Der Absturz in eine andere Welt
von Ingo Nöhr
Vor einem Monat war die Welt für Ingo und Jupp noch vergleichsweise in Ordnung. Ein winziger Feind hat sie und ihre Umwelt in eine noch unfassbare Situation katapultiert. Alles ist anders geworden, bedrohlicher, ja sogar lebensgefährlicher. Ein Horrorszenario, wie es nur nach einem Meteoriteneinschlag oder einem Atomkrieg denkbar wäre. Die beiden sitzen nun zu Hause in ihrer aufgezwungenen Quarantäne, zwar noch ohne Symptome, aber vielleicht könnte schon ein Mückenstich das Unheil von außen hereinbrechen lassen.
Ein Stammtischtreffen in der gemütlichen Eckkneipe ist natürlich nicht mehr möglich. Aber immerhin hat ihr Wirt auf Hauslieferung umgestellt und den beiden einen Kasten Bier vor der Haustür abgestellt. So findet der monatliche Gedankenaustausch nun per Internet statt.
Lieber Ingo, hättest du es letzten Monat für möglich gehalten, dass wir unser Bier nun virtuell vor einem Bildschirm trinken müssen?
- Lieber Jupp, natürlich nicht. Alle heiligen Kühe werden hektisch geschlachtet. Bundesliga, Olympiade, Großmessen, Flugreisen, - alles auf den Sankt Nimmerleinstag verschoben. Wir sind mit einem Sprung in einer anderen Welt gelandet. Unvorbereitet, verblüfft bis geschockt.
Letztes Mal hatten wir vereinbart, uns nichts mehr über Donald Trump zu erzählen, um mal auf andere Themen zu kommen. Jetzt können wir uns nur noch jeden Tag über den Corona-Virus unterhalten, es gibt keinen anderen Gesprächsstoff. Wo kann man noch Toilettenpapier kaufen und wie schlagen wir zu Hause unsere Zeit tot, - das sind unsere wichtigsten Probleme. Ausgangssperren, Kontaktverbote, heruntergefahrene Wirtschaft - aber nur keine Panik aufkommen lassen.
- Ich glaube, dies kommt etlichen Politikern auch gut gelegen. Wer redet noch von der milliardenschwere Maut-Affäre unseres Verkehrsministers, von der Berater-Affäre im Verteidigungsministerium, von der Kanzlerfrage, vom Migrantenproblem, die Heuschreckenplage in Afrika. Der größte Schwarm über Kenia ist mittlerweile so groß wie die Fläche des Saarlandes. Dazu die Kriege in Jemen, Syrien und Ostukraine, Raketentests in Nordkorea, - alles uninteressant geworden. Aber die Welt steht nicht still. Sie ist nicht eingefroren, vielmehr schwelen die Probleme unter der Oberfläche weiter.
Andererseits werden etliche Politiker als große Sprücheklopfer demaskiert. Donald Trump, Viktor Orbán, Jair Bolsonaro und viele andere Populisten blamieren sich mit ihrer Ignoranz und Dummheit vor dem Volke. Auch die Europäische Union zeigt ein klägliches Bild: ratlos schaute sie lange bei den katastrophalen Entwicklungen in Italien und Spanien zu. Die Italiener mussten China um Hilfe anbetteln. „My nation first“ lautete anfangs die Devise. Die EU-Mitglieder sperrten die Grenzen, igelten sich ein und sprachen Exportverbote aus. Von europäischer Solidarität und Gemeinschaft war da nichts zu spüren. Die aktuellen Statistiken für Deutschland müssen wir uns täglich von der privaten Johns Hopkins University in Baltimore herunterladen, denn die offiziellen Daten des Robert-Koch-Instituts sind oft veraltet. Die deutsche Bürokratie kommt einfach mit dem Melden nicht mehr nach.
- Dabei hätten wir Deutschen wesentlich besser vorbereitet sein können. Denn 2012 simulierte eine Expertengruppe unter der Leitung des Robert-Koch-Instituts den Ausbruch einer Pandemie in Deutschland und legte ihn dem Bundestag als Drucksache 17/12051 als Bericht zur Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz vor. Das damalige Szenario dürfte nun vielen bekannt vorkommen: ein Erreger aus Asien werde sich in Deutschland ausbreiten, führe zum Zusammenbruch des Gesundheitssystems mit Millionen Toten und einer Lebensmittelknappheit. Sie würde die Wirtschaft Milliarden Euro kosten. Der Name der Analyse: "Pandemie durch Virus ‚Modi-Sars‘". Augenscheinlich wurde das Szenario von den Verantwortlichen nicht ernstgenommen. Dabei gab es regelmäßig Warnsignale: Aids 1982, Rinderwahnsinn 1991, Sars 2003, Schweinegrippe 2009, Vogelgrippe 2014. Wir konnten den Verlauf der Covid-19 Pandemie im Vorfeld erst in China und jetzt in Italien hautnah verfolgen. Nun zahlen wir einen ungeheuren Preis für unsere Versäumnisse.
Ingo, ich erinnere mich noch an die dubiose Rolle der Weltgesundheitsorganisation bei der Gesundheitspolitik. Die WHO wird zu 80% privat finanziert, da stellt sich mir die Frage, wie sie vor Interessenkonflikten geschützt ist. Die einfache Absenkung des Cholesterin-Normwertes von 240 auf 200 mg/dl führte zu Erhöhung der Zahl von Therapiebedürftigen um 86%. Weltweit gab es im Jahre 2009/2010 über 500.000 Todesfälle durch die saisonale Grippe, aber nur 15.000 durch die Schweinegrippe. Dennoch gab die WHO weltweiten Pandemie-Alarm, denn sie hatte die Pandemie-Definition geändert, indem die Parameter Schwere und Tödlichkeit als notwendige Kriterien herausgenommen wurden. Dann begann der unglaubliche Hype auf Tamiflu, als viele Regierungen auf einer zweifelhaften Empfehlung der WHO hin für Milliarden Dollar Steuergelder Tamiflu auf Vorrat einkauften, die dann wegen Unwirksamkeit anschließend zu hohen Kosten wieder entsorgt werden mussten. Dem Hersteller Roche bescherte diese Aktion einen Gewinn von 13 Milliarden Euro. Ich hatte ein Deja-Vue Erlebnis, als Donald Trump plötzlich das Malariamittel Chloroquin als neues Wundermittel anpries.
- Ich bin angesichts der unüberschaubaren Nachrichtenflut ratlos, ob wir überhaupt noch seriös und faktenbasiert über die Pandemie informiert werden. Allein schon die Sterblichkeit der Coronavirus-Infizierten, verglichen mit der üblichen Sterberate, macht mich skeptisch. Normal sterben in Deutschland jährlich knapp eine Million Menschen, dass sind über 2.600 pro Tag. Italien hat durch seine Überalterung der Bevölkerung einen höheren Wert, nämlich über 8.000 Sterbefälle täglich. In China gehen die 3.300 Corona-Toten in der täglichen Masse von 130.000 Sterbenden unter. Selbst die USA hat in der Regel 36.000 Menschen pro Tag zu beerdigen, wohlgemerkt: alle Zahlen sind der Normalfall, noch ohne die Corona-Toten eingerechnet. Hätten wir ohne Kenntnis des Virus die Corona-Pandemie im Tagesgeschäft des Todes vielleicht garnicht bemerkt? Welche Besonderheiten bei der jährlichen Grippewelle hätten wir in China, Italien, Deutschland und anderswo beobachtet, wenn wir die Corona-Tests nicht angewendet hätten?
Die Frage ist doch, ob wir überhaupt verlässliche und vergleichbare Statistiken zur Verfügung haben? Die Niederlande testen vor allem Covid-19 Erkrankte mit schwerem Verlauf. Island bietet hingegen jedem Isländer die Gelegenheit, einen Test zu machen. In Deutschland muss man für einen Test zwei Bedingungen erfüllen: akute Symptome und zusätzlich Kontakt zu einer Risikoperson. Damit scheiden doch die meisten potenziellen Kandidaten von vornherein aus. Die Dunkelziffer der Infizierten soll je nach befragtem Experten beim Faktor 5, 10 oder 20 liegen.
- China ändert schon zum dritten Mal die Grundlage ihrer Statistik. Welche Länder mogeln sich ihre Zahlen zurecht? Woran sterben Sars-infizierte Menschen eigentlich? Spielen nicht auch andere Faktoren bei der Mortalität eine wichtige Rolle? Der RKI-Präsident formulierte es folgendermaßen: „Bei uns gilt als Corona-Todesfall jemand, bei dem eine Coronavirus-Infektion nachgewiesen wurde.“ Also auch schon, wenn Covid-19 gar nicht die Todesursache war. Stirbt jemand am oder mit dem Virus? Das lässt sich kaum auseinanderdividieren. 80% der Verstorbenen in Italien hatten zwei oder mehr chronische Vorerkrankungen. Das Durchschnittsalter der positiv Getesteten betrug 81 Jahre.
Wir haben immer noch keine repräsentative Studie zur Ermittlung der wahren Relationen von positiv getesteten, infizierten, schwer erkrankten, gesundeten und immunisierten Menschen. Die Regierungen treffen unter dem Druck der katastrophalen Szenen in Krankenhäusern maximale Maßnahmen auf der Basis minimaler Gewissheit. Evidenzbasierte Medizin sieht anders aus.
- Du hast völlig recht, Jupp. Wenn ich einem Menschen gegenüberstehe, wissen wir beide wohl nicht, ob der andere noch gesund oder infiziert ohne Symptome oder schon immunisiert ist. Da finde ich das asiatische Konzept, dass alle ohne Ausnahme einen Mundschutz tragen und einen Abstand von zwei Metern einhalten sollten, überzeugend. Es ist doch erstaunlich, dass durch sofortiges entschlossenes Handeln dichtbesiedelte Länder wie Taiwan nur 5 Tote, Japan 57 oder Südkorea 165 Coronatote aufweisen, eine Stadt wie Hongkong sogar nur 4. Irgendetwas haben die dortigen Seuchenexperten wohl richtig gemacht. Warum lernen wir nicht davon? Die Asiaten werfen uns „europäische Arroganz“ vor.
Mich irritiert auch etwas, dass wir permanent nur mit Aussagen von Virologen konfrontiert werden, die zudem noch unterschiedlicher Meinung über den Nutzen von Mundschutzmasken sind. Virologen sind keine Ärzte und keine Gesellschaftsmediziner. Wo kommen die Immunologen, Kardiologen und Lungenfachärzte zu Wort? Warum wird der Lungenspezialist Dr. Wodarg mit seinen abweichenden Analysen so gnadenlos in der Öffentlichkeit demontiert? Zusammen mit anderen ernstzunehmenden Kollegen im In- und Ausland hat er kritische und wissenschaftlich fundierte Aussagen vorgestellt, die aber nirgendwo diskutiert werden dürfen. Wo bleiben die Soziologen und Psychologen mit ihren kritischen Beobachtungen zu Massenhysterien? Die Statistiker zu der Relevanz der Datenauswertungen? Sie gehen unter im Ozean der Corona-Schreckensmeldungen.
- Was passiert nach der Corona-Virus Welle mit den ganzen gesetzlichen Regelungen, die massiv die Grundrechte der Menschen beeinträchtigen? Spahn will die Telefondaten zur Überwachung einzelner Menschen nutzen. Orban sichert sich per Dekret umfangreiche Machtbefugnisse am Parlament vorbei. Die EU-Sicherheitsregeln für Medizinprodukte werden ausgehebelt, wenn plötzlich Autohersteller und Staubsaugerproduzenten Beatmungsgeräte herstellen. Die Versammlungsverbote, die Quarantäneregeln, die Ausgangssperren - wird das alles wieder zurückgenommen?
Wir haben aber auch positive Effekte, Ingo. Die negativen Konsequenzen des kommerziellen Drucks im Gesundheitswesen und des massiven Rückbaus der Krankenhäuser sind für jeden Bürger klar erkennbar. Pflegekräfte werden endlich geschätzt und sollen mehr verdienen. Deutschland könnte nun doch noch die Klimaziele einhalten. Solidaritätswellen und tolle Hilfsaktionen sind zu beobachten. Viele Deutsche lernen wieder das Familienleben schätzen. Ein Nachdenken über unseren Konsumwahn könnte eintreten. Deutschland wird nach der Corona-Krise ein anderes Land sein. Damit werden wir uns wohl noch viele Monate in unseren Gesprächen beschäftigen. Vor allem, wenn in einem Jahr die kritische Nachbereitung aller Vorgänge vorliegt. Bis dahin bleibt uns nur, mit unserem hochgeschätzten Bier auf unsere Gesundheit anzustoßen.
- Gut gesprochen, Jupp. Wir sollten auch einen Toast auf unseren Wirt aussprechen. Wir wünschen ihm, dass er die wirtschaftlichen Folgen dieser Krise gut übersteht und uns bald wieder in persona begegnen darf. Prost.
"Dies ist der dritte und bislang größte wirtschaftliche, finanzielle und soziale Schock des 21. Jahrhunderts und erfordert moderne, globale Anstrengungen, die dem Marshallplan und dem New Deal des letzten Jahrhunderts entsprechen."
(OECD Generalsekretär Angel Gurría)
Die Wut des Virus zeigt die Torheit des Krieges. Deshalb fordere ich heute einen sofortigen globalen Waffenstillstand in allen Teilen der Welt. Es ist Zeit, Konflikte zu beenden und uns gemeinsam auf den Kampf um unser Leben zu konzentrieren.
(UN-Generalsekretär António Guterres)
Zusammen sind wir stark. Die Eindämmung des Virus fängt mit dir an. Unser größter Feind ist nicht das Coronavirus selbst, sondern Angst, Gerüchte und Vorurteile. Unsere stärksten Mittel dagegen sind Fakten, Verstand und Zusammenhalt.
(WHO Generaldirektor Tedros Ghebreyesus)
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