Auf ein Neues!
von Ingo Nöhr
Unsere beliebte Eckkneipe hat sehr unter der Silvesterfeier gelitten. Vor dem Eingang wateten wir durch einen gefühlten Kubikmeter Kracherreste, drinnen klebte der Fußboden vom vergossenen Sekt und die Luft war noch von den Ausdünstungen der Partygäste alkoholgeschwängert. Am Neujahrstag hielten Jupp und ich Rückschau über das vergangene Jahr und versuchten den Kater mit einer ordentlichen Portion Rollmops zu verdrängen.
„Mann, Jupp, schon wieder ein Jahr rum! Vor zwölf Monaten hatten wir noch über das Qualitäts – und Risikomanagement im Gesundheitswesen gesprochen. Erinnerst du dich noch? Du hattest die Risiken der Weihnachtsfeierei analysiert und anschließend wolltest du als Selbsterfahrung die ISO 9001 bei dir zu Hause einführen. Jetzt steht uns eine neue Zertifizierungswelle im Gesundheitswesen bevor – die DIN EN 15224. Machst du wieder einen Selbstversuch mit der neuen Norm?“
„Nein, lieber nicht, Ingo. Ich habe nicht die richtige Zielgruppe zuhause sitzen. Keinerlei Verständnis für meine Qualitätspolitik, wie du ja selber gemerkt hast. Aber ich werde mir doch mal anschauen, ob ein Krankenhaus bei der Anwendung dieser neuen Norm, die ja mit ihren elf Qualitätsmerkmalen und den Anforderungen an das Risikomanagement wesentlich weitergeht als die ISO 9001, jetzt endlich in der Lage ist, die Skandale mit den Implantaten und anderen Medizinprodukten wie in den letzten Jahren zu vermeiden.“
„Ja, wie es aussieht, ist unser Gesundheitssystem jetzt von Qualitäts- und Risikonormen regelrecht umzingelt: EN ISO 13485 für die Hersteller, EN ISO 15189 und RiliBäk für die klinischen Labore, KTQ und nun die EN 15224 für die Krankenhäuser und Arztpraxen. Und den Benannten Stellen und nationalen Aufsichtsbehörden rückt die Europäische Kommission demnächst mit einer strammen EU-Verordnung für Medizinprodukte auf den Pelz.“
„Ach, Ingo. Das wird so laufen wie seit Jahrzehnten mit der Kostendämpfung im Gesundheitswesen. Man dreht an ein paar Schrauben und das gesamte System stellt sich auf die neuen Zwänge wieder so ein, dass die alten Probleme an anderer Stelle wieder auftauchen. Wir Deutschen geben 300 Milliarden Euro für unsere Gesundheit aus, 5 Millionen Menschen arbeiten im Gesundheitswesen. Wir haben allein 2012 deutsche Medizinprodukte für 15 Milliarden Euro exportiert. Stell Dir nur mal die enorme Marktmacht und daraus resultierende Korruption vor. Die Lobbyisten haben das Gesundheitsministerium immer voll im Griff gehabt. Nach dem FDP-Banker Daniel Bahr haben wir jetzt den Juristen Hermann Gröhe als neuen Minister. Keiner von den 14 Ministern hat bislang diese Lobby ausschalten können. Aber immerhin war Gröhe vorher für den Bürokratieabbau in der Regierung zuständig. Vielleicht schafft er es ja, wenigstens das exponentielle Wachstum der Bürokratie im Gesundheitswesen zu verlangsamen.“
„Man sagt ja immer, neue Besen kehren gut. Was meinst du, Jupp, wie wird sich die Landschaft im neuen Jahr entwickeln? Du hast dich doch auf der MEDICA im November intensiv umgeschaut. Wer wird letztendlich Recht haben: Dr. McCoy mit seiner Hochtechnologie, Dr. Feelgood mit seiner Schmusemedizin oder Dr. Eisenbarth mit seiner Minimalmedizin?“
„Ich denke, alle drei haben im Kern recht. Die Innovation schreitet ungehindert voran und präsentiert beeindruckende Technologien. Die Homöopathie und die Esoterikmedizin ist aber auch nicht mehr zu stoppen. Die Kosten und unserer überschuldetes Eurosystem laufen weiterhin aus dem Ruder. Dadurch wird sich die Schere zwischen Kassen- und Privatpatientenbehandlung weiter öffnen. Und die Hochtechnologie wird immer mehr in China produziert. Mensch, Ingo – auf dieser Medica waren 554 Aussteller aus China vertreten. Sie haben dort Holmium-Laser, Lithotripter und MRT von 0,3 bis 3 Tesla vorgestellt, natürlich alles zu exzellenten Preisen.
„Jupp, das ist doch erschreckend. Und jetzt kurvt auch schon ein chinesisches Auto auf dem Mond herum. Nach den zwei russischen und drei amerikanischen Gefährten gibt es bald Parkplatzprobleme auf dem Mond, wenn das so weitergeht. Selbst auf dem Mars muß man demnächst Ampeln aufstellen, dort sind nämlich auch schon vier Roboter-Autos versammelt.“
„Die Chinesen haben gleich einen doppelten Marktvorteil: sie sind längst in die Hochtechnologie-Liga aufgestiegen und werden aus Kostengründen immer interessanter für die Einkaufsgenossenschaften der Krankenhäuser. Gleichzeitig ziehen sie die technikmüden Patienten mit ihrer Traditionellen Chinesischen Medizin, Feng Shui, Yin Yang, Qi Gong, Shiatsu usw. an.“
„Die Strategie haben sie sich von den anderen Asiaten abgeschaut. Früher haben die Japaner unsere Fotokameras und andere Technologien kopiert, zunächst mit einer ziemlich erbärmlichen Qualität. Dann haben sie aber daraus gelernt, bis sie selbst die besten Kameras, Fotokopierer, Computer und Autos bauen konnten. Die Chinesen haben unseren ICE und den Transrapid vor Ort analysiert. Jetzt verkaufen sie uns schnellere Züge zum halben Preis. Vor ein paar Jahren gaben wir ihnen eine Lizenz zum Airbus-Bau. Bald wird sicherlich der chinesische Airbus Comac C919 mit besseren Leistungen vorgestellt. Jupp, das ist Industrie-Spionage in einem neuen Gewand. “
„Ach, Ingo, die Amerikaner haben mit der NSA das System der Spionage doch schon seit Jahren perfektioniert und ein weltweites Super-Stasi-System aufgebaut. Sie sind die heimlichen Herrscher des Internet. Nichts ist mehr vertraulich. Du kannst keiner Software, keiner Hardware und keiner Verschlüsselung mehr trauen. Handys, Smartphones, Bildschirme, W-Lans, Firewalls, Router und Server können durch NSA-Implantate sämtliche Informationen an die Geheimdienste senden, egal wo sie stehen oder benutzt werden. Selbst in den Verbindungskabeln können sie Wanzen einbauen, indem sie vorher die Lieferung auf dem Postwege abfangen. Ist das nicht unglaublich? Nach den Skandalen in der Finanzwelt erleben unsere ohnmächtigen Regierungen ihr zweites Waterloo in der IT-Welt.“
„Ja, Jupp, was bedeutet das für die IT in den Kliniken? Die Geheimdienste können in den vertraulichen Patientendaten lesen wie in einem offenen Buch. Sie können die Dateien sogar verändern oder ganz löschen. Per USB oder WLAN eingeschleuste Schadsoftware können sie medizintechnische Geräte gezielt zu Fehlfunktionen veranlassen. Kannst du dich noch an den Stuxnet-Virus erinnern, den die Amerikaner und Israelis entwickelt haben, um die iranische Atombombenproduktion zu sabotieren? Sie haben erfolgreich die Leittechnik für die Uranzentrifugen gestört und das Atomprogramm Irans um Jahre zurückgeworfen.“
„Mann, Ingo, du bringst mich auf eine Idee. Ich schreibe einen Kriminalroman. Eine Story über den perfekten Mord an einen verletzten Feind im Krankenhaus. Nicht mehr mit gedungenen Mördern, eingeflogenen Eliteeinheiten oder mit ferngesteuerten Drohnen. Sondern mithilfe von Programmierern, die von irgendeinem Winkel der Welt in das IT-System der Klinik eindringen. Dort werden sie sein Beatmungsgerät abstellen, die Infusionsrate umstellen oder die Medikation in der elektronischen Patientenakte verändern. Oder die humanere Methode: sie platzieren heimlich Kinderpornographie auf seinem Rechner und lassen ihn aufliegen.“
„Ja, Jupp. Dreissig Jahre nach dem Roman 1984 von George Orwell haben wir den Big Brother direkt in unserer Wohnung sitzen. Er steckt in jedem Handy, Smartphone, PC-Tablet, Laptop oder Desktop-PC. Da sieht man die Technik doch mit ganz neuen Augen. Oder wie Albert Einstein mal sagte:
Zähmen sollen sich die Menschen, die sich gedankenlos der Wunder der Wissenschaft und Technik bedienen und nicht mehr davon geistig erfaßt haben als die Kuh von der Botanik der Pflanzen, die sie mit Wohlbehagen frißt.“
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