Die akusto-medizinische Gerätekombination
von Ingo Nöhr
Bei seinen Literaturstudien muß mein Freund Jupp wohl auf neue Erkenntnisse gestoßen sein. Telefonisch verlangte er vor kurzem mit vor Erregung zitternder Stimme dringend nach der letzten Fassung der Medizinprodukte-Verordnung. Ich faxte sie ihm durch und wartete noch zwei Tage, ohne dass ein weiteres Lebenszeichen von ihm kam.
Dann hielt ich es nicht mehr länger aus. Kurzentschlossen besuchte ich ihn. Ich fand ihn in seinem Wohnzimmer. Er saß vor einem Audioanlagenturm und schloß anscheinend neue Lautsprecherboxen an.
Eigentlich kein beunruhigender Vorgang. Irritierend für mich war allerdings, dass um ihn herum etliche Regelwerke des Medizinprodukterechts verstreut lagen. Ein dicker Ordner „Technische Dokumentation“ war aufgeschlagen. Ich konnte zuoberst eine „Checkliste zu den Grundlegenden Anforderungen der EG-Richtlinie 93/42/EEC“ erkennen.
Jupp war immer schon ein Verehrer des Medizinprodukterechts gewesen und er fand ständig neue Aspekte heraus. Deshalb fragte ich ihn neugierig: „Hilft Dir das Medizinproduktegesetz beim Anschließen von Lautsprecherboxen?“ – „Dumme Frage, mit dieser Kombination zur Musiktherapie ist ein ganz schöner Dokumentationsaufwand verbunden.“
„Musiktherapie? Wieso mußt Du etwas dokumentieren, Jupp?“ fragte ich etwas unsicher. „Und warum nach dem Medizinproduktegesetz?“
Jupp verdrehte leicht die Augen, wie immer, wenn er dem ungebildeten Teil der Bevölkerung die Grundbegriffe des Medizinprodukterechts nahebringen muß. „Bißchen viel Fragen auf einmal, mein Lieber, aber ich erkläre es Dir der Reihe nach, und zwar ganz langsam.“
Der letzte Halbsatz hätte mich eigentlich ärgern sollen, schließlich bin ich keine Blondine, aber ich verschluckte eine unpassende Bemerkung. Wie ein Schuljunge setzte ich mich auf eine Ecke des Tisches und lauschte andächtig, denn von Jupp konnte immer wieder etwas Überraschendes kommen.
„Also zunächst haben wir hier ein aktives, nicht invasives therapeutisches Medizinprodukt der Risikoklasse IIa vor uns.“ dozierte er los.
Meiner unmittelbar im Raum stehenden Frage nach dem Warum kam er sofort zuvor: „zwecks Abgabe von Energie zur Veränderung biologischer Funktionen im Zusammenhang mit der Behandlung einer Krankheit (meine Kopfschmerzen nach der Arbeit nämlich) oder der Linderung einer Behinderung (meiner leichten Schwerhörigkeit auf dem linken Ohr).“
Ich versagte mir eine weitere unsachgemäße Anmerkung über mögliche andere Behinderungen von Jupp. Aber er hatte recht: Musik ist in der Lage, schlechte Gedanken zu vertreiben. In der Klassifizierung von Medizinprodukten ist Jupp mittlerweile einsame Spitze geworden. Ich ließ seine präzise Definition zunächst auf mich einwirken, meinte mich aber angesichts der gewaltigen Lautsprechertürme daran erinnern zu können, dass in der Klassifizierungsregel noch etwas von einer potentiellen Gefährdung stand.
Mein Einwand über das Gefahrenpotential lief denn auch gleich ins Leere: „Vom Produkt kann zwar unter Berücksichtigung der Dichte der Energie und des energetisch betroffenen Körperteils eine potentielle Gefährdung meines Trommelfells ausgehen, aber durch meine neuentwickelte Begrenzerschaltung konnte ich die Eingruppierung in die Risikoklasse IIb vermeiden.“
Aha, vorausblickend hatte Jupp also schon die harmonisierte Norm DIN EN 60601 über die Grundsätze der integrierten Sicherheit bei Medizinprodukten berücksichtigt und sich nicht mit der hinweisenden Sicherheit „Bitte Gehörschutz tragen!“ zufriedengegeben. Er hatte tatsächlich die zweite Ebene der Schutzziele durch die Konstruktion einer angemessenen Schutzmaßnahme angestrebt. Mein Jupp kannte also alle Tricks der Hersteller zur Risikoklassenoptimierung.
Aber skeptisch, wie ich nun mal gestrickt bin, wagte ich den Einwand: „Jupp, hättest Du das erste Schutzziel der Sicherheitsphilosphie, die konstruktive Sicherheit nicht schon durch die Verwendung kleinerer Lautsprecher erreichen können?“
„Was für ein Unsinn! Das geht doch völlig an den Erwartungen der Anwender vorbei. Gemäß den allgemeinen Anforderungen der EU-Richtlinie muß ich doch die „physischen Voraussetzungen der vorgesehenen Anwender (Produktauslegung für Behinderte)“ berücksichtigen. Sollen denn die Schwerhörigen von meiner Musiktherapie ausgeschlossen werden? Da hilft nur ordentlich Power, mein Junge.“
„Betreiberverordnung?“ warf ich leise meinen nächsten Trumpf ein, denn schließlich sollte laut Anhang I der EU-Richtlinie „die Gesundheit der Anwender und gegebenenfalls Dritter“ nicht gefährdet werden.
Die Antwort kam prompt: „Nichtimplantierbares aktives Medizinprodukt zur Erzeugung und Anwendung elektrischer Energie zur unmittelbaren Beeinflussung der Funktion von Nerven bzw. der Herztätigkeit, daher Medizinproduktebuch- und STK-pflichtig. Aber das kriegen wir später. Jetzt muß ich erst mal die Konformitätsbewertung nach § 10 Abs. 2 MPG für das Inverkehrbringen und die Inbetriebnahme von Systemen und Behandlungseinheiten durchziehen.“
Tatsächlich, beim genaueren Hinsehen erkannte ich es. Jupp arbeitete an der Technischen Dokumentation. Andächtig schaute ich ihm über die Schulter. Also mußte in diesem Turm mindestens ein Teil ohne CE-Kennzeichen versteckt sein. Aber andererseits würden ihm die CE-zugelassenen Komponenten auch nicht helfen, denn er hatte ja die Konformitätserklärung des Herstellers durch seine eingebaute Begrenzerschaltung ungültig gemacht. Da kam eine Menge Arbeit auf ihn zu.
„Wo hakt es denn, Jupp?“, fragte ich mitfühlend. - „Anhang I, Oberpunkt I, Pkt. 1 Satz 1 etwaige Risiken verglichen mit der nützlichen Wirkung“ war die präzise Antwort. Aha, um eine klinische Prüfung würde er wohl nicht herumkommen.
„Hast Du schon Deinen Prüfplan der Ethikkommission vorgelegt?“ – „Alles Ignoranten,“ stieß er hervor, „stell Dir vor, die Deppen wollen die Wirkung meiner Heavy-Metal CDs als unerwünschte Nebenwirkungen einstufen. Soll angeblich Herzrhythmusstörungen verursachen, so ein Quatsch. Ich soll meine vorgegebenen Leistungen den üblichen Einsatzbedingungen anpassen.“
„Also, das heißt, Du sollst bei dieser Musik etwas leiser drehen.“, wagte ich einzuwerfen. Aber ich kann sein Dilemma mit den Anwendererwartungen nachvollziehen.
Da kam mir die entscheidende Idee: „Kannst Du nicht mit dem Prinzip der integrierten Sicherheit im Ersten Fehlerfall argumentieren. Im Klartext: Man wird vorher taub, bevor sich die Rhythmusstörungen einstellen können.“
Mit großen Augen starrte er mich an. „Na klar, so geht’s. Wir erklären das einfach zum allgemein anerkannten Stand der Technik. Der Nachweis steht im Fernsehprogramm. Gib mir mal die Telefonnummer vom Musiksender MTV. Da sitzen die Experten für Heavy Metal, die müssen mir das gleich bestätigen.“
Wie wird mein Jupp wohl mit der Grundlegenden Anforderung Nr. 12.7.3 umgehen, die besagt: „Die Produkte müssen so ausgelegt und hergestellt sein, dass die Risiken, die durch den von den Produkten erzeugten Lärm bedingt sind, unter Berücksichtigung des technischen Fortschritts soweit wie möglich verringert werden... dabei sind die vorhandenen Möglichkeiten zur Minderung des Lärms, insbesondere an dessen Ursprung, zu nutzen.“
Vielleicht sollte Jupp doch lieber ausschließlich Kopfhörer einsetzen. Die klinische Prüfung dürfte sicherlich auch in die Krankenhausgeschichte eingehen.
Es ist halt schon ein hartes Brot, so eine Konformitätsbewertung eines akusto-medizinischen Geräteturms zu erstellen.
Autor:
Ingo Nöhr
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