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Adieu, du schnöde Welt! Ein neuer Versuch?

von Ingo Nöhr

Ingo Nöhr zum 1. Dezember 2021

Adieu, du schnöde Welt! Ein neuer Versuch?

Kurz nach dem 1.  Advent trifft Ingo Nöhr bei seinem monatlichen Stammtischgespräch auf einen wütenden Jupp. Ausgestattet mit der dritten Covid-19 Impfung hatte er sich gerade auf eine Normalisierung der Lage in Deutschland gefreut, da wird er zum vierten Mal von explodierenden Infektionszahlen, einer ratlosen Regierungsmannschaft und einer neuen Viren-Variante im Anmarsch überrascht. Ingo hat kaum eine Chance, seinen rabiaten Freund noch mit guten Nachrichten zu besänftigen. In diesen Tagen ist das Leben eines Optimisten inmitten der Katastrophenmeldungen nicht zu beneiden.

Ingo, du unverbesserlicher Schönredner, was sagst du jetzt zu den neuesten Nachrichten? Seit über fünf Jahren lebst du als Meister Pangloss in der „Besten aller möglichen Welten“ und willst mir als dein Schüler Candide erzählen, dass sich alles zum Guten wandelt. Hast du Voltaires Geschichte nicht zu Ende gelesen, wo beide vor den Trümmern ihres Weltbildes stehen?

  • Erinnerst du dich noch an meine Antwort, mein lieber Jupp? Ich sagte damals: Der berühmte Clown Charlie Rivel hat eine Lebensweisheit praktiziert: "Der Optimist hat nicht weniger oft unrecht als der Pessimist, aber er lebt froher."

Ja, ich erinnere mich. Und kennst du noch meine Entgegnung? „‚So ist das Leben,‘ sagte der Clown, und malte sich mit Tränen in den Augen ein strahlendes Lächeln ins Gesicht.“

  • Genau, und damit brachte er andere Menschen zum Lachen. Aber vergleiche uns beide mal! Ich jedenfalls will wieder fröhlicher in die Welt schauen können. Ein Optimist ist ein Mensch, der alles halb so schlimm oder doppelt so gut findet. Das erhöht doch die Lebensfreude. Deshalb habe ich mir vorgenommen, in allem Schlechten das Körnchen Gute zu finden.

So so, das Körnchen Gute. Du bist also nach Theodor Fontane der Mensch, der sich ein Dutzend Austern bestellt, in der Hoffnung, sie mit der Perle, die er darin findet, bezahlen zu können. Dann möchte ich jetzt diese Körnchen in meinen schlechten Nachrichten wiederfinden, damit ich endlich solch ein Lebenskünstler wie du werden kann.

  • Okay Jupp, ich sehe schon, ich kann dich in deinem Frust nicht bremsen, also dann lass mal jetzt deinen Dampf aus dem Kessel, bevor er noch platzt.

Vielen Dank für deine Großzügigkeit. Ich will gleich dein Lachen auf dem Gesicht sehen. Also was sagst du dazu: 50.000 Fußballfans im Kölner Stadion ohne Masken, die sich gegenseitig anbrüllen. NRW-Ministerpräsident fand die Vollauslastung des Stadions „eine angemessene Entscheidung“.  Was denken da wohl die Kinder und Erzieher in den Kitas bei diesen Bildern? Was wird er wohl dazu sagen, dass die Intensivstationen seiner Kliniken die neuen Corona-Erkrankten wegen „Vollauslastung“ mit der Luftwaffe in andere Länder ausfliegen müssen? Er sitzt mit seinen Politikern in mit Luftreinigern vollgestopften Düsseldorfer Landtag, während die Schüler im Unterricht bei offenen Fenstern im kalten Zugwind frieren müssen.

  • Okay Jupp, da verstehe ich dein Unverständnis. Geht mir auch so. Mach weiter, was läuft noch alles schief?

Was noch alles schief läuft? Ingo, da werde ich mit meiner Aufzählung heute nicht fertig. Wir haben in der größten Krise seit Wochen keine handlungsfähige Regierung. Die Kanzlerin ist auf Abschiedstournee im Ausland, der Gesundheitsminister fühlt sich nicht mehr zuständig, die Bundesländer werkeln da unkoordiniert vor sich hin. Wo bleibt jetzt ein Macher wie Helmut Schmidt, der auf den Dienstweg pfeift und beherzt die Initiative übernimmt? Wenn der Klimawandel uns die nächste Flutkatastrophe in Hamburg beschert, wird erstmal elendig lang über Zuständigkeiten gestritten und Verantwortung auf andere abgewälzt. Es werden Krisenstäbe, Einsatzkomitees, Arbeitsgruppen und Infrastrukturen mit Telefax und reitenden Boten eingerichtet, während eine junge Twitter- oder Instagram-Gruppe vielleicht in Vor-Ort-Einsätzen Leben rettet.

  • Es bewegt sich aber viel in den Köpfen der Politiker, die sich ihre Entscheidungen nicht leicht gemacht haben und kürzlich vom Bundesgerichtshof bei den Grundgesetzeinschränkungen freigesprochen wurden. Außerdem hat gerade gestern eine Videokonferenz der alten mit der neuen Regierung stattgefunden, die sich unter dem Druck der Ereignisse zu bahnbrechenden Empfehlungen durchgerungen hat: allgemeine Impfpflicht entgegen allen vollmundigen Versprechungen der Vergangenheit. Trotz des jahrzehntelang erbittert verteidigten Standesrecht der Ärzte sollen nun auch die Apotheker impfen dürfen. Zudem, lieber Jupp, ich darf mal leise auf den neuen Corona-Krisenstab hinweisen, der von einem Bundeswehrgeneral geleitet wird.

Aha, die Bundeswehr soll es richten! Etwa so, wie sie die deutschen Helfer aus Afghanistan evakuiert haben? Dieser bemitleidenswerte Laden mit der maroden Schrott-Ausrüstungl?

  • Immerhin hat die Marine jetzt wieder ein funktionsfähiges Segelschulschiff zur Verfügung: die Gorch Fock, mit 135 Millionen Euro in sechs Jahren restauriert. Bald braucht das Heer auch keine Fußsoldaten mehr, denn dann übernehmen die bewaffneten Drohnen deren Aufgaben. Das Denken übernimmt dann im Katastrophen-Warnsystem Prometheus die Künstliche Intelligenz. Bereits im Juli 2021 wurde die Erprobungsphase erfolgreich abgeschlossen.

Beim Einsatz der KI in der Politik wäre ich extrem vorsichtig, Ingo. Sie würde uns Menschen wegen unserer unstillbaren Zerstörungswut zu einer ewigen Quarantäne wegsperren. Aber wenigstens wäre eine KI-Regierung unbestechlich. Die beiden CSU-Abgeordneten, die dem Gesundheitsminister zu millionenschweren Provisionen überteuerte Masken angedreht haben, können gerichtlich nicht belangt werden, weil das Gesetz gegen Abgeordnetenkorruption zu löchrig formuliert worden ist.

  • Bezüglich Bestechung im Corona-Geschehen habe ich hier eine Meldung, die dir gefallen wird, lieber Jupp. In Griechenland haben Impfverweigerer einige Ärzte mit bis zu 400 Euro bestochen, damit sie ihnen eine Spritze mit reiner Kochsalzlösung verabreichen und danach aber ein gültiges Impfzertifikat ausstellen. Die Mediziner haben das Geld kassiert, aber heimlich der Injektion den Impfstoff beigemischt.

Das kann man in Deutschland doch viel billiger haben. Als ein Trainer von Werder Bremen mit einem gefälschten Impfpass aufgefallen war, bestellten zwei Reporter in einem Telegram-Forum zwei Impfpässe für jeweils 20 Euro und bezahlten mit einem Amazon-Gutschein. Wenige Tage erhielten sie zwei gelbe Impfpässe ohne Namensangaben mit jeweils zwei eingetragenen Impfungen und den Aufklebern mit den Chargennummern, einen Stempel des Impfzentrums Kassel und eine unleserliche Unterschrift. Damit kamen sie ungeschoren durch alle Kontrollen.

  • Die Story geht ja noch weiter, Jupp. In einem Online-Forum konnte man beim Anbieter Covidpass Meister für 90 Euro einen gelben Impfpass erhalten, der in Apotheken in einen digitalen Pass umgewandelt werden konnte. Als die Masche durch die Kontroll-App CovPassCheck auffiel, bot er für 450 Euro einen echten QR-Code an, den er sich nachts bei einer betrügerischen Apotheke in München besorgte. Nachdem die über 1.000 Zertifikate gesperrt wurden, änderte er seinen Lieferanten und stellte französische Impfpässe aus. Die sind in Deutschland zwar formal gültig, die Fälschungen werden aber nicht entdeckt, weil die Schwarze Liste in der EU-Datenbank nicht aktualisiert wird. Derzeit werden Fälschungen nur national gesperrt.

Ja, da siehst du es mal wieder, unser Deutschland ist immer noch tiefste Provinz in der Digitalisierung. Erinnerst du dich noch an den irrwitzigen Aufwand des Gesundheitsministers, als er 34 Millionen Bundesbürger mit fälschungssicheren Gutscheinen für kostenlose Masken beglücken wollte. Das kostete über 35 Millionen Euro allein für das Drucken und den Postversand. Die Apotheker erhielten für jede Maske im Wert von einem Euro das Sechsfache erstattet und machten damit drei Milliarden Euro mehr Umsatz. Aber mal den gelben Impfpass mit einem fälschungssicheren Covid-Aufkleber auszustatten, dazu hat es dann nicht mehr gereicht.

  • Bestellungen im Internet können immer nach hinten losgehen. In Moskau und Umgebung blühte das Geschäft mit gefälschten Impfzertifikaten und PCR-Tests. Hacker knackten daraufhin die Datenbank. Die personenbezogenen Daten von 500.000 Kunden werden jetzt im Darknet und auf Telegram-Kanälen zum Kauf angeboten. Die Datensätze beinhalten Ausweisdaten, Sozialversicherungsnummern, Telefonnummern und Adresse. In Russland droht für den Erwerb gefälschter Impfzertifikate Gefängnis bis zu einem Jahr.

Das wirft doch ein ganz neues Licht auf die Statistiken der sogenannten Impfdurchbrüche. Wieviel der angeblichen Impfungen waren denn überhaupt echt? Wem kannst du noch vertrauen, wenn schon Fußballtrainer ihre Fans betrügen?

  • Es gibt aber einen Lerneffekt, mein lieber Jupp. Bei uns werden von der Polizei immer mehr Fälscherwerkstätten ausgehoben. Leider kann der Fälscher der Ausweise bisher nur schwer belangt werden, weil ihm die Absicht der Täuschung nachgewiesen werden muss. Das bedeutet: Erst wenn er sie ausfüllt, verkauft und damit beispielsweise versucht wird, in ein 2G-Lokal zu gelangen, wird der Fall zum Delikt. Jetzt will die neue Regierung ein Gesetz mit Strafen von bis zu zwei Jahren Haft verabschieden.

Ich bin eher ein Freund von saftigen Geldstrafen und einer Gewinnabschöpfung bei den Kriminellen. Insbesondere bei der Wirtschaftskriminalität dürften dadurch enorme Summen zusammenkommen, ich erwähne nur den Cum-Ex-Skandal und den Wirecard-Betrug. Schließlich müssen wir irgendwie die noch unüberschaubaren Kosten der Wunschliste unserer Ampelkoalition und der Beseitigung der Klimaschäden finanzieren. Mittlerweile müssen für die heutige Staatsverschuldung von 2,2 Billionen Euro schon unsere Urenkel aufkommen.

  • Jupp, ich glaube, überflüssiges Geld ist noch reichlich in einigen Ministerien versteckt. Der Haushaltsausschuss des Bundestages hat im November 2020 für den Erwerb von 38 neuen Eurofightern 5,5 Milliarden Euro freigegeben. Durch erhöhte Militärausgaben möchte Deutschland dem NATO-Ziel von 2,0 % des BIP nahekommen und US-Präsident Biden ruhigstellen.
    Mein Vorschlag lautet: Bei mittlerweile über 100.000 Coronatoten könnten wir die Mittel für den Erhalt der Verteidigungsbereitschaft einfach umwidmen: Wir erhöhen jedem der ca. 50.000 Fachpflegekräfte auf den Intensivstationen das Gehalt um monatlich 1.000 Euro – zehn Jahre lang. Dann wäre das Geld für die 38 Jagdflieger alle. Im Jahre 2018 waren von den noch irgendwo herumstehenden 128 Eurofightern sowieso nur vier einsatzbereit. Wie hieß doch der schöne Ausdruck von Angela Merkel für die Bankenrettung? „Systemrelevant“, und das auch noch „alternativlos“

Ingo, du hast es irgendwie geschafft. Ich bin sprachlos. Meine Wut hat sich gerade irgendwohin verflüchtigt. Dabei hast du eigentlich nichts Relevantes zu meiner Beruhigung beigetragen.

  • Jupp, es kommt auf deinen Blickwinkel an. Schau über den Tellerrand. Schlechtes ist insofern nicht immer grundsätzlich schlecht, weil es ja die Möglichkeit zum Guten bietet, das eben noch nicht ist. Du schreibst die Situation der Gegenwart einfach in die Zukunft weiter, ohne zu berücksichtigen, dass wir es mit lernenden Menschen und sich verändernden Umwelten zu tun haben. Du lebst im Hier und Jetzt, siehst aber nicht die gewaltigen Fortschritte in der Technologie und der Gesellschaft seit der Vergangenheit.

Aber deine guten Nachrichten gehen doch alle unter im Chaos der Welt.

  • Nein, Jupp, sie gehen nicht unter. Sie sind da, du erkennst sie nur nicht. Du siehst nicht die Wunder und Schätze der Natur, die Kräfte und Energie der Tiere und Pflanzen, die Liebe und Hilfsbereitschaft der Menschen, die kulturellen und technologischen Errungenschaften unserer Gesellschaft. Unser Leben ist doch viel zu kurz, um die wertvolle Zeit mit Ärger und Wut zu vergeuden. Finde die Edelsteine in deiner Umwelt und bewundere ihre Schönheit und Beständigkeit.

Oh, mein lieber Ingo, jetzt bist du aber vollends zum Philosophen mutiert. Augenscheinlich hast du deine Hippiezeit noch nicht überwunden. Es wird wohl Zeit, dass bald mein Alzheimer einsetzt, dann kann auch ich ohne Sorgen vor mich hinträumen. 

  • Interessanter Gedanke, Jupp. Lass uns bei einem kühlen Getränk die Zweisamkeit genießen, solange wir es noch können und damit den Beginn unserer Demenz hinauszögern.

 Ja Ingo, jetzt nennst du wahrlich ein gutes Korn im Schlechten. Herr Wirt, bitte zwei Bier für einen Prost auf die Zukunft.

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Menschen wurden erschaffen, um geliebt zu werden.
Dinge wurden geschaffen, um benutzt zu werden.
Der Grund, warum sich die Welt im Chaos befindet, ist,
weil Dinge geliebt und Menschen benutzt werden.

(Dalai Lama)

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