Eine Verkettung unglücklicher Umstände
von Ingo Nöhr
Ingo Nöhr im November 2023
Reprint vom März 2014
„Hallo, Jupp, wie geht es dir heute? Du bist ja zu beneiden, wie ich dem großen Zeitungsartikel letzte Woche entnehmen konnte. Deine Lebensqualität muss explosionsartig zugenommen haben, wenn ich den Pressemitteilungen des neuen Verkehrsreferenten glauben darf.
In seiner Wohngegend war vor einem Jahr eine verkehrsberuhigte Zone mit Tempo 30 eingerichtet worden. Zudem hatte man in seinem Stadtteil eine Parkraumbewirtschaftung eingeführt, was sich in höheren Parkgebühren, kürzeren Parkzeiten und weniger Parkflächen bemerkbar machte.
Aber Jupp schaute gar nicht glücklich drein und ob meiner Worte wurde er richtig wütend. „Wo sind nur unsere kritischen Journalisten geblieben? Das ist ein reiner Propaganda-Artikel in der Zeitung, übelster Bezahljournalismus, Ingo. Du kannst unserer Zeitung nicht mehr trauen. Ich habe sie gleich abbestellt.“
„Aber warum denn? Das klingt doch alles sehr logisch. Willst du etwa abstreiten, dass keine Raser mehr durchfahren, die Autodichte und Durchschnittgeschwindigkeiten stark abgenommen haben? Und jetzt viel mehr mit dem Fahrrad in die Stadt fahren, weil das Parken so teuer geworden ist? Also, ich finde das sehr positiv, Jupp“.
Wir wurden kurz abgelenkt, als der Wirt mit seiner Menükarte an den Tisch kam. Jupp bestellte sein Anti-Vegan-Gedächtnisessen, seitdem er von seiner Familie ein Jahr zuvor gastronomisch etwas misshandelt wurde: Curry-Wurst mit Pommes rot-weiß, extra große Portion.
„Mensch, Ingo, das ist doch bloß die halbe Wahrheit. Natürlich kann keiner mehr rasen, weil überall die schlafenden Polizisten auf der Straße herumliegen. Aber bei uns leben noch sehr viele junge Leute, und wenn die mit ihren tiefergelegten Protzautos diese Betonschwellen passieren, kracht und kreischt es gewaltig. Außerdem machen die sich den Spaß, mit hoher Beschleunigung und Abbremsung von Schwelle zu Schwelle zu hüpfen. Also der Lärm in meiner Straße war noch nie so hoch wie jetzt. Dazu kommt noch der Gestank durch die Auspuffgase.“
„Ja, das hat man wohl nicht zu Ende gedacht. Aber immerhin ist die Autodichte halbiert worden. Das bringt doch weniger Emission von Treibhausgasen.“
„Genauso ein Blödsinn, Ingo! Vorher konntest du bequem mit dem dritten Gang durch unsere Straße fahren, ohne Stop and Go vor den Schwellen. Jetzt zockelst du im zweiten Gang und beschleunigst nach jeder Schwelle wieder. Ich bin sicher, der Ausstoß hat sich drastisch erhöht.“
Der Wirt schob einen übervollen Teller mit einem geschätzten Kaloriengehalt von zwei Tagesrationen eines kanadischen Holzfällers auf Jupps Platz, während ich mich mit einem Salat und einem Weizenbier begnügte. Ich versuchte, Jupp stimmungsmäßig wieder etwas herunterzufahren. Ich wollte ihm eigentlich mein frisch erstelltes Manuskript über die neue EU-Verordnung vorstellen, aber dafür war später noch Zeit und ich schob meinen Laptop erstmal zur Seite.
„Na, ja, mag sein. Aber dafür ist es doch in der Innenstadt jetzt viel angenehmer geworden. Weniger Autos, mehr Radfahrer, trotzdem mehr Einnahmen in die Stadtkasse durch die vielen Falschparker und höheren Gebühren. Was willst du mehr, Jupp?“
„Angenehmer? Du spinnst wohl. Wann warst du denn das letzte Mal in der Innenstadt? “ schnappte Jupp wütend hervor. Jetzt war er richtig in Rage geraten. „Die alten Leute wagen sich doch gar nicht mehr auf die Straße, weil viel mehr Radfahrer da rumsausen. Da herrscht täglich Fahrradterror. Jetzt, wo die Autos weg sind, gehört denen die Straße.“
„Beruhige dich doch, Jupp. Da müssen halt mal ein paar Polizisten die Rüpel einfangen und empfindlich bestrafen, dann wird sich das schon beruhigen.“
„Ja, genau. Wie die Politessen, die sie in Hundertschaften losgeschickt haben, um bei den Falschparkern zu kassieren. Und weißt du, was der Effekt ist. Die Gebühreneinnahmen gehen zurück. Die haben bald nichts mehr zu tun.“
An unserem Nebentisch nahm ein älterer Herr mit einer Dogge Platz. Das Halsband schlang er um ein Tischbein und der Hund legte sich brav zu den Füßen seines Herrchens. Der Wirt kannte das Gespann schon und brachte gleich ein Kännchen Kaffee und eine Schale Wasser.
„Schön, das ist doch ein Erfolg, oder? Da könnten die jetzt bei den Radfahrern abkassieren.“
„Mein lieber Ingo. Hast du dir schon mal überlegt, warum die Autos früher in die Stadt gefahren sind? Zum Einkaufen. Die haben vorher eine Menge Geld beim Einzelhandel gelassen. Und jetzt? Jetzt fahren sie zu den zwei Supermärkten am Stadtrand: keine Parkprobleme, kein Zeitstress, keine Radfahrer. Und die Märkte haben ihre Angebote massiv erweitert, Kinderspielplätze und Schnellimbisse aufgestellt, und veranstalten jetzt laufend Sonderaktionen. Die Umsätze haben sich fast verdoppelt.“
„Oh, oh, das ist gar kein gutes Zeichen. Da werden in der Innenstadt mehr und mehr Geschäfte zumachen müssen, wenn die Laufkundschaft wegbleibt.“
„Genauso ist das, Ingo. Unser lieber Verkehrsreferent hat in seiner weisen Voraussicht den Radfahrern eine neue Spielwiese eröffnet, den Einzelhandel ruiniert, dem Großhandel Traumgewinne beschert, die Abgaswerte und die Lärmbelästigung erhöht. Darüber steht kein einziges Wort in der Zeitung. Verstehst du jetzt meine Wut, Ingo? Mann-o-mann!“
Bei diesem Wort sprang ein Happen seiner Currywurst von der Gabel und rollte unter den Tisch. Jupp ignorierte es und setzte unbeirrt seine Tirade fort:
„Aber dafür hat dieser große Meister vor dem Herrn jahrelang Stadtplanung studiert und großkotzig alle Kritiker im Stadtrat an die Wand geredet. Die positiven Auswirkungen hat er bis auf drei Stellen hinter dem Komma ausgerechnet, und das für die nächsten fünf Jahre. Stell‘ dir mal vor, und jetzt haben wir schon nach einem Jahr den Schlamassel“.
„Ja, Jupp, man nennt das den Overconfidence Effekt: Besonders Experten überschätzen systematisch ihr Wissen und ihre Fähigkeiten. Insbesondere glauben sie, dass Probleme eine direkte Konsequenz einer Ursache sind, dass menschliches Verhalten prognostizierbar ist und mit der Einführung einer Lösung das Problem erledigt sei.
„Ich weiß, Ingo. Menschen sind selten in der Lage, komplexe Probleme in ihrer Vernetzung und Dynamik zu verstehen. Sie drehen an einer Schraube und sehen überhaupt nicht, dass das gesamte System darauf reagiert und an ganz anderen Stellen ungeplante Effekte entstehen, die sogar Lawinen auslösen können. Das kannst du jeden Tag bei unserer Regierung beobachten. Schau dir nur den aktuellen Fall Edathy an.“
„Wir hatten bei dem Laden, wo ich früher mal gearbeitet habe, längere Zeit enorm teure Unternehmensberater von einer weltbekannten Firma im Haus. Die consultants kamen frisch von der Universität und haben zunächst wochenlang Kenngrößen berechnet. Dabei kam heraus, dass der Reisekostenindex meiner Abteilung vergleichsweise viel zu hoch war. Also reduzierten wir die Kundenbetreuung vor Ort und verlegten uns auf das Telefonieren, mit dem Ergebnis, dass nun unsere Telefonkosten ungebührlich herausragten. Wir warteten nunmehr darauf, dass sich die Kunden selber bei uns meldeten. Leider wurden es dann immer weniger. Aber dafür hatten wir erfolgreich die Reise- und Telefonkosten auf ein Minimum reduziert. Seit kurzem steht die Beratungsagentur wegen Missmanagement zum Verkauf.“
„Das sind eben die Scheuklappen-Experten, Ingo. Die können mit Komplexität nichts anfangen. Für einen Mann mit einem Hammer sehen eben alle Probleme wie ein Nagel aus. Oh, hoppla….“
Nun überschlugen sich die Ereignisse. Die Dogge hatte das Stück Currywurst auf dem Boden entdeckt und stand neugierig schnuppernd auf. Der ältere Herr zischte einen Befehl und wollte diesem mit einem kleinen Fußtritt mehr Gewicht bemessen.
Unglücklicherweise traf er mit seiner Schuhspitze die Niere des Hundes, dieser machte erschrocken einen heftigen Sprung nach vorne. Durch den Ruck am Tisch kippte die Tasse mit dem heißen Kaffee um und verbrühte den Mann an der Hand. Schmerzerfüllt sprang er auf, blieb am Tischtuch hängen und schmiss nun auch das halbvolle Kaffeekännchen um, dessen Inhalt sich nun auf den Hund ergoss.
Jaulend schoss der Hund auf unseren Tisch zu, wo ich gerade meinen Laptop aufgeklappt hatte. Ich stieß erschrocken mein Glas Hefeweizen um, dessen Inhalt sich auf der Tastatur verteilte. Jupp war gerade in Begriff, sich eine Pommes frites mit viel Ketchup in den Mund zu stopfen, verfehlte vor Schreck das richtige Loch und rammte sich die Gabel in die Nase.
Der Wirt rannte hinter seinem Tresen hervor, sah das Chaos und mittendrin einen blutigrot verschmierten Jupp … und rief sofort den Notarzt.
Einige Zeit später sitzen wir drei vereint in der Notfallambulanz unseres Krankenhauses und grübeln über den butterfly effect. Ein Flügelschlag eines chinesischen Schmetterlings kann in der Karibik einen Hurrikan auslösen. Ein klassisches Beispiel für das chaotische Verhalten des Wettergeschehens.
„Wenn der Verkehrsreferent nicht seine Neuerungen eingeführt hätte, hätte Jupp sich nicht aufgeregt, hätte er nicht das Wurststück fallen lassen, wäre der Hund nicht aufgesprungen, hätte er keinen Tritt bekommen, wäre der Tisch nicht gestoßen worden, wäre der Kaffee nicht umgefallen, hätte daher keinen verbrühen können, hätte mich nicht erschreckt, wäre mein Bier nicht umgestoßen worden, wären Jupps Nase und mein Rechner noch heile ...“
„Mann-o-mann, Ingo. Was für ein Zusammentreffen unglücklicher Umstände. Aber letztendlich ist unsere Regierung schuld. Hätten die Gelben damals in der Regierungskoalition nicht so sehr ihren Ruf ruiniert, hätten wir bei der letzten Kommunalwahl keinen neuen Verkehrsreferenten bekommen, der mit seinen Ideen die ganze Stadt durcheinander gebracht hat.“
Jetzt schaltet sich der ältere Herr mit seiner dick verbundenen Hand ein. „Das sehe ich auch so. Meine Frau ist nämlich zum Supermarkt gefahren, weil sie letztes Mal in der Stadt ein Knöllchen bekommen hat. Da sie nicht rechtzeitig zurückgekommen ist, musste ich mit dem Hund Gassi gehen. Sonst wäre ich nämlich alleine in die Gaststätte gegangen.“
„Hmm“, grübele ich vor mich hin. „Es ist noch komplizierter. Wäre ich damals nicht zufällig ans Telefon gegangen, als ein Bekannter mir eine Wohnung in dieser Stadt angeboten hat, wäre ich gar nicht hierhergezogen und hätte Jupp nicht kennengelernt. Damit hätte ich auch heute hier nicht …“
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