Auf der Suche nach der richtigen Körpersprache
von Ingo Nöhr
Kurz nach dem blamablen WM-Aus der deutschen Nationalmannschaft treffen sich Ingo Nöhr und sein Kumpel Jupp wieder zu ihrem monatlichen Umtrunk in der Stammkneipe. Während der optimistische Ingo noch eine gute Stimmung vor sich her trägt, trifft er auf einen tiefdeprimierten Jupp. Der hatte sich für die 64 WM-Spiele in Erwartung des Finalspiels des deutschen Teams im Wohnzimmer eine fähnchen-geschmückte Videoecke mit Sofas, Großbildschirm, Stereosound und einer gutgefüllten Hausbar eingerichtet. Die Vorräte an Bier und Knabbereien hätten für die vier Wochen voll ausgereicht.
Jupp, hast Du schon deine Ebay-Anzeige aufgegeben: „Deutschlandfähnchen – nur dreimal benutzt, günstig abzugeben“?
- Also Ingo, wie kannst du nur so herzlos spotten angesichts dieser nationalen Katastrophe. Alle fühlen sich wie die Brasilianer bei der letzten WM, als sie mit 7:1 den Weltfußball verlassen mussten. Wir haben uns gerade weltweit blamiert.
Ach Jupp, nimm es doch nicht so ernst. Wir sind uns ja wohl einig, dass wir nicht gerade die beste Mannschaft aufgeboten haben. Das deutsche Team hätte sich doch weiterhin nur mit viel Glück und grausamen Geholze in die nächste Runde reinmogeln müssen. Das bleibt uns ab letzte Woche alles erspart. Und unsere Spieler haben ab sofort etwas länger Urlaub und müssen sich nicht mehr in der russischen Sommerhitze abrackern. Dazu suchen jetzt 6.000 Tribünentickets der Deutschen neue Fans.
- Ist dir denn nicht bewusst, Ingo, dass wir nach 84 Jahren den historischen Tiefststand im Weltfußball erreicht haben? In 17 Weltmeisterschaften seit 1954 waren wir viermal Weltmeister, viermal im Halbfinale und viermal im Viertelfinale. Und jetzt sowas: Gruppenletzter! Was für eine Schmach. Dabei hatten wir die erfahrenen Recken der letzten WM im Einsatz: Khedira, Özil, Neuer, Hummels, Müller, Kroos und Boateng.
Beim Boateng habe ich mich zunächst gewundert, warum der in der Hitze immer mit einem Pullover rumrennt. Bis ich dann gemerkt habe, dass das am Arm alles Tattoos waren. Überhaupt waren fast alle Spieler tätowiert. Im WDR hat ein Komiker behauptet, die würden die Barcodes verstecken, mit der die Computerkameras automatisch die Spieler identifizieren. Gehören die Tattoos auch zur Körpersprache, von der die Kommentatoren dauernd gesprochen haben?
- Quatsch Ingo, die Körpersprache ist im Spiel ganz wichtig. Stürmst du voller Testosteron mit aufgepumpter Brust auf den Gegner zu, dann signalisiert ihm sein animalisches Kleinhirn, dass er gleich eine Konfrontation mit einem aggressiven Alphatier haben wird. Der britische Zoologe Desmond Morris hat mal gesagt: Das Fußballspiel ist rituelle Jagd, stilisierter Kampf und symbolisches Geschehen. Unsere Deutschen schlichen dagegen oft schuldbewusst und kleinlaut über das Feld, nachdem sie laut Mats Hummels seit 2015 kein vernünftiges Spiel mehr zustande gebracht haben. Und dazu noch die Showpanne mit dem grinsenden Özil und Gündogan bei unserem Intimfeind Erdogan. Ganz miserables Krisenmanagement vom DFB.
Es bestand ja auch die Gefahr, dass man wegen mangelnder Fairplay Punkte zurückgestuft wird, wie es dem Team von Senegal passiert ist. Deswegen mussten sie trotz Punktgleichheit mit Japan mussten sie dadurch als Gruppendritter die Heimreise antreten. Sie hätten sich besser nach jedem Foul beim Gegner formvollendet mit einer Verbeugung entschuldigen und versprechen sollen, die Reinigungskosten des Trikots zu übernehmen.
- Ingo, man muss aber höllisch aufpassen, dass man damit keine politische Botschaft transportiert. Die Spieler Xhaka und Shaqiri aus dem Multikulti-Team der Schweiz mussten wegen ihrer Doppeladler-Geste jeweils 9000 Euro Strafe zahlen.
Das war augenscheinlich die falsche Körpersprache. Vielleicht haben sich die Fußballer neben ihren Tattoos auch zu intensiv um ihre passenden Frisuren gekümmert statt zu trainieren. Einige Haarschnitte sahen nicht gerade kopfballoptimiert aus. Ich plädiere dafür, in das Trainingsprogramm die Inhalte Body Language und Make-Up einzubinden. Das hätte auch Kim Jong-un vor seinem Treffen mit Donald Trump tun sollen. Die Körpersprache-Experten haben ihn genüsslich als Underdog entlarvt.
- Ich würde noch Schauspielunterricht dazunehmen, damit das unermessliche Leiden nach einem Foul noch besser rüberkommt. Aber Ingo, wenn wir schon bei unseren Verbesserungsvorschlägen angelangt sind, was würdest du denn an Neuerungen empfehlen?
Das ZDF-Studio hat mit My View 24 Standorte von Kameras angeboten. Man konnte die Trainer hautnah bei ihren Gefühlsdramen erleben oder das Stadion aus der Vogelperspektive betrachten. Auch die Kamerazooms ins Publikum waren ja sehr beeindruckend: ich konnte manchmal die Hautporen bei den Zuschauerinnen studieren.
- Sogar meine Amazon Alexa hat Live-Daten geliefert. Und Apple stellte mit seinem AR-Kit eine virtuelle Realitätsshow bereit. Da stehst du mitten im Stadion.
Aber ich glaube, man könnte noch mehr Kameras installieren. Der Schiri braucht eine, damit man genau weiß, wo er gerade hinschaut – oder auch nicht. Der Torwart könnte eine Helmkamera tragen, dann sieht man den Torschuss bedrohlich ins eigene Auge fliegen. Eine weitere Kamera muss unbedingt im Fußball selbst angebracht werden. Peter Handkes berühmter Kriminalroman Die Angst des Tormanns beim Elfmeter könnte damit eine anschauliche Umsetzung erfahren.
- Also Ingo, ich weiß nicht recht. Der Ball erfährt oft einen Drall und dreht sich rasant um seine Achse. Die Zuschauer würden wahrscheinlich schnell seekrank werden.
Du hast recht. Mit GPS und Beschleunigungssensorik könnte man aber die Flugbahnen vorausberechnen und schon mal die Passgenauigkeit abschätzen. Das ZDF-Studio wartete ja ständig mit interessanten Effekte durch die dort installierte Computerpower auf. Ich stelle mir jetzt vor, dass man jedem unserer Spieler eines dieser winzigen Hörgeräte einsetzt. Der schnelle Rechner im Studio ermittelt vorab den voraussichtlichen Landepunkt des Balles und meldet dem betroffenen Spieler, in welche Richtung er schon mal loslaufen kann. Gerade bei hohen Steilpässen und Kopfbällen wäre diese Information sehr hilfreich.
- Na ja Ingo. Es minimiert die Anzahl der Fehlpässe und würde das Spiel beschleunigen. Aber dann könnten wir dem Gegner auch nur selten den Ball abnehmen.
Da magst du vordergründig rechthaben, mein lieber Jupp. Der Philosoph Jean-Paul Sartre hat das eigentliche Grundproblem schon lange vorher erkannt: Bei einem Fußballspiel verkompliziert sich alles durch die Anwesenheit der gegnerischen Mannschaft. Aber warte, es geht ja noch weiter mit meinen Ideen, Jupp. Eine angeschlossene künstliche Intelligenz, gefüttert mit Millionen von Fußballspielen und Spielerbiographien, wird in Sekundenbruchteilen die Wahrscheinlichkeit ermitteln, wann und wo sich die beste Gelegenheit des Ballwechsels ergibt und sofort taktische Hinweise geben.
- Aha, taktische Hinweise. Soso. Wozu brauchst du dann eigentlich noch den Trainer? Der ist doch für die Taktik und Strategie zuständig.
Bedenke, Jupp – die Geschwindigkeit. Sekundenschnelle Entscheidungen sind notwendig, und das bei 22 hochdynamischen Akteuren auf dem Spielfeld. Da ist die Reaktionszeit vom Trainer viel zu lang. Jogi Löw brauchen wir viel mehr für die Theatralik: himmelhoch jauchzend, tiefste Verzweiflung, banges Hoffen, herausforderndes Brüllen. Permanent aufgezeichnet von den Coach-Cams des ZDF. Eben Körpersprache vom Feinsten. Das schafft keine KI, das bringt Atmosphäre ins Spiel.
- Theatralik. Das erinnert mich an etwas, Ingo. Die Politiker machen es anscheinend genauso. Sie sind die Schauspieler und dabei oft nur Marionetten ihrer Entscheider im verborgenen Hintergrund. Zuständig für die Show, gaukeln sie uns heftigen Aktionismus vor, dabei ist vieles hinter den Kulissen schon längst entschieden. Bestes Beispiel ist unsere Angela mit ihrem Horst Seehofer und dem Strippenzieher in Bayern.
Gut erkannt, Jupp. Es ist ein gesellschaftliches Problem. Der SPIEGEL hat es mit einer Titelgeschichte auf den Punkt gebracht. Wir blamieren uns zurzeit nicht nur im Fußball, sondern auch mit unserer Autoindustrie und unseren Politikern: Vor der Bundestagswahl gab es keine Politik wegen der Bundestagswahl. Nach der Bundestagswahl fand keine Politik statt, wegen Sondierungsgesprächen. Nach den Sondierungsgesprächen fand keine Politik statt wegen der FDP. Dann kamen die Koalitionsverhandlungen und es fand keine Politik statt, weil die SPD noch fix und fertig war. Und jetzt findet keine Politik statt, weil die CSU alles lahmlegt. Wie gesagt, in der Welt der normalarbeitenden Menschen wären solche Leute schon längst ein Fall für die Reha.
Die Sieger von gestern: heute träge und morgen alt.
- Ingo, mir kommt da ein furchtbarer Gedanke. Sind wir etwa auch damit gemeint? Sind wir beide die Sieger von gestern und werden jetzt alt? Erfolgreiche Klinikmanager, von denen heute keiner mehr Hilfe erwartet? Weil wir nicht gelernt haben, auf die Profitmaximierung im Gesundheitswesen zu schauen?
Jupp, verzage nicht. Wir sind die letzten Analogen in einer digitalen Welt. Wir denken nicht in 0 und 1, nicht in Algorithmen, sondern mit unserem vielschichtigen Menschenverstand. Unsere Hirne mit natürlicher Intelligenz sind immer noch leistungsfähiger als alle Computer.
- Ingo, du gibst mir wieder Hoffnung. Aber unsere Hirne bedürfen einer ständigen Pflege mit geistiger Nahrung. Und dabei dürfen die lebensnotwendigen Nährstoffe nicht vergessen werden. Herr Wirt, zwei Bier bitte.
Und nicht verwässert mit den Tränen über die verlorene Weltmeisterschaft, bitte.
„Das Geheimnis des Fußballs ist ja der Ball.“
Uwe Seeler
„Es ist wichtig, dass man neunzig Minuten mit voller Konzentration an das nächste Spiel denkt.“
Lothar Matthäus
„Wenn Sie dieses Spiel atemberaubend finden, haben sie es an den Bronchien.“
Marcel Reif
„So ist Fußball. Manchmal gewinnt der Bessere.“
Lukas Podolski
„Erfolg ist ein Überbleibsel der Vorbereitung.“
Jack Youngblood
„Wenn wir hier nicht gewinnen, dann treten wir ihnen wenigstens den Rasen kaputt.“
Rolf Rüssmann
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