Konsultiere doch mal deinen Dr. Smartphone!
von Ingo Nöhr
„Die Telefonie erlaubt es, andre zu erreichen, ohne auf sie zuzugehen“
(Dr. Ernst Reinhardt, Schweizer Aphoristiker, *1932)
Es gibt auch Lichtblicke in den zunehmend desolateren Lebenserfahrungen von Ingos Kumpel Jupp. Nachdem Donald Trump den Handelskrieg mit Europa und China auslösen will, um von seinen Problemen mit den Frauen, Parteifreunden und Russen abzulenken, Gesundheitsminister Jens Spahn trotz 210.000 Aufforderungen nicht mal einen Monat lang Hartz 4 ausprobieren möchte, die grausamen Kriege in Syrien und Jemen mit unvorstellbaren Leiden zum Wohle der deutschen Waffenindustrie weitergeführt werden; … - da kommt Jupp ganz stolz mit seiner neuesten Errungenschaft zum monatlichen Stammtischgespräch in die traditionelle Eckkneipe: einem neuen Smartphone.
Mensch Jupp, das neueste Modell - du hast dich modernisiert. Weißt du, was Kurt Tucholsky schon vor etwa achtzig Jahren gesagt hat? „Was wäre der Mensch ohne Telefon? Ein armes Luder. Was aber ist er mit dem Telefon? Ein armes Luder.“ Jetzt bist du also auf dem besten Wege, auch ein Cyborg zu werden.
- Ein Cyborg? Was soll das denn heißen? So ein Robotermensch wie der Terminator in diesem Zukunftsfilm da? Wo die Maschinen die Menschen beherrschen? So ein Unsinn.
Klar, Jupp: Wenn du mal Menschen sehen willst, die längst von Maschinen beherrscht werden, musst du dir nur unsere Jugend anschauen, die jede freie Sekunde mit ihren Handys rummachen. Deren Finger haben sich doch schon komplett an die winzige Tastatur angepasst – der SMS-Daumen führt zur Daumensattelgelenkarthrose. Hast du gewusst, dass man bei den Kids durch die erhöhte Dopamin-Ausschüttung schon deutliche Hirnveränderungen vorgefunden hat?
- Ja gut, Ingo, du hast ja recht: man wird davon süchtig. Das sehe ich bei meiner Nichte. Sie verbringt jeden Tag viele Stunden in der digitalen Welt. Familie, Schule, Freunde – alles ist zweitrangig geworden. Wenn du ihr das Handy wegnimmst, bricht sie zusammen. Ohne dieses Ding ist sie lebensuntüchtig und kann nichts mehr mit sich anfangen. Ein Buch für den Deutschunterricht zu lesen, ist nicht mehr drin. Sie holt sich einfach eine Kurzbeschreibung samt Lösung der Hausaufgaben aus dem Internet. Sie bräuchte eigentlich eine stationäre Therapie, eine Entziehungskur, um von diesem Ding wieder wegzukommen. Über 100.000 Jugendliche haben sich schon mit der Handysucht infiziert und dadurch sozial isoliert.
Ja, Jupp, dann wirst du wohl auch bald mit mir per WhatsApp und Snapchat kommunizieren wollen. Wenn draußen schlechtes Wetter ist, bleibst du einfach zu Hause und verlegst unser Stammtischgespräch in eine Skype-Videositzung, oder wie sehe ich das?
- Blödsinn, Ingo. Erstens bringt das niemals die gemütliche Atmosphäre wie hier zustande. Zweitens schmeckt das Bier mit Freunden in einer Kneipe immer besser. Und drittens brauche ich ja nur das Handy abzuschalten oder den Akku herausnehmen, - und meine Maschine beherrscht mich nicht mehr. Okay, es ist schon verführerisch, was man mit dem Ding alles anfangen kann: jederzeit Filme und Musik herunterladen, sich in Sekundenschnelle mit Bekannten verabreden, absolut aktuelle Nachrichten empfangen, sich in jeder Stadt per Navi zum Ziel führen lassen, … ja, das ist schon ein Zauberkasten.
Nicht zu vergessen, Jupp, dass du durch dieses Ding zum Universalgenie geworden bist – jedes Stichwort kannst du googeln, in Wikipedia nachschlagen oder durch einen Translator in eine von hundert Sprachen übersetzen lassen. Und erst die Fotos, die du damit machen kannst, - deine teure Spiegelreflexkamera kannst du bald glatt vergessen.
- Zumindest meine Digitalkamera. Die Leistungsdaten sind ja super. Ich habe noch so einen Satz Vorschaltlinsen geschenkt bekommen. Die klemmst du einfach vor die Kameralinse und dann hast du je nach Bedarf ein Fischauge oder ein Teleobjektiv. Ich habe superscharfe Makroaufnahmen von meinen Blumen gemacht. Und was auch hilfreich ist: mein Muttermal fotografiere ich jetzt in bestimmten Abständen, um zu beobachten, ob es sich mit der Zeit verändert. Das hat mir mein Arzt empfohlen wegen Hautkrebs, du verstehst?
Ja, das ist eine gute Idee, aber jetzt kommt doch mein Cyborg-Gedanke ins Spiel. Mit den Zusatzobjektiven hast du deine Sehkraft ins Unvorstellbare gesteigert. Du kannst dunkle Nachtaufnahmen aufhellen, weit entfernte Objekte heranzoomen, winzige Schriften lesen – es gibt sogar schon kleine Mikroskop-Vorsätze für das Handy.
- Eigentlich war diese Entwicklung zu erwarten: alles wird kleiner. Dazu habe ich gerade einen tollen Spruch gehört, natürlich von einer Frau: „Handys sind die einzigen Objekte, bei denen Männer sich streiten, wer das kleinere hat.“ Aber es stimmt ja: ich habe einen handlichen Fotoapparat mit hochauflösendem Fotochip samt leistungsfähigem Computer für die Bildbearbeitung jederzeit zur Hand. Ein paar Zusatzlinsen und ich brauche keine schwere Fototasche mehr für die Kameraausrüstung mitzuschleppen.
Apropos Verkleinerung: eine israelische Firma hat mit SCiO die erste Smartphone-App für Massenspektrometrie entwickelt. Klemm das winzige Gerät dran, halte es an ein Getränk oder ein Lebensmittel und es sagt dir die Nährstoff-Zusammensetzung. Scanne eine unbekannte Tablette und du erfährst, dass es sich um eine Paracetamol-Pille handelt, die nicht gefälscht ist. Materialanalysen und Qualitätskontrollen in der Lebensmittelindustrie, Landwirtschaft, Medizin, Fabrikproduktion – die Anwendungen sind noch kaum zu überschauen. Eine komplette Laboranalyse - nur mit einem kleinen Handyzusatz. Du brauchst auch gar kein Laborexperte zu sein. Die Auswertung der Ergebnisse liefert dir die dazugehörige Datenbank in der Cloud.
- Da bringst du mich gerade auf eine neue Idee, Ingo: Meine Fotos von den Hautveränderungen könnte ich ja auch mit einer medizinischen Datenbank abgleichen lassen und müsste dafür nicht jedes Mal zu meinem Doktor pilgern. Vielleicht steckt dahinter noch so ein IBM Dr. Watson, der Millionen von Vergleichsfällen in seinem Datenspeicher hat und meinen Hautkrebs viel früher und präziser diagnostizieren kann.
Ja, Jupp, - das Smartphone ist die neue Revolution in der Menschheit. Nach den mechanischen kommen nun die elektronischen Helferlein zur Potenzierung der menschlichen Macht. Übrigens werden an einem Tag weltweit zehnmal so viele Handys verkauft wie Babys geboren. Dein Doktor wird künftig immer mehr Konkurrenz von diesen Smartphones bekommen. Du gehst zum EKG immer noch zum Arzt und wartest stundenlang? Warum? Mit einem kleinen Zusatz für das Handy kannst du dein EKG selbst aufnehmen und deinen Herzrhythmus von einer App interpretieren lassen. Zu Hause erkennt dein aufgepepptes Smartphone nebenbei noch Vorhofflimmern, bedrohliche Werte bei den Herzgeräuschen, beim Blutdruck, beim Augeninnendruck - es kann die Lungenfunktion messen oder EEG-Signale aufzeichnen. Es gibt Otoskope, Stethoskope und sogar Ultraschallköpfe für Handys - alles nur eine Frage der vorgeschalteten Sensorik. Und die medizinische Interpretation erfolgt dann durch die künstliche Intelligenz hinter der Software – das ist die neue Digitalmedizin.
- … die vermutlich alle meine persönlichen Daten einsammelt, diese für künftige Kaufempfehlungen aufbereitet, mein Verbraucherprofil weitergibt und mich womöglich noch bei meiner Krankenversicherung verpetzt. Aber du hast recht, das ist ja wirklich eine beeindruckende Vorstellung, wenn der Hausarzt samt all seinen Facharztkollegen demnächst in meinem Smartphone residiert. Und dabei noch über eine perfekte Wissensbasis von weltweit bekannten Fällen verfügt. Zu den stationären und ambulanten Gesundheitssektoren wird sich bald wohl der digitalmedizinische Sektor dazugesellen. Telemedizin, Op-Roboter, KI-Doktoren, Selbstdiagnosen – der Patient entfernt sich immer mehr vom Arzt, welcher nun permanent der medizinischen Wissensexplosion hinterherlaufen muss.
Tja, der klassische Arztberuf wird wohl aussterben und der neue Doc muss schon heutzutage mit bestens vorab informierten Patienten klarkommen. Im Juli letzten Jahres gab es in den USA einen interessanten Vorfall mit einem autonomen Tesla-Auto. Der Fahrer erlitt während der Fahrt auf der Autobahn eine Lungenembolie, konnte aber noch die Adresse des nächsten Krankenhauses in sein Navigationssystem eintragen. Das Auto fuhr ihn automatisch zur Klinik und der Mann überlebte. So, mein lieber Jupp, jetzt denke mal weiter. Das künftige Auto ist sowieso schon vollgestopft mit Computern und Sensoren, da fallen ein paar medizinische Diagnostikgeräte nicht weiter ins Gewicht. Während du deine üblichen Staustunden im Fahrzeug verbringst, checkt dich dein Auto-Doc unbemerkt durch, entdeckt vielleicht alarmierende Werte, empfiehlt eine Kontaktaufnahme mit dem entsprechenden Spezialisten, informiert im Notfall den Rettungsdienst oder fährt dich gleich in die passende Klinik. Übermüdet? Alkoholisiert? Aggressiv oder depressiv? Nicht akzeptabel für dein Gefährt – Einsatz abgelehnt!
- Das wird wahrscheinlich schon vorher mein Hemd oder die Hose entscheiden, wenn dort die Wearables in meinem Schweiß Stressfaktoren detektieren. Oder mein Fitness-Tracker entdeckt kardiologische Warnhinweise im Puls oder EKG. Schlimmstenfalls fordert er mich auf, die Strecke zu Fuß zu laufen, um endlich mein tägliches Bewegungssoll zu erfüllen. Also das ist schon eine nervige Bevormundung durch so ein verdammtes Telefon. Und wenn sich da auch noch die Alexa zu Hause mit einschaltet, … - na, dann werde ich aber den ganzen Elektronik-Krempel an meinen schlimmsten Feind verschenken.
Der Aphoristiker Hans Ritz hat die Situation ganz passend ausgedrückt: „Der Brief ist ein unangemeldeter Besuch, ein unhöflicher Überfall – schrieb Nietzsche. Man merkt, dass er die Schrecken des Telefons noch nicht kannte.“ Er hat wohl recht: wir wurden zu Sklaven eines kleinen Kästchens – und das sogar freiwillig. Aber wir haben auch immer die Macht eines Herrschers: wir können theoretisch jeden jederzeit an jedem Ort erreichen und dabei trotzdem selber unerreichbar bleiben.
- Also Ingo, ist da nicht besonders beruhigend, dass wir hier in unserer Stammkneipe die vertraute Welt wie vor einhundert Jahren vorfinden? Der Wirt sollte in seiner Kneipe ein absolutes Verbot für Smartphones, Alexas und Wearables aussprechen, damit wir weiterhin in Ruhe und ohne Bevormundung unser gutes Bier genießen können.
Da hast du absolut recht, Jupp. Vor allem brauchen wir bei ihm kein israelisches Massenspektrometer im Miniformat, um vorher die Reinheit des Bieres auszumessen. Und wir wissen auch ohne Cardio-Monitor am Handgelenk, wann wir genug getrunken haben.
Also dann Prost auf unsere analoge Gesundheit.
Seltsame Stimmen
Ein Zeitgenosse, dumm wie die Nacht,
hat sich zum Doktor auf den Weg gemacht.
Er klagt, fängt fast schon an zu weinen:
„Ich höre dauernd Stimmen, sehe aber keinen!“
Der Doktor schaut ihn prüfend an,
fragt sich besorgt: Woher der Wahn?
Hat der Arzt nicht eh schon viel zu viele Plagen,
um sich mit Psychopathen rumzuschlagen?
Er schaut ihn an und forscht verstört,
wann der Dummkopf denn die Stimmen hört?
Der Idiot, sinniert dann kurz und spricht:
„Nur beim Telefonieren, sonst nicht!“
(Peter E. Schumacher, Aphorismensammler und Publizist, 1941 – 2013)
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