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Die Fußball-EM 2024 aus der Sicht der EU-Kommission

von Ingo Nöhr

Ingo Nöhr zum 1. Mai 2024

 

Jupp hatte die letzte Kneipenrunde wegen „dringender Renovierungsarbeiten“ abgesagt. Neugierig geworden besucht Ingo ihn zu Hause. „Was ist los. Jupp? - „Mann, Ingo! Wo lebst du denn?  Ab dem 14. Juni gibt es einen Monat lang Fußball-EM! 51 Spiele, du Sportbanause!“ empfängt er den ahnungslosen Ingo, inmitten von einem Kabelgewirr, welches eine 8-Kanal-Dolby-Surround HiFi-Anlage mit einem Dutzend Lautsprechern und einem riesigen Fernsehbildschirm verbindet. Diese Beleidigung lässt Ingo aber nicht auf sich sitzen und überrascht ihn seinerseits mit einer brisanten Insider-Nachricht. 

Hallo, Jupp, hast du schon gehört? Die EU-Kommission befasst sich nun mit der Fußball-EM in Deutschland! Und kümmert sich vorrangig um die Sicherheit.

  • Wieso das denn? Die EU ist doch für Fußball gar nicht zuständig.

Die EU-Kommission beruft sich erfolgreich wie immer auf ihren Auftrag für Sicherheit und Gesundheitsschutz in Europa. Schließlich hat die deutsche Regierung gerade den Joint-Konsum freigegeben. Die FIFA-Anti-Doping-Stelle will jetzt alle deutschen Fußballer auf Cannabis testen.  

  • Und die lassen sich das einfach gefallen? Was sagt denn die UEFA dazu? Die hatte sich doch schon 2010 erfolgreich gegen die Umsetzung der Doping-Richtlinie der Welt-Anti-Doping-Agentur WADA gesperrt.

Die UEFA hat natürlich erst gemault. Aber dann hat die Kommission angedroht, die Europäischen Richtlinien für Arbeitsschutz und Arzneimittel auf alle Fußballverbände in Europa anzuwenden. Wenn sich da erstmal die Europäische Arzneimittelagentur in London mit dem Dopingverdacht befassen wird, schlackern einigen Vereinsfunktionären ganz gewaltig die Hosen. Und denk' nur mal an den Arbeitsschutz: EG-Richtlinien zu Lärm und Vibrationen, Persönliche Schutzausrüstungen, Benutzung von Arbeitsmitteln, Gefährdungsbeurteilungen am Arbeitsplatz – der reinste Horror für die UEFA und ihrer Fußballwelt. Von der Korruption und Geldwäsche mal ganz zu schweigen.

  • Ach ja, stimmt - Arbeitsschutz. Die Fußballer kann man ja durchaus als Arbeitnehmer bei der Arbeit betrachten, für die gilt natürlich das ganze Regelwerk genauso. Aber wieso hat die EU denn plötzlich die Fußballer auf dem Kieker? Die EU-Beamten haben doch gar keine Zeit. Jetzt regulieren sie doch gerade die Künstliche Intelligenz, die Geldwäsche und die Terrorfinanzierung, da haben sie doch genug zu tun.

Das stimmt schon. Auch in der Außenpolitik sind die EU-Bürokraten gerade vollauf beschäftigt. Aber jetzt denke mal an die vielen arbeitslosen Fachleute in Brüssel, die sich seit Jahrzehnten mit den Medizinprodukten befasst haben. Der Fortgang für neue EU-Regelungen liegt brach, weil im Juni die EU-Parlamentswahlen sind. Danach werden erst die zuständigen Gremien neu besetzt und dann fängt die Diskussion wieder von vorne an. Solange sitzen sie alle da und drehen Däumchen.

  • Und warum denn ausgerechnet Medizinprodukte? Was hat das mit dem Fußball zu tun?

Tja, so wie schon vor 60 Jahren unser seliger Nationaltrainer Sepp Herberger sagte: „Der Ball ist rund“, so musst du heute ergänzen „… und ein Medizinprodukt.“

  • Was? Der EM-Fußball ist ein Medizinprodukt? Wie soll das denn gehen?

Nimm einfach die Definition eines Medizinproduktes. Ich zitiere mal den Text der aktuell gültigen EU-Verordnung 2017/745: „Medizinprodukt bezeichnet … ein Gerät, … ein Material oder einen anderen Gegenstand, das dem Hersteller zufolge für Menschen bestimmt ist und allein oder in Kombination einen oder mehrere der folgenden spezifischen medizinischen Zwecke erfüllen soll:
— … Kompensierung von …  Behinderungen,
— Veränderung der Anatomie oder eines physiologischen oder pathologischen Vorgangs oder Zustands.“  

  • Ach so. Du meinst also: der Fußball dient als ein Gegenstand der körperlichen Ertüchtigung, baut Muskeln auf und stärkt Herz und Kreislauf. Also ein Medizinprodukt deiner Meinung nach.

Nicht meiner Meinung nach! Hör mich doch zu! Das ist die Aussage der EU-Verordnung, ein gültiges Gesetz für alle EU-Länder.

  • Ich erinnere mich aber daran, dass dort die medizinische Zweckbestimmung des Herstellers eine wichtige Rolle spielt.

Du hast gut aufgepasst, Jupp. Aber was sagt die EU dazu? „Zweckbestimmung bezeichnet die Verwendung, für die ein Produkt entsprechend den Angaben des Herstellers auf der Kennzeichnung, in der Gebrauchsanweisung oder dem Werbe- oder Verkaufsmaterial bzw. den Werbe- oder Verkaufsangaben und seinen Angaben bei der klinischen Bewertung bestimmt ist“. Und du wirst es nicht glauben! Die EU-Kommissare haben einen Hersteller gefunden, der dem Ball per Werbeaussagen eine medizinische Verwendung bei der Rehabilitation von Patienten zugesprochen haben.

  • Aber seit wann sind denn Fußballer als Patienten anzusehen, Ingo? Die sind doch kerngesund!

Kerngesund? Das ist ja wohl eine falsche Bezeichnung. Hast du dir mal die Verletzungsliste der einzelnen Spieler angeschaut? Die sind doch regelrecht aus der Reha geflohen, um wieder mitspielen zu können. Und sie gehen dabei jede Sekunde neue Verletzungsrisiken ein.

  • Ach ja? Risiken! Ist ja interessant. Zu welcher Risikoklasse gehört der Fußball denn, bitte schön?

Gute Frage, Jupp. Er ist zunächst betrachtet von nicht invasiver und nicht aktiver Natur sowie von vorübergehender Anwendungsdauer. Also würde man ihn eigentlich in die niedrigste Klasse I einstufen können. Wäre da nicht die Regel 18:  „Produkte, die unter Verwendung von nicht lebensfähigen oder abgetöteten Geweben oder Zellen menschlichen oder tierischen Ursprungs oder ihren Derivaten hergestellt wurden, werden der Klasse III zugeordnet“. Das ist bei einem Lederball ganz klar der Fall, da er aus Rindsleder hergestellt wird.

  • Ha, jetzt habe ich dich aber erwischt, Ingo. Du hast den nächsten Satzteil unterschlagen: „es sei denn, diese Produkte werden unter Verwendung von nicht lebensfähigen oder abgetöteten Geweben oder Zellen tierischen Ursprungs oder ihren Derivaten hergestellt, die dafür bestimmt sind, nur mit unversehrter Haut in Berührung zu kommen.“ Ich kenne keinen Fußballer mit offenen Geschwüren. Also doch keine Risikoklasse III!

Momentmal, mein lieber Jupp! Unversehrte Haut? Hast du dir mal die Fußballer am Ende des Spieles angeschaut? Jede Menge Hautverletzungen durch Abschürfungen, Prellungen und Stürze. Und außerdem: bei Kopfbällen hast du zudem noch eine gefährliche Einwirkung auf das zentrale Nervensystem, nämlich das Gehirn. Also ich denke, die Eingruppierung in die höchste Risikoklasse ist schon zu rechtfertigen. So steht es auch im ersten EM-Mängelbericht der EU-Kommission.

  • Wieso EM-Mängelbericht? Die EM hat doch noch gar nicht stattgefunden.

Ja, aber die Experten haben natürlich die Sicherheitslage schon vorab gründlich untersucht und wie gewohnt einen ersten Richtlinien-Vorschlag erarbeitet. Sie empfehlen ein erweitertes Regelwerk von etwa 2.000 Seiten Umfang. Es beschreibt die Konformitätsbewertungsverfahren für den Fußball und das Zubehör, die Zertifizierungsanforderungen zur Qualifizierung der Schieds- und Linienrichter, der Trainer und Fußballkommentatoren und vieles mehr.

  • 2.000 Seiten für den Fußball? Was soll da denn alles geregelt werden?

Neben den Arbeitsschutz-Richtlinien und der EU-Verordnung zur Textilkennzeichnung bei den Trikots sind ein halbes Dutzend weiterer EU-Richtlinien der Neuen Konzeption betroffen, die alle bei der CE-Kennzeichnung beachtet werden müssen:

  1. Richtlinie für Persönliche Schutzausrüstungen für die Fußballschuhe, Schienbeinschützer und Torwarthandschuhe,
  2. Maschinenrichtline und Druckbehälter-Richtlinie für die Geräte zum Aufpumpen des Fußballs,
  3. Niederspannungs- und EMV-Richtlinie für die Anzeigetafeln, Bildschirme im Stadion und elektronischen Sensoren im Fußball,
  4. Bauprodukte-Richtlinie für die Torkonstruktionen und Stadienbauten,
  5. Spielzeug-Richtlinie, falls der Fußball nur zum einfachen Kickern verkauft wird.
  • Das ist ja Wahnsinn, Ingo. Das schafft ja wieder Tausende von Arbeitsplätzen. Es stimmt schon: Kleinlebewesen vermehren sich durch Zellteilung, Bürokratien durch Arbeitsteilung.

Na klar doch. Die Europäische Kommission war schon immer die perfekte Realisierung des Parkinsonschen Gesetzes zum Bürokratiewachstum. Es gibt nur noch wenige Gebiete, die von Brüssel bisher nicht geregelt wurden.

  • Der Fußball bekommt also künftig eine CE-Kennzeichnung? Dann braucht er ja auch ein Etikett mit den Herstellerangaben. Und Warn- und Benutzungshinweise wie: „Bitte hier hintreten!“ und „Nicht hineinstechen!“ Gibt es schon eine ausführliche Bedienungsanleitung? Vor allem juristisch abgesichert?

Das ist noch nicht alles. Schau mal in die Grundlegenden Sicherheits- und Leistungsanforderungen: Infektionsschutz, Abgabe von Energie, Brandschutz, Gebrauchsanweisungen und vor allem Punkt 5.3. „Produkten, die unter Verwendung von Geweben oder Zellen menschlichen oder tierischen Ursprungs…“ benötigen ein wissenschaftliches Gutachten, welches der Benannten Stelle vorgelegt werden muss. In Verbindung mit den Risikoanalysen und der klinischen Prüfung kommt da für die Technische Dokumentation eine Menge Papier zusammen. Vergiss nicht, du hast ein Klasse III Produkt vor dir.

  • Ach Ingo. Wie sagte doch Reiner Calmund hellseherisch: "Ich weiß, dass das nicht so einfach ist, aber wir sind hier nicht in der Krabbelgruppe." Jetzt brauche ich erst mal ein Bier. Auf in unsere Stammkneipe.

Gute Idee, Jupp. Ich zitiere deinen Freund Lothar Matthäus: „Wir dürfen jetzt nur nicht den Sand in den Kopf stecken.“ Wir nehmen da lieber unseren bewährten Hopfenblütentee und stecken den in unseren Kopf.

Anmerkung:

Irgendwann werden die EU-Bürokraten dann merken, dass der Fußball schon seit 1986 aus vollsynthetischem Material hergestellt wird und seitdem kein Fitzelchen Leder mehr enthält. 

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