Corona als Wahrheitsdroge
von Ingo Nöhr
Die Menschen stehen erstaunt vor den Enthüllungen der letzten Monate, hervorgerufen durch ein widerspenstiges Kleinstlebewesen namens Corona. Unzählige Defizite in der Politik, im Gesundheitswesen, im Bildungssektor, im Ernährungsbereich und im menschlichen Verhalten wurden plötzlich aufgedeckt. Die meisten Erkenntnisse waren uns schon vorher bekannt, aber wir haben sie lieber ignoriert, verschwiegen oder darüber hinweggesehen. Der Strom kommt bekanntlich aus der Steckdose, die Medikamente aus der Apotheke, das Fischstäbchen aus der Tiefkühltheke und das superbillige Steak aus dem Supermarkt. Wie alles dorthin gekommen ist, wollten wir lieber nicht wissen. Lediglich das zunehmend verrücktspielende Wetter stört uns bisweilen – und zunehmend auch die beiden Krankenhausstrategen Ingo Nöhr und sein Kumpel Jupp bei ihrem monatlichen Stammtisch.
Hallo, mein lieber Freund Ingo. Ich freue mich sehr, dass wir uns auch diesen Monat wieder persönlich begegnen können. Was haben wir für ein Glück, dass wir nicht in der Nähe eines großen Schlachtbetriebes wohnen. Jetzt erleben wir das „Fukushima der Fleischbranche“.
- Ja, Jupp. Angesichts der vielen unappetitlichen Nachrichten aus der Fleischproduktion wäre es endlich mal an der Zeit, Vegetarier zu werden. Dabei haben wir es doch schon lange gewusst, über viele Jahre wurde über die Zustände berichtet. Der Einzelhandel hat zum Thema „Geiz ist geil?“ mal ein Plakat gedruckt: „Gut! Wo wollen Sie zuerst sparen? An der Qualität, bei der Auswahl, bei der Beratung oder beim Service? Wir bieten alles. Billig sind andere …“ Aber wir Verbraucher haben uns ja immer bei einem billigen Schnäppchen gefreut. Selbst die vielen Lebensmittelskandale der letzten Jahre haben nur wenig zum Umdenken beigetragen.
Ingo, wahrscheinlich haben wir uns zu sehr auf die Politiker und die Aufsichtsbehörden verlassen. An die großen Unternehmen traute sich keiner so richtig ran – too big too fail. Deutsche Bank, VW und Konsorten, Tönnies, jetzt Wirecard – die Skandale werden kein Ende nehmen, solange die verantwortlichen Aufseher ihren Job nicht machen. Da muss erst die EU-Kommission oder der amerikanische Verbraucherschutz in Aktion treten, um den deutschen Behörden mal ordentlich in den Hintern zu treten.
- Es liegt wohl auch an unserem Schönwetter-Management in den Top-Etagen der deutschen Industrie. Jupp, hättest du gedacht, dass wir die Lufthansa mit 9 Milliarden Euro vor dem Bankrott retten müssen? Die Autolobby tatsächlich daran glaubte, eine fette Kaufprämie einfordern zu können? Das jähe Erwachen des gemästeten Truthahns am Erntedankfest ist eingetreten, unsere schön zurechtgezimmerte Welt ist brutal zusammengebrochen. Wie nannte Nassim Nicholas Taleb sein Buch „Der schwarze Schwan“ im Untertitel: „Die Macht höchst unwahrscheinlicher Ereignisse“! Das ist die „Neue Normalität“, von der Angela Merkel prophetisch gesprochen hat.
Ja, die Propheten haben es heutzutage schwer, wenn sich die Wirklichkeit nicht an ihre Visionen orientieren will. Vor wenigen Monaten verkündete Amerika-First Präsident Trump seinen Untertanen: „Wir haben es völlig unter Kontrolle … ein sehr kleines Problem – fünf. Und all diese Menschen erholen sich erfolgreich. Wie eine normale Grippe, gegen die wir Impfungen haben.“. Dann kam seine Erkenntnis Mitte März: „Ich habe immer gewusst, dass das eine Pandemie ist … lange bevor es als Pandemie bezeichnet wurde.“ Nun bei gegenwärtig 2,5 Millionen Infizierten und 125.000 Toten, die er dummerweise nicht mehr unter den Teppich kehren kann, lautet seine Lösung: einfach weniger messen, dann fällt sein katastrophales Missmanagement nicht mehr auf. Eigentlich logisch: wenn er nicht mehr testet, hat er auch keine nervigen Corona-Fälle. Daher will er auch die verhasste Krankenversicherung Obamacare abschaffen. So möchte er rechtzeitig vor den Wahlen im November die amerikanische Wirtschaft in Gang bringen und mit ihren Höchstleistungen brillieren. Vorher infiziert er seine Fans in Wahlveranstaltungen noch gründlich mit dem Coronavirus.
- Vielleicht will er bei seinen Republikanern mittels Durchseuchung die totale Grundimmunisierung vorantreiben. Es gibt leider noch etliche andere Regenten in der Welt, die Donald Trump nacheifern. Jupp, schau mal nach Brasilien. Oder in Tansania, da hat der Staatspräsident mit Gottes Hilfe sein Land für Corona-befreit erklärt und seit April einfach keine Fälle mehr an die WHO gemeldet. Seine Nachbarländer haben wohl zu wenig gebetet und kämpfen immer noch mit mehreren Tausend entdeckten Infizierten.
Ja, genauso ist es, Ingo. In der Corona-Pandemie zeigt sich, dass die Wahl von Populisten in die Regierung eine große Gefahr für Leib und Leben der Bevölkerung hervorrufen kann. Andererseits kämpfen viele ernsthafte Politiker in den ärmeren Staaten in Asien und Lateinamerika verzweifelt mit der Armut und der maroden Infrastruktur im Gesundheitswesen. In Mexiko, Chile und Peru ist die Versorgung komplett zusammengebrochen. Wir werden letztendlich wohl nie erfahren, was für ein gewaltiges Blutzoll Covid-19 weltweit verursacht hat.
- Ich befürchte, Jupp, die Corona-Pandemie war nur ein kleines Vorspiel zu den Szenarien, die uns in den nächsten Jahren blühen. Corona-Viren haben schon ab 1889 eine weltweite Pandemie ausgelöst. Edvard Munch malte 1893 mit dem Bild „Der Schrei“ eine Ikone des Schreckens, möglicherweise inspiriert durch seine Eindrücke von der gerade grassierenden Russischen Grippe, die schätzungsweise eine Million Tote verursachte. Das heutige Corona-Virus mutiert unentwegt, etwa zwei Mutationen pro Monat wurden beobachtet. In einer Datenbank sind bereits 200 Veränderungen im Genpool des Virus verzeichnet. Das erschwert naturgemäß die Entwicklung eines universal wirksamen Impfstoffes.
Ingo, das hört sich wahrhaft apokalyptisch an. Müssen wir bald in einem Ganzkörperkondom herumlaufen? Wo bleiben denn die großen Versprechungen der Gentechnologie? Können wir nicht künstliche Corona-Fresser konstruieren? Oder mit Nanorobotern im Blut alle schädlichen Viren eliminieren? Wann bringt uns die Künstliche Intelligenz die endgültige Lösung?
- Ich fürchte, Jupp, diese Innovationen können gegen die Dummheit der menschlichen Intelligenz nicht ankommen. Durch unseren unmäßigen Ressourcenhunger rücken wir den tropischen Gegenden zu Leibe, um sie in Palmölplantagen zu verwandeln. Dabei setzen wir exotische Krankheitserreger frei, mit denen wir sonst niemals in Kontakt treten würden. Die Globalisierung hat die Welt in ein Dorf verwandelt, indem sich alle möglichen gefährlichen Keime einnisten können. Sie finden in uns geschwächte Wirte vor. Durch die Luftverschmutzung schädigen wir unsere Lungen, kaum erforschte Chemikalien nehmen wir über Lebensmittel und Kosmetika auf. Wir füttern uns permanent mit Antibiotika, essen und trinken immer mehr Mikroplastik, Nanopartikel wandern in unser Gehirn. Dies wissen wir alles seit Jahren und ständig wird in den Medien darüber berichtet.
Anscheinend leben wir wie der Frosch in einem Topf, unter dem ein Feuer stetig die Temperatur erwärmt. Noch ertragen wir alles, weil wir ausreichend Zufriedenheit erleben und uns die Situation schönreden. Aber die Irritationen werden größer und die Jugend wacht auf. Sollte uns die Pandemie endlich zum Umdenken anregen? Ingo, kommt jetzt der Moment, wo deine Vorhersagen sich erfüllen und das auf permanentem Wachstum beruhende Wirtschaftssystem kollabiert? Krabbelt demnächst der Phönix-Vogel aus seiner Asche?
- Da spricht wieder der Pessimist in dir, lieber Jupp. Ich glaube, die Menschheit hat sich aus vielen, oft selbstverschuldeten Schlamasseln wieder irgendwie herausgewurschtelt. Denke nur an die beiden Weltkriege oder den Kalten Krieg, Natürlich haben wir fürchterlich Lehrgeld bezahlt und viel Leid verursacht. Aber irgendwie haben wir noch immer die Kurve gekriegt und sind nicht ausgestorben, obwohl wir von der Natur als gefährlichster Parasit der Welt eingeordnet werden.
Es sieht so aus, Ingo, als würden wir mit unserer unersättlichen Gier der Natur behilflich sein, uns endlich loszuwerden. Wie sagte doch Albert Schweitzer einmal: „Wir leben in einem gefährlichen Zeitalter. Der Mensch beherrscht die Natur, bevor er gelernt hat, sich selbst zu beherrschen.“
- Das Umweltbewusstsein nimmt dank der aufgewachten Jugend zu. Die positiven Auswirkungen der Lockdowns auf die Natur haben uns die Augen geöffnet: saubere Flüsse, reine Luft, neugierige Tiere in unseren Städten – die Erde atmet für ein paar Sekunden auf. Aber sie zeigt auch ihre schweren Verletzungen. Du hast sicherlich von der großen Umweltkatastrophe in Russland gehört, als durch einen leckgeschlagenen Tank 21.000 Tonnen Diesel in ein Flusssystem gelangt sind. Über die eigentliche Ursache ist zu wenig berichtet worden. Die Anlage stand immer stabil auf Permafrostboden. Als der durch den Klimawandel auftaute, geriet der Tank in eine Schieflage und riss. Denn seit Wochen herrschen in Sibirien Rekordtemperaturen von über 30 Grad Celsius. Pipelines und Gebäude standen immer auf gefrorenem Boden, jetzt versinken sie langsam, aber unaufhaltsam im Schlamm. Gewaltige Mengen von Treibhausgasen werden freigesetzt, die Umweltkatastrophe mit weltweiten Auswirkungen ist abzusehen. Es stimmt: der Mensch hat viele Fähigkeiten, aber das größte Talent entwickelt er bei der Vernichtung der Natur.
Ja, Ingo, die Warnzeichen sind nicht mehr zu übersehen. Lass uns die verbleibende Zeit noch in unserer „Insel der Seligen“ verbringen und auf wirksame Lösungen hoffen. Herr Wirt, bringen Sie uns bitte noch zwei Bier, damit wir auf die Genesung unserer kleinen Welt anstoßen können.
- Gut gesprochen, Jupp. Auf dass die Coronakrise etwas zur Eindämmung der menschlichen Dummheit beträgt und wir die Hoffnung nicht aufgeben. Prost.
Vaclav Havel, Präsident der Tschechischen Republik, in einem Pressegespräch vor einer entscheidenden Konferenz zur Verhinderung eines Krieges im ehemaligen Jugoslawien, bei der er den Vorsitz führte: „Exzellenz, sind Sie ein Optimist?“ Lange Pause.
„Nein, ich bin kein Optimist in dem Sinn, dass ich glaube, es wird alles gut gehen; ich bin aber auch kein Pessimist in dem Sinn, dass ich glaube, es wird alles schlecht ausgehen. Ich empfinde Hoffnung. Denn ohne Hoffnung wird es keinen Fortschritt geben. Hoffnung ist so wichtig wie das Leben selbst.“
(Zitat aus dem Vorwort: 2052 – Der neue Bericht an den Club of Rome. Eine globale Prognose für die nächsten 40 Jahre. Jorgen Randers, 2. Auflage 2013)
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