Die Arroganz der Macht – oder wenn die Ohnmächtigen nicht mehr folgen wollen
von Ingo Nöhr
Nach der Sommerpause geht es wieder rund in der Politik. Nicht nur Jens Spahn findet durch seine unbedachten Äußerungen zielsicher neue Fettnäpfchen, auch unsere Regierungen erfreuen bzw. erschrecken uns mit zunehmend verrückteren Aktionen. Der Lack an den Denkmälern der Mächtigen in Politik, Wirtschaft und im Show-Business wird immer stärker verkratzt – aufmerksam beobachtet und kritisch registriert von unseren pensionierten Krankenhaus-Vertretern Ingo und Jupp während ihrer monatlichen Stammtischrunde.
Mensch Ingo, das ist ja heutzutage wieder richtig spannend in der Politik. Überall knirscht es gewaltig im Gefüge der Mächtigen: Trump gerät immer mehr in die Bredouille, Erdogan kriegt keinen Schlossempfang in Köln, Merkel verliert ihren Kauder, Seehofer seine CSU-Unterstützung, die Briten bekommen jetzt Angst vor dem Brexit, die AfD überflügelt die SPD – Mann-o-mann! Wer hätte das gedacht?
- Jupp, mich überrascht das nicht. Erinnerst du dich garnicht mehr daran, dass wir vor anderthalb Jahren schon über disruptive Politik gesprochen haben? Es geht nicht mehr im alten Trott so weiter, - die historisch gewachsenen und liebevoll gepflegten Strukturen sind an ihre Leistungsgrenze angelangt, Zusammenbrüche stehen überall bevor. Schau dir nur unsere Verkehrsinfrastruktur an: Autobahnen, Bahn- und Flugverkehr – am Limit.
Ja schon, Ingo. Jetzt auch noch die drohenden Dieselfahrverbote. Wir hatten die Wiedervereinigung der Deutschen, die Abschaffung der Wehrpflicht, den Atomausstieg nach Fukushima, die Flüchtlingswelle, Eurokrise, Brexit, Trump, - alles undenkbare Szenarien, auf die keiner vorbereitet war, weil doch alles so schön in seinen ausgetretenen Gleisen lief. Plötzlich ist es vorbei mit der deutschen Gemütlichkeit. Am schlimmsten war ja die Blamage bei der Fußball-WM. Unsere nationalen Fußballspieler waren bunt zusammengewürfelt: die altgedienten Millionäre, überheblich und mittlerweile abgehoben von der Realität, zusammen mit Jungspunden, die im Team durch ihre Isolation keinen echten Kampfgeist entwickeln konnten. Ruhm ist eben ein Gift, das der Mensch nur in kleinen Dosen verträgt.
- Ja ja, Jupp – die Arroganz. Wo die Eitelkeit anfängt, hört der Verstand auf. Donald Trump wurde vor kurzem in der UN-Vollversammlung ausgelacht, als er mit seinen Regierungserfolgen prahlte. Wie heißt es so schön: Wer zu laut und zu oft seinen eigenen Namen kräht, erweckt den Verdacht, auf einem Misthaufen zu stehen. Da sein Blick immer nach oben geht, sieht er seinen wackeligen Standpunkt nicht. Fast alle Störer hat er mittlerweile ausgemerzt, nur der hartnäckige FBI-Ermittler überlebt überraschenderweise noch. Wie die meisten Menschen will er lieber durch Lob ruiniert als durch Kritik gerettet werden. Deswegen hat er sich auch in Kim Jong Un „verliebt“, der ihm so wunderschöne Briefe schreibt.
Ruiniert ist das richtige Wort, Ingo. Je mehr du dich selbst liebst, desto mehr bist du dein eigener Feind. Trump sollte mal diese Weisheit von Marie von Ebner- Eschenbach beherzigen. Politiker verlieren der Kontakt zur Wirklichkeit, zum gemeinen Volk, heben ab, konzentrieren sich auf die lautstarke Außenwirkung und verbieten sich jegliche Kritik. Mikrofone sind das einzige, was sich Politiker noch gerne vorhalten lassen. Dadurch ignorieren sie die schweigende Mehrheit, die mit zusammengebissenen Zähnen und geballten Fäusten diese Selbstverliebten im Elfenbeinturm erträgt. Die größte Partei der Deutschen war in den letzten Jahrzehnten zunehmend die Gruppe der Nichtwähler.
- Mag sein, Jupp, dass dies eine Zeitlang gutgeht. Bis plötzlich die Ohnmächtigen eine gemeinsame Stimme erhalten und sich quasi anonym einem Sammelbecken anschließen können. Die AfD, hervorgegangen aus der zunächst belächelten Pegida-Bewegung, hat mittlerweile den Charakter einer Volkspartei und löst bei den etablierten Parteien helle Panik aus. Ein nach aussen so stabil erscheinendes System der Macht wird auf einmal von einem winzigen Steinchen im Getriebe erschüttert und steht unvermittelt vor dem Zusammenbruch. Die berühmte Pressekonferenz von Günter Schabowski öffnete ungewollt die Mauer, die stasi-gestützte Unterdrückungsmacht konnte dem Volk nichts mehr entgegensetzen. Eine mutige Frau wandte sich gegen den mächtigen Harvey Weinstein und es gründete sich spontan die unkontrollierbare MeToo-Bewegung, die immer mehr sexsüchtigen Männern den Ruf, das Amt und sogar die Freiheit kostet. Die simple Frage der Ablösung des Verfassungsschutzpräsidenten Maaßen löste die GroKo-Krise aus und beschädigte alle drei Parteivorsitzenden von CDU, CSU und SPD auf das Schwerste.
Und nicht vergessen, Ingo: ein Inspektor der amerikanischen Umweltbehörde entfesselte die Dieselaffäre mit ihren weltweiten Folgen. Die vorher unbekannte Deutsche Umwelthilfe deckte mit ihren Recherchen und Klagen für Fahrverbote die jahrzehntelange Kumpanei der deutschen Automobilindustrie mit dem Verkehrsministerium und dessen Kraftfahrtbundesamt auf und zwingt nun alle betrügerischen Hersteller zu milliardenschweren Nachrüstungen. Jetzt sitzt der oberste Audi-Chef im Gefängnis.
- Jupp, manchmal ist es einfach ein kleiner Zufall, der Lawinen lostreten kann. Nimm nur die kurze Begegnung des republikanischen Senators Jeff Flake, der auf dem Weg zur Abstimmung über Trumps Richterkandidaten Kavanaugh im Aufzug mit zwei vergewaltigten Frauen konfrontiert wurde. Kurz darauf forderte er mit seiner entscheidenden Stimme eine FBI-Untersuchung vorab und hielt somit den sicheren Einzug Kavanaughs ins höchste Richteramt für eine Woche auf. Trump musste zähneknirschend zustimmen.
Du hast recht, Ingo: die Statuen unserer Mächtigen stehen auf sehr wackeligem Boden, wenn schon eine kleine Erschütterung das Fundament ins Wanken bringen kann. Daher sollte man besser auf dem Höhepunkt seines Ruhms noch rechtzeitig abtreten, um als Lichtgestalt in die Geschichte eingehen zu können. Aber kein Abschied auf der Welt fällt schwerer als der Abschied von der Macht. Helmut Kohl und Angela Merkel haben den passenden Absprungspunkt verpasst.
- Oft wird der Vorgang durch einen saftigen Tritt ausgelöst, Jupp. Unser Ex-Verteidigungsminister Karl-Theoder zu Guttenberg hat seine Lektion schmerzlich gelernt: „Man darf nie das Gefühl haben, dass man im politischen Geschäft ein Star wäre, sondern man hat verdammt noch mal seine Arbeit zu machen.“ Erdogan dagegen ruiniert gerade die türkische Wirtschaft und Trump die amerikanische Reputation in der Welt. Wie Elefanten trampeln sie in der Umwelt herum und halten sich in ihrer Allmacht für unbesiegbar.
Dabei könnten sie doch einfach von der Natur lernen. Die gewaltigen Dinosaurier sind ausgestorben. Jetzt erfreuen uns ihre Nachkommen nur noch putzige Vögel. Wir als erfolgreiche Säugetiere waren eben nicht stärker, sondern anpassungsfreudiger und flexibler – das bekannte Darwin-Prinzip. Sind denn jetzt solche Sammlungsbewegungen wie die von Sahra Wagenknecht mit „Aufstehen“ die Nachfolger der Parteien-Saurier? Wir hatten doch früher schon solche Ansätze wie die Grauen Panther, die Piratenpartei oder eigentlich auch die Grünen? Was meinst du, Ingo?
- Wir stehen in Deutschland wahrscheinlich noch am Anfang von solchen Entwicklungen. Weil es uns verhältnismäßig noch gut geht. Solche Sammlungen der Rechten und der Linken haben in Griechenland, in Italien und in Frankreich schon längst die Regierungsbildung beeinflusst. Denk mal an den Komiker Beppe Grillo, den Vorsitzenden des MoVimento 5 Stelle, die seit März 2018 mit 32% Italiens stärkste Partei und Regierungsfraktion ist. Aber es ist ja nicht so, dass die Mächtigen dem Kontrollverlust so untätig zuschauen würden. Sie rüsten auf allen Fronten auf. Zunächst kämpfen sie gegen kritische Medien. Sie erklären sie zur Lügenpresse, für Fake-News-Produzenten oder werfen Journalisten gleich als Terroristen ins Gefängnis, wenn sie nicht im schlimmsten Fall gleich ermordet werden. Sie versuchen das Internet zu kontrollieren und errichten Zensurmöglichkeiten. Die NSA hat gleich das gesamte Weltnetz gekapert und registriert jegliche Äußerung. Polizeigesetze werden wie in Bayern sogar drastisch verschärft, automatische Gesichtserkennungssoftware für die Videoüberwachung installiert, und China errichtet mit seinem Scoring-Werkzeug ein perfektes Big-Brother-System für seine Bürger. Nordkorea hat seine Untertanen komplett vom Weltgeschehen abgeschirmt.
Ingo, wenn ich aber an unsere eigene Geschichte denke: was hat dem DDR-Regime die permanente Stasi-Überwachung der eigenen Bevölkerung letztendlich gebracht? Den Mächtigen standen alle Informationen von der Basis zur Verfügung, aber sie haben nicht daraus gelernt. Das erinnert mich an eine Weisheit von Konfuzius: Lernen, ohne zu denken, ist eitel. Denken, ohne zu lernen, gefährlich. Zum Schluss waren die Ohnmächtigen doch die Stärkeren. Daher denke ich, dass kein Diktator langfristig stabil sein kann, denn die Mächtigen zerstören sich selbst – sie sind ihre eigenen Feinde. Wie meine Marie von Ebner-Eschenbach schon weise feststellte.
- Ein wahres Schlußwort für unsere Diskussion, mein lieber Jupp. Lass uns nun auf unsere Oase der arroganzfreien Macht besinnen, die wir jeden Monat erneut geniessen können. In bester Kooperation und Freundschaft mit unserem Versorger des flüssigen Lebensmittels: Herr Wirt, bitte zwei Bier zu dieser machtfreien Insel.
Prost Ingo, trinken wir auf unsere zunehmend mächtige Ohnmacht!
Wer sich zu groß fühlt, um kleine Aufgaben zu erfüllen, ist zu klein, um mit großen Aufgaben betraut zu werden. (Jacques Tati, 1907 -1982, Regisseur und Darsteller von Monsieur Hulot)
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