Alle anzeigen

Big Data oder Big Brother?

von Ingo Nöhr

Wir danken dem Verlag MEDI-LEARN.net GbR für die freundliche Erlaubnis, Cartoons von Rippenspreizer verwenden zu dürfen. Mehr Cartoons sind unter http://www.medi-learn.de/cartoons/ zu finden.
Vielen Dank MEDI-LEARN.de!

So stolz hatte ich Jupp schon lange nicht mehr bei unseren monatlichen Treffen in der Eckkneipe angetroffen. Er platzte fast vor Mitteilungsbedürfnis. Ich konnte mich also wieder auf einen interessanten Abend freuen.

Hallo Ingo, ich bin jetzt wieder ganz an der vordersten Front der technologischen Entwicklung angekommen.

  • Wie das denn? Hast du deinen Denkapparat mit einem implantierten Brain-Chip aufgemotzt? Oder ist dein Heim jetzt komplett computerisiert und voll mit Robotern besiedelt? Fährt dich jetzt schon ein selbstfahrendes Google-Auto spazieren?

Ach Ingo, die Fantasie geht mal wieder mit dir durch. Beim Computerauto warte ich noch auf die deutschen Autohersteller. Die brauchen immer etwas länger, aber dann sind sie gründlich bei der Sache. Gerade wurde in der Zeitung gemeldet, dass BMW, Daimler und Audi jetzt mit einer einheitlichen Schnittstelle für die Vernetzung von Autos gemeinsam auf die Datenautobahn wollen. Nokia ist wieder mit von der Partie, sie haben wohl hochpräzise Straßenkarten entwickelt. Und stell dir vor, bald werden sich die Autos über diese Schnittstelle gegenseitig informieren. Die reden dann miteinander.

  • Jupp, das kann ich mir gerade lebhaft vorstellen: Auf der Autobahn schreit dein dickes Auto meinen Toyota an: „Hey, du billiger Karren, mach mal Platz. Hier kommt ein BMW der neuesten Generation.“ Und wenn ich mal auf einen freien Parkplatz einbiegen will, meldet sich plötzlich das Auto nebenan: „Blödmann, hier ist besetzt. Mein Kumpel von Audi ist in vierzig Sekunden hier. Ich halte ihm diesen Platz hier frei. Verschwinde!“

Das wäre doch toll, oder? Ich muss mal bei Volkswagen nachfragen, ob die meinen alten Golf auch so nachrüsten können. Und ich bin mir aber sicher, die werden sich zivilisierter aufführen. So etwa: „Sehr geehrtes Automobil vor mir: Würden Sie bitte etwas zur Seite fahren? Ich müsste sonst bremsen und damit würde ich wertvolle Energieressourcen verschwenden und die Luft aufheizen. Denken Sie bitte an die Umwelt und machen Sie sofort Platz für mich!“

  • Oh, Jupp, du hast die Hacker vergessen. Ich miete mir einen, der bastelt mir dann einen Sender. Damit hacke ich mich in dein System ein und lass dich einfach eine Vollbremsung machen. Danach programmiere ich deine Elektronik auf die maximale Geschwindigkeit von 100 km/h um. Und als Letztes sichere ich dein System mit meinem Passwort, was du dir dann bei mir gegen ein Jahresabo für unsere Kneipenessen abholen kannst. Was hältst du von dieser Version? Unrealistisch? Vor kurzem haben zwei Hacker per Laptop im Wohnzimmer über Internet die Kontrolle über einen kilometerweit entfernten Jeep Cherokee übernommen und haben den Motor ausgeschaltet. Sie hätten auch die Bremsen deaktivieren können. Und bei 2,2 Millionen BMWs konnte man seit 2010 mit etwas Elektronikzubehör das ConnectedDriveSystem manipulieren.

Nun ja, Ingo, du hast ja Recht. Momentan müssen die alle noch an der IT-Sicherheit arbeiten. Die Hackerbrut macht vor nichts Halt: Narkosegeräte, Flugzeugsteuerung, sogar das Netz des Bundestages musste stillgelegt werden. Und die Daten in den Clouds werden sofort von den amerikanischen, russischen und chinesischen Geheimdiensten ausgewertet. Datentechnisch kannst du keinem mehr vertrauen.

  • Besonders peinlich war es, als die das Seitensprungportal Ashley Madison gehackt haben. Stell dir mal vor, Jupp: 30 Millionen Männer waren dort auf der Suche nach einem One-Night-Stand. Deren Namen kannst du jetzt öffentlich im Internet lesen. Dabei kam heraus, dass statt der versprochenen 5 Millionen Frauen nur 12.000 weibliche Profile echt sind. Betrogene Betrüger. Hoffentlich stehst du nicht auch auf der Liste, Jupp.

Blödsinn Ingo, ich bin mit meiner Frau ganz zufrieden. Seitensprünge produzieren doch nur permanenten Stress. Aber du liegst nicht ganz falsch, was meine Computerisierung angeht. Ich habe mir das neueste Laptopmodell mit Windows 10 zugelegt. Du hängst ja wohl noch bei Windows 97 herum, oder hast du schon auf XP umgestellt, du alter Knacker?

  • Dich muss ich jetzt wohl Computer-Nerd nennen, etwa Nerdy-Jupp oder so? Das passt doch gar nicht zu dir. Ein bisschen moderner bin ich schließlich auch. Als Microsoft seine Unterstützung für XP beendet hat, bin ich auf Windows 8 umgestiegen. Aber damit habe ich mir anfangs nur Ärger eingehandelt. Die meisten Dateien waren nicht direkt kompatibel. Und du bist nun dank Windows 10 stolzer Datenlieferung für Microsoft, Google, Apple und Konsorten geworden. Gratuliere zum gläsernen Status. Du hast jetzt zu Hause eine private Abhöranlage installiert, bist dadurch erpressbar und manipulierbar geworden.

Was meinst du denn damit? Ich lasse meinen Computer nicht hacken, da habe ich jede Menge Antivirusprogramme darauf laufen. Mein Password ist zwanzig Zeichen lang und abends ziehe ich immer den Stecker heraus.

  • Das hilft dir nicht viel. Du machst dich selbst gläsern. Unser Gesundheitsminister schätzt, dass mittlerweile eine halbe Million Deutsche internetsüchtig sind. Die Drogenliste ist wohlbekannt: WhatsApp, Youtube, Twitter, und so fort. Facebook meldet gerade eine Milliarde Besucher pro Tag. Und alle senden freiwillig ihre persönlichen Daten an die amerikanischen Rechenzentren. Hast du mal die AGBs von WhatsApp gelesen? Gibt es nur in Englisch. Du trittst alle Verwertungsrechte an deine Texte, Bilder und Videos unwiderruflich an Facebook ab, unterwirfst dich dem kalifornischen Recht und verzichtest auf deine nationalen und europäischen Datenschutz- und Copyrightrechte. Nebenbei erfährst du auch, dass die Benutzung erst ab einem Alter von 16 Jahren erlaubt ist.

Also Ingo: Ich entscheide doch letztendlich, ob ich diese Programme aufrufe und nutze. Nicht angeklickt heißt nicht aktiv, oder? Also schicke ich auch keine Daten rüber über den Teich. Ganz einfach. Die Geheimdienste bekommen nichts mehr von mir, seit ich durch Edward Snowdon weiß, dass fast eine Million Menschen einen legalen Zugriff auf die Datenbanken der NSA haben.

  • Jupp, das war mal. Die Verbraucherschützer stehen zurzeit in höchster Alarmbereitschaft. Mit den Standardeinstellungen von Windows 10 erlaubst du automatisch die permanente Übermittlung von: Standort, Kontakte, Suchaufrufe, Kalendereintragungen, Schreibverhalten, App-Nutzungen und vieles mehr. Dein Name, Alter, Geschlecht, Adresse, Kaufverhalten und deine Vorlieben für Webseiten lieferst du frei Haus an Microsoft. Nebenbei gewährst du Windows 10 standardmäßig einen Zugriff auf deine Webcam und das Mikrofon. Die Übertragung von Diagnose- und Nutzungsdaten kannst du nicht abschalten, sondern nur etwas einschränken, wenn du endlich herausgefunden hast, wo die entsprechenden Einstellungen versteckt sind. Updates werden automatisch ohne deine Freigabe installiert. Kurz: Big Brother ist bei dir eingezogen.

Nun mach mal halblang, Ingo. Die NSA will mich doch nicht manipulieren oder drangsalieren. Ich bin nicht kriminell und habe nichts zu verbergen. Und im Notfall kann ich immer noch die Verbindung kappen.

  • Jupp, das ist doch der Grund für die trügerische Ruhe in Deutschland. Fast jeder sagt von sich, dass er nichts zu verbergen hat. Aber was ist in der Zukunft? Besuchst du aus Neugier verdächtige Webseiten? Kaufst du regimekritische Bücher, indizierte Filme oder Spiele? Eine Drohne zum Spielen? Einen 3D-Drucker, mit dem du auch Plastikpistolen herstellen kannst? Verwildert langsam deine Nachbarschaft, so dass du plötzlich in einer kriminellen oder finanzschwachen Problemzone wohnst? Dadurch wirst du nun polizeilich stärker beobachtet oder die Bank stuft deine Kreditwürdigkeit herab. Hattest du mal zufällig oder unbewusst Kontakt zu einer verdächtigen Person oder Gruppe, reist zum Urlaub in „Schurkenstaaten“ und stehst dann auf der amerikanischen No-Fly-Liste? Willst du deine Privatsphäre künftig ganz aufgeben? 

Ingo, jetzt musst du auch mal die positive Seite sehen. Sag nichts gegen die 3D-Drucker. Gerade hat die US-Organisation E-Nable Handprothesen für Kinder entwickelt, die für 30 Dollar auf einem 3D-Drucker individuell hergestellt werden können. Und Big Data, das ist doch die Zukunft. Nicht nur, dass die Terroristen und Verbrecher sich nicht mehr so leicht verstecken können. Die Vorratsdatenspeicherung dient damit auch unserer persönlichen Sicherheit. In der Medizin kannst du mit Big Data Zusammenhänge in der Diagnostik und Therapie herausfinden, Epidemien vorhersagen, das Gesundheitsverhalten ganzer Bevölkerungsgruppen studieren, die Wirtschaftlichkeit von Krankenhäusern optimieren und ich weiß nicht, was noch alles.

Schau mal hier, eine Meldung vom Wissenschaftlichen Dienst des Bundestages: „Nach Schätzun­gen des McKinsey Global Institute wären durch den Einsatz von Big Data allein im US-amerikanischen Gesundheitswesen Ef­fizienz- und Qualitätssteigerungen im Wert von ca. 222 Mrd. € und für den gesamten öf­fentlichen Sektor in Europa von jährlich 250 Mrd. € möglich. Das Besondere bei Big-Data- Analysen ist vor allem die neue Qualität der Ergebnisse aus der Kombination bisher nicht aufeinander bezogener Daten.“ Ist das nichts?

  • In unseren Krankenhäusern gibt es riesige Datenfriedhöfe: Befundpapiere, Röntgenbilder, EKG-Ausschriebe, alles wegen eventueller Rentenansprüche für zwanzig Jahre archiviert. Nicht zu vergessen, die sauber davon getrennten Verwaltungsdaten der letzten Jahre und Jahrzehnte. Wie will man diesen Datenschatz aus dem Ablagechaos heben? Alles digitalisieren? Da hätten wir schon viel früher anfangen müssen. Big Data Auswertungen haben sie schon 1890 bei der amerikanischen Volkszählung mittels Lochkarten eingesetzt, später konnte man damit gut Kriege führen. Dann kam im kalten Krieg die Satellitenüberwachung und jetzt haben wir Google Earth. Also der Beginn liegt bereits im Embryostadium des Computers. Viele Meldungen über Big Data sind heutzutage noch den Small Data zuzuordnen, weil sie noch überschaubares Datenmaterial mit traditioneller Datenbanksoftware verarbeiten. Von Big Data kann man erst sprechen, wenn das Volumen und die Vielfalt der Daten, die Geschwindigkeit und Zuverlässigkeit der Verarbeitung jegliches herkömmliche Maß sprengen. Dann setzt man raffinierte Algorithmen ein, die im Datenchaos Klassifizierungen und Vorhersagen ermöglichen. Aber was bringt dir das, mein lieber Nerdy-Jupp?

Okay, Ingo, dann werde ich mal konkreter. Nimm mal die Gesundheits-Apps. Mittlerweile gibt es schon über 100.000 davon auf dem Markt. Nach einer Aussage von Medappcare würden in den USA 90% der Patienten es akzeptieren, wenn der Arzt ihnen eine App als Medikament verschreibt. Und 89% der amerikanischen Ärzte empfehlen mittlerweile ihren Patienten eine App. In den nächsten Jahren eine neue Welle auf uns zu kommen, sobald die EU-Bürokraten ihre Zulassungsregeln angepasst haben.

  • Bald wird dein Hausarzt durch viele Dr. Apps ersetzt. Sie werden sich laufend bei dir melden: „Jupp, das Eisbein ist zu fett für dich. Lass die Pommes weg. Denk an deine Zuckerwerte. Jupp, dir fehlen noch 2.145 Schritte zum heutigen Laufpensum. Jupp, dein Blutdruck ist zu hoch, du ärgerst dich zu viel, mach jetzt deine Joga-Übung.“ Das erledigt doch alles schon deine Frau für dich. Viel gefährlicher ist doch, dass viele Apps diese Daten gleich an ihre Zentrale weitermelden, wo sie dann weiterverkauft werden. Risiko- und Lebensversicherungen, Krankenkassen und die Werbeindustrie sind höllisch interessiert an deinen persönlichen Daten. Du hast Risikoausschlüsse bei gefährlichen Hobbies und Reduktion von Versicherungsleistungen bei ungesundem Lebenswandel zu erwarten.

Ja, aber das ist doch nicht schlecht. Wenn ich mich gesund ernähre, Sport treibe und medizinisch überwachen lasse, bin ich doch ein guter Kunde für alle Versicherungen. Sie liefern mir dann mehr Leistung für weniger Geld, weil die schlechten, kostenintensiven Versicherten alle höher beteiligt oder ganz ausgesondert werden.

  • Ja, wenn sie die Ersparnisse an ihre Kunden weitergeben würden und sie nicht für Boni und Paläste wieder ausgeben. Du hättest hochinteressante Werbeangebote aller Art zu erwarten, weil dein detailliertes Kundenprofil an alle relevanten Anbieter von Produkten und Dienstleistungen verkauft wurde: „Wie wir erfahren haben, interessieren Sie sich für kommunistische Literatur und Filme. Wir haben ein tolles Urlaubspaket für Sie: Nordkorea oder wahlweise Kuba. Die lange Flugzeit verkürzen wir Ihnen mit einem russischen Filmklassiker und servieren dabei originalsibirischen Wodka oder auf Wunsch kubanischen Rum. Natürlich können wir Sie auch mit der traditionellen Landesbekleidung versehen…“ Würde die Werbung wegfallen, wären deine persönlichen Daten völlig uninteressant und das riesige Angebot der kostenlosen Apps und Webangebote würde kollabieren.

Aber Ingo, ohne Werbung wüssten wir gar nicht, was es für neue Bücher, Filme, Spiele, Sonderangebote und vor allem was für unterschiedliche Biersorten es gibt. Lass uns jetzt mal die Speisekarte studieren. Da unser Wirt noch nicht mit Big Data arbeitet, müssen wir uns unser Abendessen noch selbst aussuchen. Reden wir beim nächsten Mal mehr über die Big Data Medizin.

  • Guter Vorschlag, Jupp. Herr Wirt, bitte zwei Bier und nehmen Sie uns bitte mit unseren Essvorlieben in Ihre Datenbank auf.

Zurück

Einen Kommentar schreiben