschutz im Grundgesetz ausgehebelt: Vorratsdatenspeicherung, BND-Gesetz, jetzt eine neue Attacke auf den Datenschutz und die Datensicherheit.
- Dumm nur, Ingo, dass die großen Provider bei der Vorratsdatenspeicherung vorerst nicht mitmachen werden. Ein Oberverwaltungsgericht hat das europarechts- und verfassungswidrige Gesetz bis zur Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts ausgesetzt, die Bundesnetzagentur hat sich dem zähneknirschend angeschlossen. Die Speicherung der Daten ist also vorerst gestoppt. Gibt es denn jetzt schon wieder was Neues?
Aber ja, Jupp. Die Regierungskoalition hat gerade ein neues Staatstrojanergesetz am Bundesrat vorbei, ohne Beteiligung der Datenschutzbeauftragten und ohne Verbändebeteiligung verabschiedet. Um die öffentliche Debatte klein zu halten wurde ein Verfahrenstrick angewendet und der Staatstrojaner in einem ganz anderen Gesetz über Fahrverbote als Nebenstrafe versteckt. In einer langen Liste in § 100a der Strafprozeßordnung finden sich viele Straftaten der Alltagskriminalität wieder, obwohl das Bundesverfassungsgericht den Trojanereinsatz nur erlaubt hat, wenn „tatsächliche Anhaltspunkte einer konkreten Gefahr für ein überragend wichtiges Rechtsgut bestehen“. Die Staatsrecht-Juristen halten dieses und das Facebook-Gesetz klar für verfassungswidrig, da es gegen das Grundgesetz und Europarecht verstößt.
- Mag ja sein Ingo. Aber du musst doch auch mal sehen, dass in den Zeiten der Cyberkriminalität die Grundrechte und der Datenschutz an die aktuellen Bedrohungen angepasst werden müssen. Wie sollen wir sonst die modernen Ganoven bekämpfen? Mit Wählscheibentelefon und mechanischer Schreibmaschine etwa wie früher?
Da gebe ich dir sogar Recht, Jupp. Das Problem liegt bei unseren Sicherheitsbehörden, die anscheinend nur bei Schönwetter funktionieren und in Krisenzeiten total versagen, siehe Flüchtlinge, NSU und Terroristen. Jetzt kann die Polizei zwar das ganze Smartphone hacken statt mühsam Telefonate abzuhören. Aber dafür müssen staatliche Stellen Schwachpunkte der Software ausnutzen und die Sicherheitslücken kennen, welche die Hersteller der Produkte noch nicht geschlossen haben. Ergebnis: nur damit ein paar Kriminelle ausgeforscht werden können, lässt der Staat sämtliche IT-Geräte in einem unsicheren Zustand und stellt alle Bürger unter Generalverdacht. Es wird nicht lange dauern, bis die Hacker wie bei dem NSA-Skandal in die behördlichen Datenbanken mit den Hintertürchen einbrechen und sich weltweit bedienen können. Oder die entsprechenden Informationen und Zugänge werden von bestechlichen Nutzern wie schon bei den Patientendaten gegen hohe Summen im Darknet verkauft.
- Wenn man so sieht, mit welcher Schnelligkeit und wahrscheinlich auch Schlampigkeit wichtige Gesetze vor der nächsten Bundestagswahl verabschiedet werden, werde ich schon nachdenklich. Gerade hat Gesundheitsminister Gröhe das Pflegeberufe- Reformgesetz zur vereinheitlichten Ausbildung in der Pflege durch den Bundestag gebracht. Obwohl fast alle Betroffenen mit der scheibchenweisen Ausführung dieses Gesetzes unzufrieden sind, tröstet man allgemein sich mit dem Argument, dass ein schlechtes Gesetz besser als gar keine Regelung ist und die nächste Regierung die Situation nur verbessern kann.
Ja leider, Ingo. Wir haben uns ja schon lange an die desolate politische Landschaft gewöhnt und schlucken immer mehr Kröten. Vertuschungen, Kungeleien, Lobbyismus, Behördenversagen, Interessenkonflikte, Finanzskandale, Geldverschwendung – all das regt uns doch gar nicht mehr auf. Wir haben resigniert und strafen die herrschenden Parteien alle paar Jahre mal mit dem Stimmzettel ab, ohne dass sich dadurch viel ändert. Wir werden uns auch an egomanische Präsidenten wie Donald Trump und Erdogan gewöhnen. Beide wollen gerade die Schulbücher umschreiben und die Darwinsche Evolutionstheorie zugunsten der Kreationisten abwerten. Mindestens gleichberechtigt soll den Kindern wieder die Schöpfungsgeschichte der Bibel bzw. des Korans als alternative Lehre eingetrichtert werden.
- Jupp, dahinter steckt aber auch ein neuer Trend, ausgelöst durch - ich will ihn mal so nennen - disruptive Politik. Wie disruptive Innovatoren können solche Politiker mit unvorhersehbaren Entscheidungen den Lauf der Welt ändern. Unsere Angela Merkel ist so ein herausragendes Beispiel: der Ausstieg aus der Atomenergie, die Abschaffung der Wehrpflicht in der Bundeswehr, der Willkommensgruß an die Flüchtlinge, die Einführung des Mindestlohns, - und vor kurzem: die Ehe für alle. Diese abrupten Entscheidungen haben alle Beteiligten auf dem falschen Fuß überrascht und weitreichende Wirkungen ausgelöst.
Ja Ingo. So gesehen ist unser US-Präsident auch so ein disruptiver Politiker. Was der schon in der kurzen Amtszeit mit seinen Twitter-Entscheidungen an Unheil angerichtet hat, ist schon einmalig destruktiv. Aber auch daran gewöhnen wir uns langsam und nehmen seine täglichen Fake-News und alternativen Fakten nur noch amüsiert zur Kenntnis. Die Weltnachrichten gleiten immer mehr in den Unterhaltungsmodus ab und passen sich dem seichten Fernsehprogramm zunehmend an. Mittlerweile schreiben schon Computeralgorithmen selbständig Presseartikel, ohne dass ein menschlicher Journalist seinen Hirnschmalz hinzufügt. Vor allem die Sportnachrichten werden meist von Blechreportern verfasst.
- Andererseits entsteht im Internet zum Mainstream eine Gegenbewegung mit alternativen Nachrichten. Die postmediale Wirklichkeit kündigt sich an, mit allen ihren extremen Auswüchsen. Das Web öffnet sich auch für Spinner mit Verschwörungstheorien aller Art und verspricht somit eine ganz neue Dimension der Unterhaltung. Dort findet man auch disruptive Nachrichten. Ein Hochhausbrand in London rüttelt schlagartig alle Behörden wach, obwohl Brandschutzexperten schon seit vielen Jahren vor den Gefahren der brennbaren Fassadendämmung warnen.
Ingo, das erinnert mich an Florida-Rolf. 2003 hatte die Bildzeitung den Rentner in Miami ausfindig gemacht und entrüstet gemeldet, dass er seine dortige Wohnung in unmittelbarer Strandnähe von deutscher Sozialhilfe finanziert. Die dadurch ausgelöste Neidkampagne schaffte es bis in die Bundesregierung. Sozialministerin Ulla Schmidt brachte innerhalb weniger Tage eine Gesetzesänderung durch den Bundestag, um einen Anspruch auf Zahlung von Sozialhilfe ins Ausland nur noch unter sehr engen Voraussetzungen zuzulassen. Es stellte sich aber nachträglich heraus, dass Florida-Rolf immer noch die weitaus kostengünstigere Lösung in Miami gefunden hatte. Sein dadurch erzwungener Aufenthalt in Deutschland kam den Sozialkassen wesentlich teurer.
- Politiker unterschätzen immer noch die Macht der Medien. Obwohl Donald Trump die großen Pressehäuser mit einem Bannfluch belegt hat, berichten die täglich aus seinem direkten Umfeld und steigern dabei stetig ihre Auflage. Geheime Dokumente aus dem politischen Geschehen werden bevorzugt veröffentlicht. So war die Druckerschwärze des oppositionellen NSU-Berichtes des Geheimdienst-Untersuchungsausschusses noch nicht ganz trocken, da konnte trotz geplanter Geheimeinstufung schon jeder die unzensierte Fassung herunterladen. Man sollte Geheimberichte einfach unter Amtliche Mitteilungen verstecken, dann liest es keiner.
Aber dabei suchen die Politiker geradezu panisch die Öffentlichkeit. Aus welchem Grunde sonst legt man für zwei Tage die komplette Innenstadt Hamburgs für die G20-Konferenz still? Ein absurder Personal- Sicherheits- und Kostenaufwand für den Auftritt der internationalen Selbstdarsteller mit ihrem Hofstaat von 20.000 Delegierten. Mindestens 130 Millionen Euro kostet diese Show, die letzte G20-Treffen in Toronto verschlang 400 Mio. Euro. Für einen winzigen Bruchteil der Summe hätte man das Meeting auf einem amerikanischen Flugzeugträger im Mittelmeer veranstalten und damit die 15.000 deutschen Schutzbeamten für wichtigere Aufgaben einsetzen können.
- Regt uns das noch auf, Ingo? Doch nur die Hamburger, die tagelang im Stau stecken und sich in ihrer Stadt nicht mehr frei bewegen können. Man sollte diesen G20-Opfern ausreichend Freibier einschenken. Denn Bier entspannt und ist eine wahrhaft göttliche Medizin, das hat schon der alte Paracelsus vor 500 Jahren erkannt, oder?
Richtig, Jupp. Bier löst zwar keine Probleme, aber es lässt die Welt gleich freundlicher aussehen.
Also, Herr Wirt, bitte zwei Bier zur Gewöhnung an die verrückten Zeiten. Prost.
Heutzutage regiert der Rekord, die Sensation, die Freude am Sinnlosen. Die Zeit war noch nie so günstig für Verbrecher.
(Wilhelm Hasenclever, Politiker und Schriftsteller, 1837 – 1889)
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