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Deming, Feng Shui und die Sterne

von Ingo Nöhr

Ingo Nöhr im Oktober 2023

Nachdruck vom Märzbeitrag 2013

Letzte Woche gab es also das historische ISO 9001-Spaghetti-Essen bei Jupp. Er wollte ja mit dieser Pilotaktion ein Qualitätsmanagementsystem in seiner esoterisch angehauchten Familie einführen, um praktische Erfahrungen für die Einführung in seiner Klinik zu sammeln.

 Getreu der PDCA-Regel von Deming hatte Jupp zunächst sein Pilotprojekt streng nach den Vorgaben der ISO 9001 geplant (PLAN), dann im Familienkreis umgesetzt (DO), und war nun bereit, das Feedback seiner Kundschaft entgegenzunehmen (CHECK). Danach wollte er in die Verbesserung seines Systems (ACT) ein­steigen, um die Qualitätsnorm in weitere Bereiche des Familienlebens einzuführen. Ich nahm als neutraler Beobachter an der entscheidenden Sitzung des QM-Mittagessens teil, war für die Dokumentation zuständig und hielt mich im Hintergrund.

Trotz guter Vorsätze und intensiver Vorbereitungen muss diese Premiere allerdings als höchst verbesserungswürdig angesehen werden. Denn es hagelte Zwischenfälle und Beschwerden von allen Seiten.

Das vorgesehene Dessert vom Sohnemann, ein Fan der Molekularküche, kam nicht zustande, da die jüngste Tochter mit dem flüssigen Stickstoff alle Orchideen auf der Fensterbank kunstvoll in Eisskulpturen verwandelt hatte. Er hatte sich daraufhin schmollend in sein Zimmer zurückgezogen.

Um die Kochzeit abzukürzen und seinen Beitrag zum Energiesparen zu demonstrieren, hatte Jupp einen Dampfdrucktopf verwendet. Leider wollte die mittlere Tochter neugierig in den Topf hineinschauen und verursachte dabei eine größere Explosion. Die Küche wurde in Sekundenschnelle in das Bühnenbild eines Horrorfilms a la Kettensägen-Massaker verwandelt. Das Mädchen verschwand schreiend für den Rest des Tages im nächstgelegenen Beautysalon.

Die Beschaffenheit der Spaghetti wurde den Kommentaren nach von den Teilnehmern sehr heterogen beurteilt: zu hart, zu weich, zu lang, zu kalt, zu weiß. „Sind da etwa Eier drin?“ fragte die vegane Tochter misstrauisch. Jupp hatte aber in der Vorbereitung gut aufgepasst: „Nein, reiner Hartweizen. Fast wie Kruppstahl. Du weißt doch, in italienische Nudeln gehören keine Eier hinein“

„Vielleicht ist aber der Weizen genmanipuliert?“ vermutete die Schwägerin, eine Anhängerin der amerikanischen Shepherd‘s-Diät. „Hast du schon mal von Monsanto gehört?“ – „Der ist vom Bauern im Nachbardorf, rein biologisch hergestellt. Exakt so, wie es die Bibel in 1 Moses 1:29 vorschreibt.“

„Wenn nicht der Weizen, dann aber bestimmt das Soja! Dafür wird der Regenwald abgeholzt!“ Die ältere Tochter versuchte sich zu erinnern, ob Weizen und Soja wohl mit ihrer Blutgruppendiät harmonieren würde.

„Sind die Tomaten etwa aus Holland? Die haben doch keinen Krümel Erde gesehen.“ Hier meldete sich die konsumkritisch denkende Ehefrau von Jupp. – „Nein, das sind glückliche Biotomaten aus Freiland­haltung!“ –

„Du weißt doch aber hoffentlich, dass China bald weltweit der größte Produzent von Bioprodukten ist? Ich sage nur: Kinderarbeit!“ - Jupp schaute etwas gequält drein: „Auf der Kiste waren keine chinesischen Schriftzeichen zu sehen, nur deutscher Text. Bei uns in Deutschland wachsen auch Tomaten! Und die Kinder sind alle in der Schule.“

Danach kam es Schlag auf Schlag von den anderen Vertretern der Gemeinschaft:

„Hast du das Nudelwasser auch vorher kosmoenergetisch aufgeladen?“ – „Habt ihr schon untersucht, ob unser Keramikgeschirr frei von radioaktiven Substanzen ist?“ – „Das Essen schmeckt einfach fad. Ist das etwa Meersalz? Weißt du, was da mittlerweile für ein Müll herum­schwimmt? Warum hast du nicht etwas von dem Himalaya-Salz genommen?“

„Ich habe es ja schon immer gesagt. Das kann ja nichts werden, wenn man vergisst, den Raum auszupendeln. Dieser Ort ist bestimmt verflucht. Der Esstisch steht vermutlich auf einer Kreuzung von Wasseradern, die schädliche Erdstrahlen aussenden.“ - „Und wann richten wir unsere Küche endlich nach Feng-Shui aus? Ihr müsst unbedingt die Lehre von den fünf Elementen beachten.“

Mit der Zeit steigerte sich die Unzufriedenheit zu einem handfesten Familienkrach mit den Kindern. Vor allem, als herauskam, dass Jupp für sich eine echte Fleisch-Frikadelle unter die Sojabuletten geschmuggelt hatte. Unverzeihlich. Durch diesen unseligen Kontakt hatte er die sensiblen Astralkörper seiner armen Kinder auf Jahre hinaus mit Aas kontaminiert und dadurch noch unabsehbare seelische Traumata erzeugt. 

Die gute Ehefrau fand abschließend ein paar tröstende Worte für Jupp: „Es ist nicht deine Schuld. Hast du schon in dein heutiges Horoskop geschaut? Skorpion-Aszendent und Pluto im 1. Haus. Eine ganz gefährliche Konstellation. Unter diesem Sternzeichen fanden jeweils die Attentate auf Olof Palme, Oskar Lafontaine und Theo van Gogh statt! Es ist einfach nicht der richtige Zeitpunkt.“

Und die ältere Tochter wartete mit einer interessanten Betrachtung über den Lebenslauf der Spaghetti auf: „Ich habe mir das Verpackungsdatum auf der Schachtel angeschaut. Das ent­spricht ja dem Geburtszeitpunkt der Spaghetti. Da starten dann alle drei Biorhythmen bei Null: der körperliche Rhythmus von 23 Tagen, der emotionale von 28 und der geistige von 33 Tagen. Heute, knapp drei Monate später, befinden sich alle drei Rhythmen nahe dem Übergangspunkt von negativ zu positiv. Weißt du nicht, Papa, dass dieser Zeitpunkt ganz beson­ders kritisch ist?“

„Na klar“, wagte Jupp einzuwerfen, um wenigstens etwas den Eindruck zu erwecken, dass er auch diesen Aspekt in seiner Planung gebührend gewürdigt hatte. „Das ist natürlich ein schlechter Tag für die Spaghetti. Schließlich werden sie ja heute von uns aufgegessen und dienen einem guten Zweck. Oder sollen wir sie lieber gleich am Verpackungstag verarbeiten, bevor sie ihren komischen Rhythmus entwickeln? “

„Mann, Papa. Wir sprechen von einem LEBENSmittel. Die Spaghetti sind biorhythmisch nach 7, 144 oder auch 235 Tagen in ihrer Bestform und erst dann bereit für die Transformation in eine höher­wertige Lebensform. Man muss aber natürlich noch das Horoskop an diesem Tag berück­sich­tigen.“

Zu diesem Zeitpunkt brach Jupp im allgemeinen Einvernehmen aller Beteiligten den Pilotversuch des familiären QM-Systems ab. Er hatte wohl augenscheinlich den falschen Tag ausgewählt. Er hoffte inständig, dass das Klinikpersonal in der Küche, dem Labor, auf den Stationen und in den Op-Sälen noch nichts von kosmischen Rhythmen und Feng-Shui-Vorgaben gehört hatten.

Jupp und ich setzten kurzerhand den Alternativplan B um und analysierten die Lage bei Bier und Pizza beim nächsten Italiener - unbeeinflusst von unseren Biorhythmen und kosmischen Sternenein­flüssen.

„Jupp, ich bewerte das Experiment durchaus als erfolgreich. Schließlich sind ja von deiner Familie in durchaus deutlicher Sprache eine Reihe von Verbesserungsmöglichkeiten angedeutet worden – ein gelungenes Feedback, würde ich sagen.“ Ich drückte mich diplo­matisch aus. Ein guter Auditor frustriert seine Kunden nicht gleich mit schlechten Nachrichten, sondern zeigt ihnen zunächst den Weg zur Optimierung auf.

Ich fuhr konstruktiv fort. „Sicherlich müssen wir noch stark an der Zielsetzung arbeiten. Die Qualitätsziele sind an­scheinend noch nicht allen Familienmitgliedern ausreichend vermittelt worden.“ Jupp biss etwas trübsinnig in seine fetttriefende Salami-Pizza, auf der langsam der Analog-Käse vor sich hinschmolz. Vermutlich enthielt seine Wurst eine gehörige Portion rumänisches Pferde­fleisch. Der Gaul war bestimmt unter dem Attentat-Sternzeichen geboren worden. Gut, dass seine Familie uns hier nicht sehen konnte.

„Möglicherweise hast du bei deiner Qualitätsplanung einige Spezifikationen nicht aus­reichend berücksichtigt, Jupp. Du solltest zusätzlich zur Grünen Woche noch die nächste Esoterik-Messe besuchen. Danach kannst du in der Ursachenforschung zusätzlich die Sternbild­einflüsse sowie alle schädlichen Einwirkungen von Erdstrahlen und bösen Geistern mit einbe­ziehen.“

Damit konnte ich die Laune von Jupp nicht wesentlich verbessern. Zu tief saß die Schmach seines Scheiterns. „Ach was, Ingo. Da werde ich ja verhungern, bis alle Parameter und Rahmenbedingungen optimal eingestellt sind. Ich habe jetzt erstmal die Nase voll mit diesem Projekt. Als nächstes wollte ich ja eigentlich in der nächsten Stufe ein Hygienemanagement und eine Risikoanalyse für alle Arbeitsplätze im Haus ein­füh­ren. Aber das muss jetzt warten. Ich habe auch noch andere Aufgaben zu erledigen. Auf meinem Schreibtisch wartet ein 210 Seiten dicker Entwurf auf meine Kommentierung. Der dürfte dich auch interessieren.“

Mit diesen verheißungsvollen Worten von Jupp möchte ich das Kapitel unseres Pilotversuchs vorerst beenden. Was es mit dem dicken Entwurf auf sich hat, erfahren Sie im nächsten Blog. Bis dahin wünsche ich guten Appetit.

Ingo Nöhr

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„Manche Leute können super kochen, andere perfekt backen.
- Ich kann ganz toll essen.“

„Wollte gerade Essen kochen. Erster Satz im Rezept: Man nehme einen sauberen Topf.
- Hab dann Pizza bestellt.“

 

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