Das Jahr der Besten aller möglichen Welten
von Ingo Nöhr
„Es ist erwiesen,“ sagte Meister Pangloss, „dass die Dinge nicht anders sein können, denn da alles zu einem Zwecke erschaffen worden ist, geschah es notwendigerweise zu einem besten Zwecke.“ So begann für die beiden pensionierten Krankenhausstrategen Ingo Nöhr und sein Freund Jupp das Jahr 2016 mit einem Zitat aus Voltaires „Candide und die Beste aller möglichen Welten“. Es war die Geburtsstunde des Optimismus bei Ingo als Kontrast zum pessimistischen Jupp. Ingo wollte sich einfach nicht mehr über die Schlechtigkeit der Welt ärgern und machte sich auf die Suche nach dem Guten im Schlechten. Beide halten noch etwas verkatert in ihrer Stammkneipe eine Rückschau.
Ach, Ingo, du musst doch zugeben - 2016 war ein außergewöhnliches Katastrophenjahr: …. Brexit und andere drohende Exits, ausgeflippte Staatslenker wie Donald Trump und Erdogan, IS-Terror in Deutschland, Horrorkrieg in Syrien, Betrugssoftware bei VW und anderen, Milliardenstrafen für deutsche Banken, systematisches Doping bei den letzten Olympiaden. Manno-mann! Unsere Fußballhelden entpuppen sich als Steuerbetrüger, IT-Hacker erpressen Krankenhäuser, Helios- und Asklepios-Kliniken mit ihren 12% Renditezielen landen als Qualitätsskandale in den Medien.
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Jupp, das ist wirklich eine beeindruckende Auflistung, die sich sicherlich noch endlos erweitern lässt. Darf ich dagegen den alten Albert Einstein zitieren? Wenn's alte Jahr erfolgreich war, dann freue dich aufs Neue. Und war es schlecht, ja dann erst recht.
Ingo, vor genau einem Jahr hast du dich zum Optimisten gewandelt. Ich darf dich mal zitieren: „Ich jedenfalls will wieder fröhlicher in die Welt schauen können. Ein Optimist ist ein Mensch, der alles halb so schlimm oder doppelt so gut findet. Das erhöht doch die Lebensfreude. Deshalb habe ich mir vorgenommen, in allem Schlechten das Körnchen Gute zu finden.“ Wie siehst du denn das Jahr 2016 heute? Wo waren die guten Körnchen? Und was förderte deine Lebensfreude?
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Mein lieber Jupp, da darf ich dich auch mal zitieren. Du sahst vor einem Jahr „nur noch Katastrophen, Dilettantismus, Geldgier und Staatsversagen. Probleme werden nur noch ausgesessen, Lösungen auf die Zukunft verschoben. Oder man verschließt gleich ganz die Augen und ignoriert die Lage.“ Du hast ja recht. Aber in 2017 kann man die Lage nicht länger ignorieren, die Probleme lassen sich nicht mehr aussitzen. Wir haben fünf Wahlen: den Bundespräsidenten, drei Landtage und den Bundestag.
Ja, da sieht man heute schon die Politiker zittern. Die SPD kommt aus ihrem tiefen Loch nicht heraus und die Merkel-CDU verliert immer mehr Mitglieder an die AfD, die dann wohl die drittgrößte Partei im Bundestag sein wird. Das Internet wird durch unzählige Fakenews und ungestrafte Hassbotschaften zu einem alternativen Pressemedium. Der sogenannten Lügenpresse wird nicht mehr geglaubt. Das Vertrauen in die geordneten Strukturen und Abläufe unserer Gesellschaft verschwindet.
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Richtig beobachtet, Jupp. Die althergebrachten Mechanismen funktionieren nicht mehr. Aber - das Jahr 2017 bietet durch das Aufbrechen der verkrusteten Strukturen viele Chancen zur Verbesserung der verfahrenen Situation. Was Griechenland nicht geschafft hat, - nach Brexit denkt man endlich über ein neues Europa nach. Die Betrüger bei den Banken und Autoherstellern müssen für ihre bislang ungebremste Geldgier empfindlich hohe Strafen bezahlen. Donald Trump reißt liebgewonnene Vorstellungen von Aufrichtigkeit, Fairness und Toleranz ein und zerstört radikal die bisherige Amerikapolitik, ohne Rücksicht auf das internationale Ansehen. Die grenzenüberschreitenden Terroranschläge und eine misslungene Integrationspolitik entlarven das systematische Behördenversagen in unseren föderalen und nationalen Strukturen. Die Digitalisierung schreitet gewaltig voran und tritt unsere deutsche phlegmatische Wirtschaft ordentlich in den Hintern.
Aber schau mal auch in unsere Branche, die Gesundheitswirtschaft. Krankenhaus 4.0 mit Industrie 4.0! Nur jedes vierte Krankenhaus hat überhaupt eine Digitalstrategie entwickelt. Der Gesetzgeber wird dennoch nicht müde, ständig neue Regelungen zu erlassen. Seine Hilfslosigkeit spiegelt sich schon in den Namen: Pflege-Neuausrichtungsgesetz, erstes und zweites Pflegestärkungsgesetz, GKV-Finanzstruktur- und Qualitätsweiterentwicklungsgesetz, GKV-Versorgungsverstärkungsgesetz, Arzneimittel-Versorgungsverstärkungsgesetz, Krankenhaus-Strukturreformgesetz und viele weitere Monstren. Der Effekt ist doch, dass keiner mehr die Regularien lesen und damit nachhaltig umsetzen kann. Wozu auch, es kommen ja in Kürze schon wieder neue Gesetze, welche die schädlichen Nebenwirkungen der vorherigen reparieren sollen.
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Ja, Jupp, es tut sich doch etwas. Ab ersten Januar haben wir statt drei Pflegestufen nun fünf Pflegegrade. Aber hat unser Gesundheitsminister damit das grundlegende Personalproblem gelöst? Den massiven Mangel an Pflegekräften will Gröhe nun durch Flüchtlinge mindern. Dabei beträgt der Anteil von Migranten in den Pflegeberufen schon jetzt rund 20 Prozent. Das zur Schaffung von einer Million dringend benötigter Pflegekräfte, seit 2014 diskutierte, aber immer noch stark umstrittene Pflegeberufegesetz soll irgendwann, aber möglichst noch vor der Bundestagswahl kommen. Jetzt wurde es sogar dem Bundesrat zu bunt: in der letzten Sitzung des Jahres 2016 forderte er die Beschleunigung des Gesetzgebungsverfahrens.
Vielleicht greift vorher das beliebte Konzept des „Oma-Exports“: man verschickt die Pflegebedürftigen kostengünstig nach Spanien oder Polen in dortige Pflegeheime, wo das Wetter besser oder die Pflegekräfte motivierter sind. Überhaupt könnten die Krankenkassen jährlich 18 Milliarden Euro einsparen, wenn sie ihre Patienten ins europäische Ausland schicken würden, wo die Behandlungen bei gleicher Qualität und Leistung durch niedrigere Kosten bei Personal und Material durchschnittlich 25% günstiger sind.
Klar, dies könnte unseren Kliniken den Finanzstress mindern. Wir schicken die finanziell uninteressanten Patienten alle ins Ausland und holen dafür die Reichen der Welt zu uns. 2014 ließen sich mehr als 250.000 Patienten aus 176 Ländern stationär oder ambulant in Deutschland behandeln. Das brachte uns 1,2 Milliarden Euro ein.
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Nicht wahr, Jupp. Es ist doch erstaunlich, dass unsere Krankenhäuser trotz der Mängelverwaltung international noch eine so hohe Reputation genießen. Die Bemühungen des Staates, das komplex-dynamische System des Gesundheitswesens mit planwirtschaftlichen Mechanismen in den Griff zu bekommen, werden dagegen immer verzweifelter. Durch die Lobbyhörigkeit seiner Abgeordneten ist der Staat den Interessen der großen Marktspieler hilflos ausgesetzt, - die schreiben die Gesetze ja mittlerweile schon selbst.
Nachdem der Europäische Gerichtshof die deutsche Preisbindung für per Internet im Ausland bezogene verschreibungspflichtige Arzneimittel aufgehoben hat, will Gröhe mit einem schnellen Gesetz seine 20.000 Apotheker gegen ausländische Versandapotheken schützen. Und wie reagiert der Internet-Versandhandel? Der britische DrEd führt seit fünf Jahren per Telemedizin über 200.000 Stunden Fernbehandlung für Deutsche inklusive Rezeptausstellung durch. Und DocMorris richtet gerade im Odenwald in einem Dorf ohne Apotheke einen „digitalen Beratungsservice mit Abholfunktion für Arzneimittel“ ein, alles ohne Personal vor Ort.
Und die Medizintechnik? Ab 1. Januar 2017 gilt schon eine neue Betreiberverordnung mit vielen Änderungen. Jedes Krankenhaus muss nun einen Beauftragten für die Medizinproduktesicherheit benennen. Der hat auch die Kontrollaufgaben und Meldepflichten des Betreibers zu koordinieren, der jetzt das Recht und damit die Verantwortung hat, seine sicherheitstechnischen Kontrollen in eigener Regie festzulegen. Hoppla – jetzt muss er plötzlich selbst über die Produktesicherheit nachdenken. Fragt sich nur, wo der nötige Sachverstand im Hause noch herkommen soll, nachdem er in der Vergangenheit möglichst alle Dienste an Billigstanbieter „outgesourct“ hat. Dieses Jahr treten außerdem zwei je 200-seitige EU-Verordnungen zu Medizinprodukten und Invitro-Diagnostika mit sofortiger Gültigkeit in Kraft. Kurzum – der Regulierungsdruck auf unsere Klinik- und Wirtschaftsmanager wird zunehmend unerträglich – vor ständiger Gesetzlektüre und Change-Management kommen die nicht mehr zum Arbeiten.
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Das liegt doch an unserem preußischen Verständnis von der Obrigkeit. Gebt uns klare Vorschriften, dann müssen wir nicht mehr nachdenken. Und wenn was schiefläuft, heißt es gleich: „wir haben uns aber an die Vorschriften gehalten“. Die Bankster argumentieren: „war doch nicht klar genug verboten“ und die VW-Manager sind der Überzeugung, dass der Betrug in Europa gestattet war. Und der Gesundheitsminister hat gerade sein viertes Qualitätsinstitut aus der Taufe gehoben.
Apropos Qualität: Das neue ISO 9001-Konzept von 2015 mit dem Risikomanagement hält Einzug in alle Zertifizierungs- und Akkreditierungsnormen. Ab 14. September 2018 sind alle alten ISO 9001:2008 Zertifikate ungültig, dabei hatten sich unsere Unternehmen gerade so schön an die alten Normenforderungen gewöhnt und qualitätsmäßig auf die Auditorenwünsche eingerichtet.
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Jupp, ich erinnere mich noch gut an den Januar 2013. Da hattest du beschlossen, ein ISO 9001 Qualitätsmanagementsystem bei dir zu Hause einzuführen. Dein Plan ist ja leider aus familiären Gründen gescheitert. Und über das individuelle Risikobewertungsverfahren haben wir im Dezember 2014 diskutiert: Risiken durch mangelnde Hygiene im Konflikt zu Risiken wegen finanzieller Engpässe. Überhaupt: wir Menschen sind doch überhaupt nicht in der Lage, Risiken objektiv einzuschätzen. Jährlich sterben bei uns über 3000 Menschen am Passivrauchen sowie 3500 bei Verkehrsunfällen. Übertrage mal dieses Todessoll auf Zugunglücke, Flugzeugabstürze, Amokläufer oder Terroranschläge. Jeden Tag acht solcher Meldungen in den Nachrichten – was dann los wäre in der Gesellschaft!
Aber genau deswegen werden verschärfte Kontrollen immer wichtiger. Die Menschen sind doch in hohem Maße unvernünftig und jemand muss ihnen die Grenzen aufzeigen. Und gerade jetzt gilt: Sicherheit vor Freiheit!
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Unser geschätzter Freund Johann Wolfgang von Goethe hat mal auf die Frage, welche Regierung die beste sei, geantwortet: Diejenige, die uns lehrt, uns selbst zu regieren. Warum also Kontrolle? Dem Machtmenschen ist Kontrolle das Wichtigste, denn die Wurzel des Bedürfnisses nach Kontrolle... ist Angst. Die Terrorangst führt direkt zur George Orwells Big Brother-Kontrolle: „Wir leben in einem Albtraum, gerade weil wir uns das irdische Paradies einrichten wollten.“ Also mehr Videoüberwachung mit automatischer Gesichtserkennung, Telefon- und Internetüberwachung mit längerer Vorratsdatenspeicherung, mehr Geheimdienstbefugnisse.
Die Mächtigen gelangen allmählich durch die Komplexität der digitalen Welt an ihre Grenzen: Der Attentäter Anis Amri reiste trotz 15.000 Videokameras in Berlin, europäischer Intensivfahndung und französischem Ausnahmerecht drei Tage lang unbehelligt durch die Niederlande, Frankreich und Italien und wurde nur zufällig durch eine Polizeikontrolle aufgegriffen. Je fortgeschrittener die Technologien sind, desto schwieriger wird die Kontrolle des Missbrauchs.
Ohne wirksame Appelle an die Ethik kann der Gesetzgeber den Kampf um Ordnung langfristig nicht gewinnen. Aber wo sind die moralischen Grundsätze in unserem „christlichen Abendland“ geblieben? Seht zu und hütet euch vor aller Habgier; denn niemand lebt davon, dass er viele Güter hat. So steht es bei Lukas 12,15 in der Bibel. Und heute? Die Gier ist das Muttertier vom Goldenen Kalb, Börsen sind die neuen Tempel, Milliardäre deren Hohepriester, Geiz ist geil. Ethische Ziele wurden ins Negative verzerrt: Gewalt als Handlungsoption, Waffen als Machtinstrumente, Betrug als Kavaliersdelikt, Lustbefriedigung als Lebensziel.
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Jupp, der alte Konfuzius hatte schon vor 2500 Jahren erkannt: Vor drei Dingen soll der edle Mensch sich hüten: Solange er noch jung ist und seine Kräfte noch nicht gefestigt sind, hüte er sich vor der Liebeslust. Wenn er in voller Mannesblüte steht und seine Kräfte ausgereift sind, hüte er sich vor der Streitsucht. Ist er alt geworden und verlassen ihn seine Kräfte, so hüte er sich vor Habsucht.
Ingo, das sind wahre Worte. Die Liebeslust haben wir schon hinter uns, der Streitsucht fallen wir nicht anheim, obwohl du so ein verdammter Optimist bist. Und unsere Habsucht konzentriert sich auf ein friedliches und unschuldiges Maß Bier. Also lass uns das neue Jahr mit neugieriger Gelassenheit erwarten. Der Gesprächsstoff wird uns sicherlich nicht ausgehen.
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Gut gesprochen, Jupp.
Herr Wirt, wir sind süchtig nach unserem Neujahrsbier. Auf dass uns deine Wirtschaft 1.0 trotz aller Umbrüche noch lange erhalten bleibe. Prost!
(Johann Wolfgang von Goethe, 1749 - 1832)
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